Belfos verliert ein Wettrennen
Der Gehilfe Jorgans lief schnell wie der Wind. Sein Verfolger hatte zwar keine Waffe in der Hand, aber die Art, wie er ihn angegrinst hatte, bevor er seinen Arm gepackt hatte, war Belfos unmissverständlich erschienen: Der Kerl mit dem irren Blick wollte ihn umbringen! Ob es etwas mit dem Verschwinden seines Meisters zu tun hatte? Er hatte wirklich keine Zeit, großartig nachzudenken - der Unbekannte war wirklich schnell zu Fuß. Belfos lief um eine Ecke, sah das Getümmel am Marktplatz und stürzte sich hinein. Schnell klaute er einen Umhang, als ein Händler nicht genau hinsah, dann lief er durch die Menge zur anderen Seite. Er hatte sich so lange erfolgreich versteckt. Und nun kam da so ein Typ, den er nicht kannte und der ihm ans Leder wollte. Auf der anderen Seite schnitt er ihm den Weg ab. Schnell drehte Belfos sich um, machte kehrt und rannte durch den Hintereingang einer Taverne, wo er sich unter einen Tisch warf. Er sah nur noch die Stiefel und Schuhe der Gäste. Sobald er diese schwarzen Stiefel sehen würde, nähme er die Beine wieder in die Hand und wäre auf und davon. Aber sie waren nicht zu sehen. Er hatte ihn endlich abgeschüttelt. Erleichtert blieb er einen Moment dort sitzen.
"Vertrau mir, ich will dir helfen", sagte die Stimme des Mannes. Aber er war nicht zu sehen. Da war nur eine kleine Maus.
"Hast du gerade was gesagt?", fragte Belfos leise und ungläubig.
Die Maus kicherte. "Ja, sicher. Mein Name ist Jan. Hohenfels schickt mich. Wir wollen dir helfen, Kleiner."
Caldorvan
Der Untote Lord schritt durch die Reihen seiner neuen Armee. Die Macht der Erschaffung, die er Hrabanus geraubt hatte, war ihm so schnell wieder genommen worden wie er sie auf der Insel der Finsternis erlangt hatte. Die Armee war ihm jedoch geblieben. Er hatte Aran und Saban auf eine besondere wichtige Reise geschickt, um eine ebenso wichtige Aufgabe zu erfüllen. Lathias und Sylthir führten die Verteidiger an, Liranus hatte er zur Nebelküste und in das nördliche Tal Beltain entsandt, um die Truppen zu versammeln. Den Bau dieser irrsinnigen und lächerlichen Hauptstadt an der Küste hatte er schnell abgebrochen, und die Gefangenen, die unverwandelt waren, in die Armee eingegliedert. Hier und da hatte er tatsächlich noch Bauern und Tagelöhner, Räuber und Wegelagerer entdeckt, die noch nicht in den Tiefenwald oder die Kernlande geflohen waren. Sie alle waren nun treue Gefolgsleute. Und jetzt gab es keinen Sicarion Grauwind, der seine Macht brechen würde. Keinen Mercutio, der ihn benutzen würde, keinen Dybbuk und keinen anderen, der es mit ihm aufnehmen könnte. Die Malstromwesen folgten bedingungslos. Sogar Aran hatte auf den Befehl nur geantwortet: "Ja, Vater."
Alles spielte ihm zu. Es war fast schon zu leicht. Der Zwischenfall im Seelenmoor, als er bedauerlicherweise den Stab der Erschaffung an Mithraniel verloren hatte, war ein leichter Rückschlag gewesen. Das Angebot Tysandras, an ihrem Hofstaat eine Rolle zu spielen, würde er den Schlüssel im Lager der Winterkrieger im Wilderland benutzen, hatte er zum Schein angenommen. Es war ihm als eine simple Art erschienen, an das Nebelgefäß zu gelangen, um am Ende den Weißen Wolf - Lucius war das - zu rufen. Dass es das Ende seiner neuen Armee wäre, wenn erst die elf Lieder gefunden wären, war ihm bewusst. Dies war eine Armee auf Zeit. Auch das war ihm klar. Aber er brauchte sie nicht für immer. Nur jetzt... jetzt war sie wichtig. Etwas, das Hlifa eines Tages verstehen würde; vorausgesetzt sie würde etwas mehr Verstand als ihr Bruder beweisen. Wenn Bjartur, Mithraniel und die anderen nicht aufgetaucht wären, hätte er sein Schauspiel glaubhaft weiterspielen können. Denn die Söldner Crenns waren dumm genug gewesen, ihm zu vertrauen. Glaubten sie wirklich, er bräuchte einen Emporkömmling wie Tysandra, um sein Endziel zu erreichen? Es war so lachhaft gewesen, dass er sogar hinter dem schwarzen Visier sein Grinsen unterdrückt hatte. Aber dann waren die Turmherrin und ihre Begleiter gekommen. Wieder einmal hatten sie den Mund nicht halten können. Es war beinahe tragisch, wie gedankenlos und närrisch die Sterblichen handelten, wenn sie glaubten, alles zu wissen. Dass schließlich Mithraniel den Kampf begann, war für ihn ein Zeichen gewesen, dass sie wirklich nicht wussten, was er da versucht hatte. Von keinem verlangte er je Vertrauen. Und wenn er es tat, dann in dem Wissen, dass derjenige es bereuen würde. Aber dies war so dumm gewesen, dass er bereitwillig in den Kampf gegangen war. Vorher hatte er seinen Kriegern durch seine Gedanken befohlen, den Schlüssel in Sicherheit zu bringen - zu spät, denn Mithraniel transportierte ihn durch ihre elendige Zauberei fort. Also hatte er befohlen, jeden einzelnen der Angreifer zu verwandeln. Es wäre die gerechte Strafe für ihre mangelnde Unterwürfigkeit vor ihrem wahren König.
Caldorvan hatte nicht vergessen, was er vor vielen Jahren in den Nordlanden erfahren hatte. Und nun war die Zeit gekommen - endlich - seinen Anspruch durchzusetzen. Wenn auch nicht auf die Weise, wie man sie von ihm erwarten würde. All die Zeit hatte er geschwiegen, auch wenn er oft versucht gewesen war, die Wahrheit um den Thron auszusprechen. Aran hatte er die Wahrheit sagen wollen, aber er hörte niemals zu. Saban war zu plump dafür. Aurelia zu unschuldig - sie war das einzige seiner Kinder, für das er so etwas wie Zuneigung fühlte, auch heute noch. Und bei allen anderen Gelegenheiten, zu sagen, was er wusste, hatte er sich zum Schweigen gezwungen. Selbst im Thronfolgekrieg, selbst als Sicarion ihn unterworfen hatte. Dem Lethos gegenüber hatte er seine Gedanken verborgen, so wie er es bei Zhaerius getan hatte, als dieser vergeblich versucht hatte, ihn zu bezwingen. Im Bürgerkrieg hatte er ebenso geschwiegen. Und als er Phaeron von Yrens Gegenwart gespürt hatte, kurz nachdem er die Malstromwesen unter seine Kontrolle gebracht hatte, hatte Caldorvan seine Gedanken tief verborgen unter dem Schwert und Blut Lebans.
"Wir marschieren im Morgengrauen", sprach er nach einer Weile.
"Jawohl, mein König", erwiderte Lathias.
Es war so leicht. Caldorvan lachte. Plötzlich erschien einer seiner Kundschafter. "Sie sind fort."
"Wo sind Aran und Saban? Wieso berichtest DU mir und keiner von ihnen?", grollte Caldorvan.
"Saban muss etwas zugestoßen sein. Es sind Tirinaither dort. Vermutlich haben sie ihn entdeckt."
"Und Aran?"
"Unauffindbar."
Caldorvan fluchte leise. Er versuchte, seine Söhne durch seine Gedanken zu rufen. Saban erneuerte sich in einem Weiher nahe Witrins. Es war keine Magie, die ihn niedergerungen hatte. Aran indes war nicht mehr zu spüren. Da war nur ein Licht, reine Energie. Zauberei. Sonst war da nichts mehr. "Findet ihn!", befahl er.
Dann hörte er Lärm. Er sah hinauf zu den Zinnen. Eine seiner Wachen stürzte in die Tiefe, schlug mit dem Kopf auf und zerplatzte. "Was geht hier vor? Zu den Waffen!", rief der Untote Lord.
Lathias zog sein Schwert und deutete zum Horizont. "Es sind die Bretonen. Sie brechen den Pakt!"
Esthelion
Aus Maga Theralias Aussagen war nichts zu erfahren. Dass die Skjöldburer ihm etwas verheimlichten, dass sie etwas Entscheidendes wussten, war ihm mehr als deutlich geworden. Vielleicht kannten sie Nachfahren seiner Mutter, die ihn mit Dholon gezeugt haben musste. Oder sie wussten, wo die Inschriften waren, die Weissagungen, die Esthelion auf seiner Reise nach Midgard gesehen hatte. Etwas, das ebenso dafür sprach, dass sie ihn belogen, war die Tatsache, dass Maga Theralia eher auswich denn antwortete, eher zu Abschweifungen neigte als kurz und knapp zu sagen, was sie wusste. Weder erfuhr er etwas über seine Ahnen noch etwas über seine Mutter, die wohl eine Nordfrau gewesen sein musste. Und doch fühlte Esthelion eine Präsenz. Es war etwas, das er bei der Frau, die er immer für seine Mutter gehalten hatte, nie gefühlt hatte. Nicht Liebe oder Zuneigung - nein, es war einfach nur die Gewissheit ihrer Nähe. Vielleicht war Skjöldbur also keine schlechte Wahl gewesen.
Aber wenn sie ihm etwas vorenthielten, was war es? Und wenn es wirklich Wissen über seine Mutter oder die Herkunft der Weissagungen war, wieso sollten sie ihm derartig misstrauen? Weil er dem Eis gedient hatte, im Thronfolgekrieg. Einen anderen Grund konnte er sich nicht denken. "Elf Kinder. Eines überlebt, eines erbt, eines siegt, eines wird glücklich", flüsterte Esthelion auf dem Weg in das Gemeinschaftshaus, wo man ihm eine Schlafstätte hergerichtet hatte. "Wie meinen?", fragte der Bretone. Esthelion erkannte ihn. "Sir Allyen... nein, schon gut. Es ist nichts."
Dann begab er sich auf die Schlafbank, lehnte sich an die Wand und ging immer wieder die Weissagung im Kopf durch. Die Kinder, sie waren zuzuordnen. Das glückliche Kind aber konnte er nicht einordnen. Ein Zyniker würde wohl antworten, dass jedes Kind dieser Welt dazu verdammt wäre, eines Tages Opfer eines Krieges zu werden, denn gerade Menschen schafften es immer wieder, einander das Leben zur Hölle zu machen. Gründe für Kriege gab es immer. Der Thronfolgekrieg war eine Notwendigkeit gewesen, denn er stellte endlich Ordnung her. Das Eis hatte Theresia auf dem Thron des Reiches sehen wollen, und Esthelion hatte aus einem bestimmten Grund den Befehl der Wesen nie hinterfragt: Es schien ihm gerecht. Also hatte er alles dafür getan. Die Kraft der Menschen, die Welt in den Krieg zu stürzen, sie war nicht von der Hand zu weisen. Und selbst jetzt gab es durchaus Ansatzpunkte, die darauf hinwiesen, dass auch heute ein großer Teil der Schwierigkeiten, in denen alle steckten, von Menschenhand begründet worden waren. "Die Menschen zerstören sich selbst. Wir sind nur die Stimme", hatte das Eis gesagt.
Und welches Kind würde siegen? Auch hier gab es kaum eine einleuchtende Antwort. Der Erbe jedenfalls könnte Tysandras Sohn sein. Das wäre natürlich wenig erfreulich. Wenn die Weissagung aus einem bestimmten Grund zu ihm gekommen war, dann wohl, weil sie ihn betraf. Er bliebe dann übrig als der Überlebende. Das Kind, das überlebt. Dies würde voraussetzen, dass zu irgendeinem Zeitpunkt in der Geschichte, in seiner eigenen Vergangenheit, jemand sein Leben hätte beenden wollen. Nun, das hatten viele versucht - mit eher geringem Erfolg. Es musste also jemand oder etwas gewesen sein, das nicht nur den Willen und die Macht dazu gehabt hätte, sondern auch ein Ziel, das über einen reinen Sieg hinausgegangen wäre. Mercutio hatte die Macht dazu, aber keinen besonderen Grund. Aenthalas, der Rote Narr, hatte im Thronfolgekrieg dem Feuer gedient. Sie hatten sich als ebenbürtige Gegner erwiesen - nicht überzeugend, nicht eindeutig genug. Und andere wollten ihm nicht einfallen. Vielleicht lag es weiter zurück? In der Heimat? Oder auf seinem Weg durch... das Jorganschelf! Damals war er von einem Jäger verfolgt worden, einem Valkyn. Erst als Esthelion den Thron des Winters erreicht hatte, war der Valkyn umgekehrt. Der Thron war verlassen gewesen (dies dachte er damals - heute war es wohl anders). Und dahinter hatte er das Eis gesehen. Was, wenn jemand ihn damals schon hatte aufhalten wollen? Jemand aus dem Orden Argans? Nein, zu lang her. Das Obsidianorakel vom grauen Wall? Unwahrscheinlich, denn das Feuer schwieg in den ersten Jahren. Gleich was Esthelion auch überlegte - nichts schien wirklich zu passen. Den Verfolger hatte er damals als eine zufällige Begegnung abgetan. Und wenn sie es nicht gewesen war? Es war so lang her. Vielleicht hatte dieser Ormur damit zu tun? Das wiederum hätte voraussetzen müssen, dass der Valkyn etwas wusste - dass er heute ebenso etwas wusste. Einen Moment verfluchte sich Esthelion, dass er nicht in Brulund geblieben war. Das Ecaloscop Skjöldburs konnte er nicht benutzen, und Derkos unterdrückte seine Zauberkunst. Und wenn erst das Schutzamulett für ihn fertig wäre, wüsste der Runenleser ohnehin jederzeit, wo er sich aufhielte. Genaugenommen war Esthelion also ein Gefangener ohne Ketten. Ein Gast unter steter Beobachtung. Er schmunzelte. Es war wie immer. Niemand vertraute ihm. Dies war schon immer seine Schwäche und gleichsam größte Stärke gewesen. Es machte das Lügen sehr einfach - aber heute, hier, hatte er nur die Wahrheit gesprochen, die unverfälschte Wahrheit. Während man ihn belog. Als er die Ironie in ihrer Gänze erfasste, musste er lauthals lachen.
"Es gibt hier Leute, die wollen schlafen", murrte Allyen.
Schlafen. Esthelion nickte kurz. "Verzeiht, Ihr habt recht."
Er schloss die Augen und fiel in seine Trance, wie es alle Ledharthien und Elaya vermochten. Aber nun rief er hervor, was er zuletzt im Krieg um die bretonische Krone eingesetzt hatte. Auf diese Weise hatten er und Aenthalas Kontakt aufgenommen. Darüber konnte er das Eis erreichen, wenn da noch eine Verbindung bestand. Er sah den Erstarrten Baum, die Felder von Thanryss und den Reifwald, die Eiswüste und die Klamm. Ein großer Mann, an der Seite baumelte ein Keule aus Knochen, stieg die Treppen des Schwarzen Walls hinauf. Im Tal, am Abstieg in die Klamm, war ein Heerlager. Valkyn waren dort zu sehen. Die Krähe der Vestfold. Ein Elementarwesen. Das Eis fand er nicht. Enttäuscht wollte er aufwachen, als er einen Schatten bemerkte, der in seiner Hand einen Bogen aus Eis trug. "Esthelion...", flüsterte der Jäger.
Varcus
Manchmal gönnte ihm die Herrin eine Pause. Dann lockerte Nour die Schrauben, die an dem Gestell um seinen Kopf befestigt waren und sich tief in seinen Schädel gruben wie die Maden, die sie ihm zu Essen gab. In diesen Augenblicken ließen die Schmerzen nach, und auch die Stimmen, die ihn sonst pausenlos plagten, wie auch das schrille Geräusch von kratzenden Fingernägeln, die über eine Schiefertafel schnitten, verschwanden für eine kleine Weile. Aber selbst dann, wenn er in der Lage war, nachzudenken, lag er wie ein Hund an Deck des Schiffes und fraß verdorbenes Fleisch. Als ihr Hund genoss er die Gaben und war so erniedrigt, dass er sich selbst für die Schmerzen und das abgestandene Wasser, versetzt mit Speichel, bedanken wollte - könnte er sprechen. Er kauerte sich zusammen, ließ seine Zunge herausbaumeln und lauschte dem Rauschen des Meeres, über das er von Tectaria nach Bretonia gekommen war; bereit, Dakhil Al Khan zu töten, Königin Theresia als Geisel zu nehmen und den Tod des Heiligen Vaters zu planen. In den lichten Momenten fragte sich Varcus, ob dies eine Strafe des Herrn wäre. War sein Weg der falsche gewesen? Nein, das war nicht möglich, denn das Sigillum Dei hatte eindeutig den Tod von Gregorianus befohlen. An die Legenden über den Fischer aller Fischer hatte Varcus nie geglaubt. Und die Rache an Dakhil für den Fluch, den er nur ihm zu verdanken hatte, konnte sie so falsch sein? Dakhil war gottlos, ein Heide, ein stinkender minderwertiger Mann, weniger wert als ein Wurm oder eine Schabe.
"Und du, was bist du?", fragte die Stimme, als Nour die Schrauben wieder in seinen Kopf bohrte. Der klirrende Ton, welcher die Worte begleitete, war wie Eis, das auf steinernen Boden fällt. Varcus schmeckte sein eigenes Blut, als er antworten wollte, aber nur das Bellen eines Gossenköters hervorbringen konnte. Er konnte die Antwort nur denken. "Ich bin Varcus, Präfekt Varcus. Diener des Herrn."
"Du hast Frauen geschändet und gequält, Mädchen gefoltert und verbrannt, Kinder geschlagen. Wie kannst du dem Herrn auf diese Weise dienen? Er ist ein Herr voller Liebe und Gnade."
Varcus sah einen Rosenstrauch, der in Flammen stand, aber nicht verbrannte. Für Tectarier war dies ein Zeichen, das von der Nähe eines Engels kündete. Aber Engel waren hier nicht. Nur die See, das Schiff, die Ketten und Schrauben. Und Nour, die Herrin ohne Gnade. Er sah auf seine gebrochenen Hände und Finger. "Gnade für die Schwachen?"
"Für alle, denn ich bin, der ich bin. Du willst mir ein Diener sein? Dann erkenne dich selbst. Erkenne, was du getan hast und was du tun musst, Sünder."
"Wenn ich ein Leben in Sünde geführt habe, was tut dann sie?", fragte er und meinte seine neue Herrin.
"Sie lebt nicht fromm. Auch sie ist in Sünde. Aber du hast ihr den Weg bereitet. Bald wird sie sehen, wie sehr sie irrt. Aber dann ist es vielleicht zu spät für dich."
"Ich will nicht sterben, und ich will nicht leben wie ein Hund", antwortete er und fühlte seine Scham, die stärker war als sein Wunsch, auszubrechen. Er war ganz unbekleidet, als Nour ihn unter Deck brachte, an ein Fass kettete und eine Kugel aus Metall in der Hand hielt. Er erkannte eine Mundbirne. Das Gerät aus Eisen hatte an den Seiten Flächen, die dank eines recht einfachen Mechanismus ausgeklappt werden konnten und immensen Schaden anrichteten. Nour stopfte ihm die Kugel in den Rachen, dann legte sie einen Finger an den Auslöser. Varcus hatte die Mundbirne in Tectaria benutzt. Insbesondere dann, wenn er eine der Hausdienerinnen genommen hatte, aber verhindern wollte, dass sie es seinem Vater berichten würde. "Du kennst es, nicht wahr?", fragte sie und lockerte mit der anderen Hand die Schrauben. Varcus spürte den Drang, sich zu verteidigen, sich zu verwandeln und der Hure die Kehle aufzureissen. Aber es gelang ihm nicht. Was ihn hinderte, war ein unbekannter Fluch, den er wie einen Kakerlak spürte, der durch seinen Kopf spazierte und sich darin erleichterte. Er roch Kot und Pisse, aber es war er selbst, der sich gerade erleichterte. Dann nickte er. "Ich gebe dich frei, wenn Erec uns braucht. Danach wirst du sterben. Aber du sollst mir nun sagen, was du weißt, was für ihn wichtig sein kann."
Varcus zeigte auf die Kugel, die ihn am Sprechen hinderte. Nour lachte. "Ich habe die Tür verschlossen. Aethel und Fynn werden dir nicht helfen können, wenn du schreist. Hast du mich verstanden?"
Er nickte, und sie nahm die Kugel wieder heraus. Vielleicht sollte er sich ja nur daran erinnern, was er den Mädchen im Haus seines Vaters angetan hatte. "Was willst du wissen?", fragte er, nachdem sie die Schrauben ganz entfernt hatte. "Alles. Angefangen beim Heiligen Vater, deinen Plänen mit ihm, dem Fluch von Mond und Nebel. Einfach alles. Vorzugsweise auch über das Sigillum Dei."
"Du weißt davon?", fragte er überrascht.
"Zhaerius hat davon gesprochen. Rede nun!", befahl sie.
Es war die Furcht vor weiteren Schmerzen, die ihn zum Reden brachte. "Das ist es, was ich weiß, darum kamen wir her", sagte er zum Schluss.
Nour tätschelte seinen Kopf. In dem Moment hätte er sie am liebsten erschlagen, aber es war ihm nicht möglich. "Das hast du gut gemacht. Ich habe schon lang keinen Mann mehr gehabt. Jeden anderen hätte ich nun beglückt, seinen Schwanz gelutscht und ihn anschließend in meine Lenden geführt. Aber du hast mir wehgetan, du hast mir Schmerzen bereitet, die ich nicht einmal Tysandra gewünscht habe. Schmerzen, die keine Frau spüren soll."
Gerade wollte Varcus etwas tun, was er nie erwartet hätte. Er wollte um Vergebung und Gnade winseln. Doch schon war die Kugel wieder in seinem Mund. Nour lächelte, als sie auf den Auslöser drückte. Die Seiten klappten auf, und verfehlten ihre Wirkung nicht, als nach einem metallischen Geräusch andere Töne angeschlagen wurden. Nach allen Seiten hin klappte Varcus Kiefer unter Gespei von Blut und Speichel auf. Erst war es ein Knarren in den Knochen, dann fielen die Zähne wie Eicheln heraus, am Ende brach der gesamte Kieferknochen, bis Varcus die Augen verdrehte und in Ohnmacht fiel.
Ormur
Er hatte die Krone, die Claudius ihm gegeben hatte, Mellwen zur Aufbewahrung gegeben. Dholon hatten sie in eine Starre versetzt, und Liurroccar zeichnete die Träume des Elaya auf. Ofeigur hatte erfahren, dass die Krieger des Winterkönigs Dholon auf eine Reise vorbereitet hatten, vermutlich zum Thron des Winters. Denn wenn der Winterkönig seelenlos war, dann suchte er wohl genau diese eine Seele, um vollständig zu werden. Immer wieder dachte Ormur an die Ereignisse von vor langer Zeit, wie ihm der Thron genommen wurde; wie das Eis die Krone zerbrochen hatte. Und plötzlich war dieser Diener des Meeres im Lager des Feindes aufgetaucht, und er hatte die Krone bei sich, die ihm angeblich Pytharas gegeben hatte - jener Mann, in dessen Körper der Geist Jorgans gefahren war. Es hatte sich herausgestellt, dass man Claudius betrogen hatte. Irgendjemand hatte sich als Pytharas ausgegeben, und das sehr überzeugend. Es war Ormur egal, wer dies getan hatte. Die Krone würde er nach seiner Rückkehr untersuchen lassen, und wer immer der Betrüger wäre, dieser Claudius würde bald schon den Blauen Turm Ghundras in Kenntnis setzen. Wichtiger für ihn war, dass der echte Pytharas irgendwo wartete. Worauf er wartete und wieso er sich noch nicht gezeigt hatte, das war etwas, das Ormur nicht verstehen konnte. Musste Pytharas nicht alle Antworten kennen? Er glaubte daran, dass Jorgan seinen Frevel bereute. Aber weshalb trat er nicht offen hervor, um zu büßen, zu helfen? Das Faulwasser suchte nach dem Mysterium, dem großen Geheimnis. Der Winterkönig marschierte, und das Eis war zurück. Der Schwarzstern versuchte, in das Mysterium zu gelangen. Die Krähenfrau, die Dholon einst verführt hatte, war gekommen - und Jorgan schwieg.
Also hoffte Ormur, der Hüter Alt-Blyrtindurs hätte Antworten. Immerhin hatte Erec berichtet, dass er die Zahlen enträtselt hatte. Sie ergaben nicht nur das Lied des Schwarzsterns, sondern ebenso eine Umkehrform. Als Erec das Lied spielte, erinnerte sich Ormur an die Lieder, die er gemeinsam mit Gylwar am Feuer gesungen hatte. Die Lieder, die Jorgan ihnen beigebracht hatte. Eines davon hatte von einem Jäger gehandelt, der den rechten Pfad verlassen hatte und sein Rudel getötet hatte. Er fragte sich nun, ob es der Jäger aus der Kälte war, von dem das Lied gehandelt hatte. Er, dem sein Name genommen worden war, den man verbannt hatte, nachdem er seine Mutter hatte vergiften wollen. Jorgan hatte ihm vor langer Zeit ein Bildnis gezeigt. Es war in einen Fels gebrannt worden. Ein Feuerberg war im Land erwacht, und nur der Grauwall, ein Neffe Varathessas, hatte ihn mit seinen Händen erstickt. Das schwarze Glas war seitdem im Wall zu sehen. Es hatte die Gestalt des Jägers in den Stein gemalt. Dunkel, groß, mit einem Bogen aus purem Eis. Aber wo war der Zusammenhang zwischen dem Lied, das Erec spielte und dieser Geschichte? Ormur wartete einen Moment, dann stellte er seine Frage. "Du hast dieses Lied aus den Zahlen entschlüsselt?"
Erec legte die Flöte zur Seite und gab Ormur einen Krug Met. "Ja. Ich habe mich lange damit befasst. Der Drudenfuß ist unendlich. Eine endlose wundersame Wiederholung des Gleichen. Gleich und doch nicht gleich. Ein Symbol, wie die Zahl 8, die für das Unendliche steht. Aber ungleich gewaltiger. Dort habe ich Geburtstage gefunden. Meiner, deiner, die unserer Freunde. Und viele andere. Einige sind auf dem Weg hierher. Sie überschneiden sich mit unseren."
"Was bedeutet das, Hüter?"
"Nenn mich einfach nur Erec. Ich weiß noch nicht, was es bedeutet. Aber es muss etwas Großes sein."
Ormur schüttelte den Kopf. "Ich nenne dich Hüter, weil dies deine Aufgabe ist. Wenn du Respekt erwartest, vor deiner Bürde, dann bestehe auch darauf, dass man dich so nennt. Ich wäre nie König geworden, wenn ich mir den Respekt nicht erarbeitet hätte, Hüter."
Erec lächelte. "Wie du möchtest. Ich selbst würde mich als einen Hirten bezeichnen. Ein Diener der Erde, Gwayan, nannte mich so. Um genau zu sein, er ging noch weiter..."
"Ach ja?", fragte Ormur verwundert. Es war, als wäre ein Teil seiner Suche zu einem Ende gekommen. Jorgan hatte von den Hirten gesprochen. Sie bewahrten das Geheimnis. Aber er beschloss, erst auf die anderen zu warten, bevor er dies offenbaren würde.
"Leider ist mir noch nicht klar, was dies bedeutet. Du siehst, es gibt viel zu ergründen. Aber wenn Aethel und Fynn hier sind, werden wir vielleicht mehr herausfinden. Ich hoffe, dass Nour sich zurückhält. Die Hüter werden ihr die Öllampe nicht geben."
"Die Waffe gegen den Schwarzstern", murmelte Ormur.
"Zhaerius. Der Mann in Schwarz. Ja..."
"Unser Volk betrachtet den Schwarzstern als ein großes Übel. Die Plagen, gleich welche, kommen von ihm. Er will das Geheimnis vergiften. Er sucht Erkenntnis für sich allein", erklärte Ormur dann.
"Das Mysterium darf niemals geöffnet werden. Ich bin mir sicher, ich war dort. Aber auch ich erinnere mich nicht daran. Aus gutem Grund, wie ich denke. Es ist nicht für uns Sterbliche gedacht."
Irgendwie gefiel ihm dieser Hüter. Dass Erec einer der Hirten war, behielt er aber für sich. Er konnte noch nicht ganz sicher sein. "So ist es. Es wurde nicht umsonst in der Leere geboren."
"In der Leere geboren?", fragte Erec mit Verwunderung in den Augen.
"Alles hat irgendwo einen Anfang. Selbst deine Götter, meine, und ja, auch das Geheimnis. So sagen es die Legenden meiner Heimat. In der Leere hinter dem Ende der Welt ist es geboren worden aus den Träumen der Träumenden. Ich nehme an, dies ist auch der Grund dafür, dass Traumleser in der Lage sind, die Tür zu erreichen. Es ist auch der Grund dafür, dass das Faulwasser sich erhofft, im Geheimnis die Antwort auf ihr Sein zu bekommen, Seelen zu bekommen. Ich habe dieses Wissen für mich behalten, lange. Ich habe es Jorgan versprochen. Aber er antwortet nicht - und jemand sollte davon wissen. Dir sage ich es, weil du eine Aufgabe hast", erklärte Ormur - damit wollte er seine Offenbarung, dass Erec ein Hirte war, vorbereiten.
Erec nickte leicht. "Ich sehe, es war weise, dich hierher einzuladen. Wollen wir ein paar Worte mit meinem Golem wechseln?"
"Wenn es notwendig ist..."
"Er hat Wissen, das uns helfen wird. Es muss einen Grund für die Überschneidungen geben."
Ormur ahnte den Grund. Sie alle waren Hirten. Sogar diese Nour und ihr Begleiter.
Der Mann in Schwarz
"Was soll mit ihr geschehen, wenn sie... fertig ist?", fragte der kahlköpfige Diener. Die Loyalisten der Zendavesta waren im Augenblick die einzigen, die ihm folgten. Nachdem der Mann in Schwarz die Malstromwesen geschaffen hatte, weit oben in den Himmeln Midgards, im Kreis der Zendavesta, waren die gezüchteten Krieger dieser magischen Kreaturen zu seinem Gefolge geworden. Sie dienten, ohne einen einzigen Befehl zu hinterfragen. Es waren nicht viele, vielleicht tausend. Aber es war genug für den nächsten Schritt. Die Malstromwesen folgten nun Caldorvan. Also musste der Mann in Schwarz seinen Plan ohne sie verfolgen.
"Wenn Yphilias Aufgabe getan ist, werde ich ihr geben, was sie immer wollte. Sie wird sterben. Ihr habt eine ganz andere Aufgabe. Ist der Traumdieb eingetroffen?", fragte er.
"Ja. Er wartet auf deinen Befehl, Meister."
"Bring ihn her."
Als der Loyalist zurückkehrte, in Begleitung einer schimmernden Gestalt, deren Augen so schwarz waren wie ihre Seele, die der Mann in Schwarz aus der Anderwelt gerufen hatte, roch der Mann in Schwarz den süßen Duft von Traumwasser. "Ich lasse dich gehen, wenn du mir einen Dienst erwiesen hast. Du sollst in den Traum eines Elaya eindringen. Sein Name ist Dholon. Raube mir seine Seele, und du darfst gehen. Bring sie zu mir. Wirst du tun, worum ich bitte?"
"Ich habe keine Wahl. Ich bin ein Geist, den man herbeirufen kann. Dies ist mein Los. Einst war ich wie die, die ihr Schatten aus der Anderwelt nennt. Nun bin ich zum Dienen verdammt", antwortete der Geist mit offener Verachtung für den Herrn aller Plagen.
"Gut. An die Arbeit!", rief der Mann in Schwarz und ließ den Geist von einigen Loyalisten bewachen.
"Warum benötigst du seine Seele?", fragte der Loyalist.
"Ich brauche weitere Verbündete. Und wenn der Winterkönig Dholons Seele, seine Seele, sucht, werde ich sie ihm anbieten. Im Gegenzug werde ich dafür sorgen können, dass seine Krieger ein bestimmtes Ziel angreifen und ebenso ein bestimmtes Angebot ausschlagen", erklärte der Mann in Schwarz. "Jetzt, da Tysandra marschiert und angreift, darf sie nicht noch mehr bekommen. Es reicht, dass Brylod und Garrilton ihren Worten verfallen sind. Die Schatten aus der Anderwelt dienen ihr. Sie ist die Krähe, sie ist Morrighan und ist es gleichsam nicht."
"Ich verstehe nicht, Meister."
"Unwichtig. Gehen wir zu Yphilia. Es ist Zeit."
Unter der Androhung, sie den gefangenen Werwölfen zum Fraß vorzuwerfen und mit der Erkenntnis, ihre Ziehtochter nie wiederzusehen, sollte sie nicht tun, was er will, war sie am Ende doch zu überzeugen gewesen. Der Mann in Schwarz betrachtete die Karte, die Yphilia angefertigt hatte. "Das sind alle Seitenarme und Kanäle?", fragte er.
"Ja. So will sie vorgehen. Wenn sie erfährt, dass ich schwach wurde, wird sie mich töten lassen", flüsterte die Gefangene und hatte tatsächlich Tränen in den Augen.
"Aber, aber... sie ist immerhin deine Tochter, in gewisser Weise. Sicher wird sie verstehen, dass du lebend mehr wert bist als tot. Sorge dich nicht, Yphilia", antwortete der Mann in Schwarz und lächelte.
"Was bist du...?", fragte sie.
"Ich? Ein bescheidener Mann. Im Gegensatz zu dir und Tysandra tue ich nur, was notwendig ist. Was schon lang hätte geschehen müssen. Weißt du wie lange ich darauf gewartet habe? All die Zeit. All die Jahre. Ich habe es bei Jorgan versucht, ich habe es bei Erec und Hrabanus versucht, sogar bei der Finsternis, bei Varcus und all den anderen. Und am Ende war es so leicht: Am Ende brauchte ich nur dich dafür."
"Du wirst mich nicht mehr gehen lassen..."
"Wer sagt das?", fragte der Mann in Schwarz und sah zum Loyalisten, der ihn fragend ansah, hatte er doch zuvor noch von Yphilias Tod gesprochen.
"All deine Worte klingen danach. Töte mich endlich. Aber verbrenne mich. Ich will keiner von ihnen werden."
Wieder lachte er. "Du hattest die Absicht, die Flüsse und Kanäle zu vergiften, alle zu infizieren, damit Tysandra als Heilerin die Gunst der wenigen Überlebenden gewinnt. Und nun weinst du und willst davor verschont werden, vor dem, was du allen anderen ohne Mitleid und Gnade antun wolltest?"
"Und du? Was ist mit dir? Du hast die Pestilenz erschaffen. Ohne dich wäre nichts von allem hier geschehen, nichts!"
"Ja, das könnte man so sehen. Aber als ich vom Aufmarsch des Winterkönigs und seines Klirrenden Heerwurmes hörte, da wurde mir klar, dass die Krähenfrau vor langer Zeit Dholon verführte, so wie ich Jorgan in Versuchung geführt habe. Ich glaube, das Schicksal will uns. Wir sind Gegner, in allen Zeiten, gleich wo wir sind. Und noch etwas bemerkte ich: Wenn das Eis zurück ist, das Dunkel vom Ende der Welt, dann ist es auch ein anderer."
"Wer?", fragte sie.
"Der Jäger aus der Kälte."
"Was... wer ist das?"
"Unwichtig für dich", sagte der Mann in Schwarz. Dann sah er zu seinem Diener. "Ist die Kammer vorbereitet?"
"Ja, Meister."
"Kammer, was für eine Kammer? Was hast du vor mit mir, Zhaerius?"
Er ließ die Gefangene in eine Kammer aus reinem Licht führen. Darum war eine Blase aus magischem Wasser. Etwas, das der Mann in Schwarz bei den Loyalisten gefunden hatte, als sie bereitwillig zu ihm gekommen waren. Sie sperrten Yphilia ein und lauschten ihren Schreien, als ihr Leben erlosch. Nach einigen Augenblicken öffnete der Loyalist die Kammer. Yphilia trat heraus. Ihr Haar hatte sie verloren. Sie sah den Mann in Schwarz an. "Meister?"
"Begleite meine Loyalisten nach Samariq."
Aran
War es die Macht der Zendavesta, die er aufgesaugt hatte? Ein Wink des Schicksals? Oder war es doch Leban, der immer noch ein Auge auf ihn hatte, selbst jetzt noch, da er ein Malstromwesen war? Aran kannte die Antwort nicht. Doch selbst als die anderen, Saban, Liranus, Lathias und die vielen Verwandelten Hrabanus noch ihren Gott genannt hatten, war ein Teil von Aran wenig davon überzeugt gewesen. Er war nicht darauf aus, selbst Macht zu erlangen - sein Ziel war es, zu bewahren, was noch menschlich an ihm war. Szynric musste es wohl geahnt haben, denn bei jedem Streit über die sinnlose Absicht von Liranus, eine Stadt an der Nebelküste zu errichten, hatte Aran betont, wie dümmlich dieses Vorgehen war. Wozu eine Stadt errichten und Kräfte verschwenden, wenn sie eingekreist waren durch den Pakt? Nordwestlich vom Eisenwall lag die Stadt, direkt an der Grenze war die Abtei, und jenseits der Marmorbrücke waren die Nordlande, prall gefüllt mit Nordmannen, die sicher nur darauf warteten, dass Elyarn den Pakt brechen würde. Die Armeen aus Bretonia, Midtjord und Tilhold würden nicht zögern. Und Wilderberg? Nördlich davon lag das Wilderland. Was, wenn die Drow - immun gegen die Verwandlung - sich entscheiden würden, die Festung von Szithlin aus anzugreifen? Wer wusste schon, ob es dort nicht irgendeinen verborgenen Tunnel gab, den niemand kannte? Sicher war lediglich Witrin. Der Blaue Turm war keine militärische Bedrohung, und die Magier der Tirinaither würden sich wohl kaum trauen, die Burg der Torbrins anzugreifen. Auch nicht mit keltischer Unterstützung aus dem Tiefenwald - denn keiner von ihnen wusste, wieviele Malstromwesen sich im Tal Beltain und an der Nebelküste versammelt hatten, bereit, die Burg zu schützen. Die Lage war nicht optimal, auch wenn Saban es nicht erkennen wollte. Genau wie Liranus war er ein blinder Verehrer des Weinenden Gottes gewesen, hatte den Worten des Propheten Zhaerius geglaubt, bis Aran endlich einen Beweis für dessen Lügen gefunden hatte.
Und nun? Nun folgten sein Bruder und alle anderen Caldorvan, seinem eigenen Vater, dem Untoten. Eigentlich war es nicht wichtig, was Aran vor Caldorvans Einfluss beschützte. Solange er es nicht bemerkte, lief alles hervorragend. Natürlich erkannte Aran die interessante Ironie: Wieder einmal hatte sein Vater alle Karten in der Hand, eine Armee im Rücken, die durch den Kampf selbst in einer Niederlage nur noch mehr Mannstärke erhielt - so wie es im Thronfolgekrieg bis zum Erscheinen Sicarions gewesen war - und wieder einmal stand Aran im Verborgenen gegen ihn. Wieder einmal würde kein anderer ihm glauben, ihn verachten wie eh und je, ihn hassen und als Übel dieser Welt betrachten. Im Thronfolgekrieg hatte Caldorvan eine Armee untoter Krieger geführt. Gefallene Krieger hatte er in seine Armee eingegliedert, so wie es jetzt auch geschehen war. Bis damals Sicarion Grauwind gekommen war, der tectarische Inquisitor und Usurpator. Er hatte Caldorvan die Stirn geboten und anschließend Hohenfels in Besitz genommen. Drei Tage hatte der Kampf um die Burg gedauert, und mit dem Tode Sicarions hatte auch der Bürgerkrieg ein Ende gefunden. Und jetzt? Wer würde ihm nun die Stirn bieten? Theresia? Baelon? Tysandra? Oder der Winterkönig und das Eis? Nein, Aran sah zu viele Parteien, zu viele Optionen. Und Aussicht auf ein Bündnis zwischen den verschiedenen Kräften bestand nicht. Außerdem war Caldorvan gerade dabei, seine militärische Macht auf dramatische Weise zu verstärken. "Bringt dies den Schatten aus der Anderwelt. Es ist ein Geschenk", hatte sein Vater befohlen, als er Saban eine Truhe übergeben hatte. "Was ist darin?", hatte sein Bruder gefragt. "Etwas, das sie überzeugen wird, an meiner Seite zu stehen. Und du Aran, du hast die Zauberkraft der Zendavesta. Da der Kreis nicht nur die Kuppel Samariqs erschaffen hat, sondern auch die Barriere, die sie in einen Käfig sperrt, wirst du sie befreien. Hast du mich verstanden, und wirst du tun, was ich dir sage?" "Ja, Vater", hatte Aran gelogen.
Als er und Saban den Weiher in den Kernlanden im Schutze der Nacht erreicht hatten, sahen sie mehrere Tirinaither, die am Weiher lagerten. Von den Schatten war nichts zu sehen. "Sieh nach, was dort geschieht", befahl Aran seinem jüngeren Bruder, und Saban wandelte sich zum Faulwasser und kroch wie eine flüssige stinkende Natter näher an den Weiher. Aran spürte, wie groß seine Verachtung war. Er verabscheute das, was sie geworden waren - und konnte es nicht ändern. Aber es gab vielleicht Verbündete. Nicht für Caldorvan, nicht für die Wesen des Malstroms. Für ihn. "Was hast du entdeckt?", fragte er, als Saban zurückgekehrt war.
"Die Schatten, sie sind fort. Die Zauberer sprechen Formeln. Sie suchen Spuren. Wenn wir sie verwandeln, wissen wir, was sie erfahren haben..."
"Nein. Das ist nicht unser Auftrag", knurrte Aran.
"Unser Auftrag ist es, die Armee zu vergrößern. Vater will es so. Sein Wort ist Gesetz. Er hat die Macht des Weinenden Gottes. Er ist der wahre Prophet!"
"Ach, Saban... Du warst schon immer ein leichtes Opfer", murmelte er.
"Was redest du da?"
"Nichts...", antwortete Aran, nahm einen Dolch und stieß ihn in Sabans Schädel. Sein Bruder zerfloss zum Faulwasser, um irgendwann irgendwo neu zu entstehen, wie sie es alle taten. Darum und weil Aran einfach genug davon hatte, empfand er kein Mitleid. Er bedauerte nur, dass er sich so früh schon gegen Caldorvan stellen musste, ohne Vorbereitung. Die Truhe öffnete er. Darin war Moos. Es roch wie Mutter Kelar. Aran verschloss das Behältnis wieder und trug es mit sich, als er sich auf den Weg nach Brulund machte.
Phaeron
Der Untote hatte die Macht über die Malstromwesen genommen - aber wie? Phaeron von Yren hatte so etwas wie einen Schicksalsschlag gespürt, als würden die Dinge sich grundlegend verändern. Welche Folgen diese Übernahme hatte, das konnte man zur Zeit nur ahnen. Während des Bürgerkrieges gegen das Haus Torbrin und seine Verbündeten war Phaeron ein junger Mönch gewesen, der sich kaum hatte vorstellen können, eines Tages Hohepriester zu werden. Nach der Schlacht bei Thyms Rast war er zusammen mit einigen anderen Mönchen von Torbrinern aufgegriffen worden. Im Krieg hatten stets die Regeln gegolten, dass Kaplane, Mönche und Priester, sofern sie sich nicht an den Kämpfen beteiligt hatten, unantastbar wären. Nicht in diesem Bürgerkrieg. Die Auseinandersetzungen zwischen den Häusern waren immer blutiger geworden, sodass gegnerische Armeen ihre Verluste mit allem aufstockten, was sie bekommen konnten; gleich ob es Kinder, Bauern oder Geistliche waren. Selbst Prinz Lerhon hatte zu diesen Maßnahmen greifen müssen: Es war nicht selten, dass einzelne Verbände aus zwangsrekrutierten Kämpfern bestanden. Phaeron hätte aber lieber in Lerhons Reihen gestanden als in Torbrins.
"Da an die Wand. Ausziehen. Streckt die Arme aus", brüllte der Peitschenschwinger. Von ihm sagte man, er wäre einst ein einfacher Knecht gewesen, der statt Menschen Vieh getrieben hatte. Jetzt war er Torbrins Knecht geworden. Die Gefangenen befolgten den Befehl. Denn was geschehen würde, wenn man auch nur zögerte, hatte der Peitschenschwinger an Melnas bewiesen. Der junge Mönch hatte sich geweigert, ein Schwert zu tragen. Der Peitschenschwinger hatte ihm erst ein paar Narben verpasst, um ihn dann in einem Trog zu ertränken. Einfach so. Melnas war fünfzehn gewesen.
Phaeron befolgte jeden Befehl. Soldaten übergossen ihn und die anderen mit Essig, dann warfen sie ihnen Schwämme zu, dass sie sich reinigten. Danach kam eiskaltes Wasser. "Euren Kameraden haben wir die Rüstungen abgenommen. Kleidet euch an, Soldaten! Willkommen in der Miliz!", rief der Peitschenschwinger. "Heute habt ihr Glück, Lord Torbrin wird euch persönlich begutachten."
Als Phaeron und die anderen die viel zu schweren Rüstungen angelegt hatten, kam eine Gruppe Reiter in das Feldlager. An der Spitze ritt ein großer kräftiger Mann mit Spitzbart und einem dunklen Schwert an der Seite. Es war Caldorvan, der dem Prinzen die Treue versagte. Die Zügel seines Rappen, den er 'Tod' nannte, drückte er einem Knappen in die Hand.
"Mylord, wir haben Beute gemacht", sagte der Peitschenschwinger und präsentierte ihm die Geistlichen, die er mit Keulen hatte bewaffnen lassen. Was für ein klägliches Bild sie abgaben, konnte Phaeron leicht aus den Augen des Lords lesen und noch leichter an seinen Worten hören: "Damit soll ich also einen Krieg gewinnen", stellte Caldorvan fest.
"Soll ich sie stärker bewaffnen?", fragte der Peitschenschwinger. Die Dummheit seiner Worte spiegelte sich in seiner aufgedunsenen Fratze und den blutunterlaufenen Augen.
"Damit ich sie an einen Wanderzirkus verkaufen kann?", fragte Caldorvan und schüttelte den Kopf. "Nein, so ist es recht. Stellt sie in die vorderen Reihen, dass ich sie nicht wiedersehen muss."
"Ihr habt es gehört, Maden! Ab mit euch, meldet euch bei den Speerträgern!"
Gerade hatte Phaeron sich in sein neues Schicksal als Bauernopfer gefügt und folgte den anderen, da packte ihn jemand an der Schulter. Es war Caldorvan, und er sah ihm direkt in die Augen. "Du nicht."
"Mylord?"
"Wie ist dein Name, Mönch?"
"Phaeron ist mein Name."
"Du bist Trellorns Sohn. Wie geht es Lord Yren? Hat er immer noch nicht gesehen, dass meine Sache gerecht ist?"
Phaeron wusste keine richtige Antwort. "Krieg ist niemals gerecht, Mylord."
Caldorvan lachte. "In mein Zelt mit ihm."
Ein paar Augenblicke später, man hatte ihm die Waffe abgenommen, fand Phaeron sich im Hauptzelt wieder, allein mit Lord Torbrin, der sein Schwert auf einen Tisch legte, sich selbst der Rüstung entledigte und beiden einen Krug Wein füllte. "Trink."
Phaeron befolgte den Befehl. "Danke, Mylord."
"Du hast mir nicht geantwortet, Yren."
"Mylord?"
"Du hast gesagt, Krieg sei niemals gerecht. Wenn der Anlass gerecht ist, dann ist der Krieg es auch", sagte Caldorvan mit seiner harten kalten und unverwechselbaren Stimme.
"Wie Ihr meint, Mylord", antwortete Phaeron und trank noch einen Schluck Wein. Er hatte nicht die Absicht, ihm zu widersprechen.
Caldorvan schmetterte die Faust auf den Tisch. "Antworte mir."
Er zögerte. "Mylord?"
"Du sollst sagen, was du denkst! Du bist ohnehin meine Geisel. Was könnte dir Schlimmeres passieren?"
Phaeron dachte an Melnas. "Ich habe da durchaus gewisse Ideen."
Wieder lachte Caldorvan. "Meine Männer sind Dummköpfe. Ich würde euch Mönche laufenlassen oder töten, aber nicht in den Kampf hetzen. Doch Lerhon lässt mir keine Wahl."
"Und da sagt Ihr, der Krieg und Eure Sache wären gerecht?", fragte Phaeron mutig.
"Erkläre das."
"Ihr verweigert dem Prinzen die Treue. Er besitzt Anspruch auf den Thron. Woher kommt der Eure? Verzeiht meine Offenheit."
"Ich habe dir erlaubt, zu sprechen. Und darum antworte ich dir auch: Mein Anspruch begründet sich auf verschiedene Punkte, die ich alle vorgebracht habe. Aber man wollte mich nicht anhören. Zuerst: Wo ist Samgard? Wo ist des Königs Schwert?", fragte Caldorvan.
"Man munkelt, Ihr hättet es geraubt, Mylord..."
Caldorvan trank einen großen Schluck. "Zweitens, sage mir", fuhr er fort, ohne auf den Vorwurf zu antworten, "es besteht eine Verwandschaft zwischen dem Hause Breton und meinem Haus. Aber Lerhon weigert sich, mir eine Position am Hof zu geben. Es steht mir zu. So will es das Gesetz. Ich verlange, was mir gehört!", polterte er, als würde er sich vor Phaeron rechtfertigen müssen.
"Und ist dies nicht etwas, das Ihr mit ihm besprechen müsst und nicht in einem Krieg ausfechten solltet? Tausende Unschuldige fallen jeden Tag."
"Niemand ist unschuldig", brummte er.
"Vor den Göttern sind wir es."
"Das ist Ansichtssache."
"Sind dies all Eure Punkte? Ich bin erstaunt. Ich hätte mit mehr gerechnet", sagte Phaeron vorsichtig. Die gute Stimmung Caldorvans könnte jeden Moment umschlagen.
"Es gibt einen weiteren. Aber es ist spät geworden. Ich benötige Ruhe. Bete zu den Göttern, dass sie dich für unschuldig halten. Dann wirst du den morgigen Tag in der ersten Reihe vielleicht überstehen."
Phaeron glaubte nicht, was er da hörte. "Mylord..."
"Was willst du noch?"
"Ihr sagtet, ich wäre eine Geisel. Wäre es nicht sinnvoll, mich am Leben zu halten?"
"Du fürchtest dich? Deine Zuversicht in die Götter ist nicht sehr groß, hm?", spottete Caldorvan.
"Ihr könntet mit meinem Vater verhandeln und ihm Eure Gründe nennen. Der dritte Grund muss wahrlich überzeugend sein..."
Caldorvan sah ihn eine Weile an. Jeden Moment könnte er einen seiner berüchtigten Ausbrüche bekommen. Aber er blieb ruhig. "Vielleicht."
Die Stimme des Nordmärkers riss Phaeron aus seinen Erinnerungen. "Wir sind da."
Phaeron nickte seinem Begleiter zu, stieg vom Pferd und verabschiedete sich. Dann näherte er sich der Feste Lord Dagharns.
Baelon
Er ritt an der Spitze seiner Männer. Emes führte die rechte Flanke an, die ausschließlich mit Bretonianern besetzt war. Auf der linken Seite ritten Sir Theornon, Roymar und Lady Hlifa mit den Truppenverbänden aus Hohenfels. Stunden hatten sie darüber beraten, was die beste Lösung wäre. Theornon hatte vorgeschlagen, nicht einzugreifen. "Wenn wir das tun, brechen wir unter Umständen den geschlossenen Pakt, ohne es mit Absicht zu tun. Es ist eine Frage der Deutung, Mylord", hatte er gemahnt. Emes war ganz anderer Ansicht gewesen: "Ist er nicht ohnehin schon gebrochen? Mit dem Angriff auf die Festung wurde alles, was vorher als besiegelt galt, vernichtet. Was sagt Ihr dazu, Lord Brioless?"
Martus von Brioless hatte in dieser Sache ein erhebliches Mitspracherecht. "Es geht hier nicht mehr um den Pakt. Jetzt geht es darum, dem Gegner die Stirn zu bieten."
Lethos Mercutio nickte bedächtig. "Wir müssen uns fragen, welchen Schritt sie als nächstes tun. Ich habe bereits versucht, mit Lord Caldorvan in Verbindung zu treten. Entweder haben seine Fähigkeiten sich exponentiell gesteigert oder jemand verhindert einen Kontakt."
"Jemand?", fragte Baelon.
"Es ist möglich, dass der Mann in Schwarz... dass Zhaerius von Maegranth einen Weg gefunden hat, den Untoten entgegen unserer Meinung doch noch zu beherrschen. Oder es ist Tysandra."
Emes schüttelte den Kopf. "Dann wäre aber ein Angriff unnötig gewesen."
"Das ist korrekt", murmelte Theornon, "in dem Fall wäre es unherheblich gewesen. Wir dürfen nicht vergessen, wer hier marschiert ist. Sie hat sich ganz und gar rausgehalten."
"Zumindest offiziell", brummte Hlifa, "sie ist allerdings auch beschäftigt."
Emes hob eine Braue. "Ach ja?"
"Wir erhielten eine Nachricht von meinem Bruder. Also beobachten wir den Eingang zu einem alten Fluchttunnel. Einst war er wohl eine Verbindung zwischen Hohenfels und der Straße nach Thyms Rast. Ist aber schon lange verschüttet. Man hat gesehen, wie Tysandra den Tunnel betreten hat. Wir warten aber noch. Vielleicht finden wir noch heraus, was da vor sich geht."
"Interessant. Nun, was haltet ihr alle für die beste Entscheidung? Es muss etwas getan werden", sagte Baelon.
"Ich sage, wir greifen an", antwortete Brioless. Dass er so entscheiden würde, war für Baelon keine Überraschung. Hier ging es immerhin um Wilderberg.
Theornon schüttelte den Kopf. "Das wäre gedankenlos, mit Verlaub. Noch gab es keine Reaktion Caldorvans auf den Angriff. Wenn er tatsächlich die Malstromwesen nun anführt, dann betrifft es ihn. Außerdem sehe ich für ihn keinen Grund, den Pakt mit Bretonia zu brechen."
"Er war schon immer darauf aus, dem Hause Breton zu schaden", erwiderte Emes.
"Ja, aber er hat es nicht getan. Im Moor hatte er die Gelegenheit, ein Artefakt an sich zu bringen und im Gegenzug einen Platz in Tysandras Hofstaat zu erhalten, sollte sie - was wir verhindern werden - tatsächlich zum Thron des Reiches vordringen. Aber das ist nicht passiert. Es kam zum Kampf gegen ihn, aber er hat ebenso die Söldner Yphilias angegriffen", erklärte Hlifa.
"Wo wir gerade davon reden: Wo befindet sich Yphilia Crenn?", fragte Baelon dann.
Hlifa trank noch einen Schluck Wein. "In der Gewalt von Zhaerius. Warum, wissen wir nicht."
"Wer hat die Attacke auf Wilderberg in Brylods Namen angeführt? Jemand von Crenns Leuten?", fragte Emes.
"Soweit wir wissen, nein. Es war ein Heermeister von Brylod", erklärte Brioless.
Dann brach Roymar sein Schweigen. "Wenn wir jetzt Wilderberg angreifen, werden so viele weitere Malstromwesen aus unseren und deren Gefallenen entstehen, dass die Feste bald wieder unter Caldorvans Kontrolle ist - sollte er die Wesen anführen, und danach sieht es ja aus. So betrachtet brechen wir keinen Pakt, wenn wir marschieren. Aber letztlich werden wir nichts gewinnen."
Theornon und Hlifa stimmten ihm zu. Der Lethos schien nachzudenken. Emes hingegen antwortete sofort: "Wollt Ihr damit sagen, dass es am Ende gleich ist, welcher Eroberer die Festung hält?"
Roymar nickte leicht. "Ist es nicht so? Ich sehe keine großen Chancen. Es würde uns schwächen, wenn wir nun marschieren. Außerdem könnte Caldorvan es ausnutzen, dass wir Kräfte von der Nordgrenze her abziehen. Die Stadt wäre nackt, sie wäre Eisenwall ausgeliefert. Und dort hat Caldorvan Tausende Malstromwesen, Geschütze und weiß Liras welche Ungeheuer noch."
"Das setzt voraus, dass Caldorvan keinen Wert mehr auf den Pakt legt", gab der Lethos erneut zu bedenken. "Aber ich möchte dennoch anmerken, dass in dem Falle auch die Abtei zwar nicht gänzlich ungeschützt, aber durchaus ein Ziel sein würde. Lord Phaeron ließ mir eine Nachricht zukommen, nachdem er sich mit Lord Dagharn besprochen hatte: Er ist davon überzeugt, dass Caldorvan den Stab der Erschaffung an sich gebracht hat. Er muss auf der Insel der Finsternis gewesen sein. Fest steht, der Untote hat Pläne. Welche, kann man jetzt unmöglich voraussagen. Zwar bin ich dafür, dass wir handeln, aber es muss mit Weitsicht geschehen."
Brioless schlug die Faust auf den Tisch. "Hier geht es um den Sitz meiner Familie!"
"Ja. Und zu welchem Preis wollt Ihr jetzt in eine Schlacht ziehen? Gingen die Gefallenen in Lebans Hallen ein, dann würde ich sagen: Jeder Soldat weiß, was geschehen kann, was die Risiken im Kampf sind. Aber jeder Soldat wird nicht sterben, sondern sein wie die Malstromwesen, unter Caldorvans Befehl. Die des Reiches genau wie die Soldaten Brylods", sagte der Lethos. Und Brioless senkte schweigend das Haupt.
Baelon betrachtete ihn einen Augenblick. Die Familie Brioless, eine der ältesten Blutlinien Tectarias, hatte dem bretonischen Reich immer treu gedient, ohne Vorbehalte. Martus wäre der perfekte Kanzler gewesen, aber im Thronfolgekrieg hatte er klargestellt, dass er keinerlei Ansprüche stellte. Er wollte dem Reich an vorderster Front dienen, wie er es immer getan hatte. Und nun war er ein Mann ohne Besitz.
"Lord Brioless, wir alle verstehen Euch. Aber Ihr müsst ebenso erkennen, dass wir zwar gute Chancen haben, Wilderberg zu befreien. Aber wir werden sehr viele Männer an Caldorvan verlieren. Ich halte das für ein sehr großes Risiko. Das ist einer der Gründe, weshalb ich Lord Dagharn befohlen habe, weder Brylod noch Garrilton anzugreifen."
"Ich verstehe das, Mylord. Wirklich. Aber es ist schwer, tatenlos mitanzusehen, was hier geschieht."
"Ja, das ist es. Wir sind momentan verdammt, nichts zu tun, sondern abzuwarten", sagte ausgerechnet Theornon, der nicht unbedingt Konfrontationen scheute.
Emes nickte langsam. "Wir dürfen eines nicht vergessen: Einzig Brylod hat Wilderberg angegriffen. Nicht Garrilton, nicht Tysandra, nicht die Söldner Crenns. Nur Brylod."
"Heißt"?, fragte Baelon, auch wenn er sich die Antwort denken konnte.
"Es bedeutet, dass der Feind eine ganz bestimmte Strategie verfolgt hat. Er hat kalkuliert. Da Brylod mit Tysandra verbündet ist und da die Söldner der Witwe ebenso Tysandra folgen, hätten sie mit einer noch größeren Streitmacht vorgehen können, als sie die Malstromwesen in Wilderberg angegriffen haben. Das haben sie aber nicht. Stattdessen gingen sie das Risiko ein, zu scheitern. Dass sie jetzt die Festung halten, ist ein erfreulicher Nebeneffekt für Tysandra. Ich sage: Mit purer Absicht hat ausschließlich Brylod angegriffen. Um den Pakt zu brechen. Denn aus Caldorvans Sicht ist Brylod Teil des Reiches. Für uns ist er ein elender Verräter, aber nicht für ihn. Es ging um den Pakt."
Baelon sah durch die Runde. Allgemeine Zustimmung war zu erkennen. Wie sehr wünschte er sich nun seinen Vater herbei. Aber Allyen war immer noch in Midgard. Und was man von dort gehört hatte, war wenig ermutigend: Malstromwesen und die Krieger des Winterkönigs führten dort Krieg, und die Menschen waren dazwischen. Das Eis war zurück, und es schien die Winterkrieger zu führen. Aber Wünsche wurden selten wahr. Lariena war eine große Ausnahme. Er hatte ihr Herz erobert, und sie seines. Doch dafür war nun keine Zeit. So hatte er sie gebeten, ein Auge auf Alysare zu halten, bis er zurück wäre.
"Wir sind uns also einig? Lord Brioless?"
"Ja, das sind wir", antwortete er matt.
"Dann ist unser Ziel nicht Wilderberg, sondern der Eisenwall. Wollen wir sehen, ob sie uns einlassen, um mit ihrem neuen Herrn zu sprechen!"
Als sie schließlich die Grenze erreichten, erschienen gleich mehrere Malstromwesen. Einst waren sie vielleicht Milizionäre gewesen, Händler, Bauern oder Handwerker. Und nun waren sie die Erben der Finsternis, die dem dienten, der vor vielen Jahren Lerhon die Treue versagt hatte.
"Was willst du, Kanzler? Noch einmal den Pakt brechen, den du ausgehandelt hast?", fragte eines der Wesen und sah ihn mit leeren Augen an.
"Nein. Aber ich bin bereit, mir den Weg freizukämpfen, bis ich deinen Herrn gefunden habe!"
Noch mehr Wesen kamen. Sie zogen ihre Waffen. Bald standen sich zwei Armeen gegenüber.
Gwayan
Sie hatten einen weiteren Angriff überstanden. Es waren viele Krieger des Winterkönigs gewesen, aber nun hatten Gwayan, die Alte Krähe und das Elementar Beistand. Gemeinsam mit Wyreg und seinen Kriegern hatten sie die Angreifer in die Flucht geschlagen. Nachdem Wyreg die kleine Schar in der Höhle gewittert und aufgespürt hatte, waren sie durch die Klamm gezogen, um in einem Lager, das noch Gylwar vor langer Zeit errichtet hatte, Kraft zu schöpfen. Gwayan hatte Wyreg auf dem Weg den Grund ihrer langen und beschwerlichen Reise erklärt. Wyreg war der Sohn Gylwars, der seinerseits der Heermeister des rechtmäßigen Winterkönigs war. "Ormur ist der wahre König. Ihm dienen wir", hatte Wyreg erklärt. Dann war seinen Worten die Geschichte Ormurs gefolgt. Einst war er bloß einer von vielen Jägern gewesen, die durch das Schelf, das sie Jorgans Rücken nannten, wanderten. Wenn Wyreg von Ormur sprach, dann veränderte sich die tiefe brummende und kehlige Stimme in eine höhere Tonlage, die von Ehrfurcht zeugte. Die Männer im Heerlager schwiegen und lauschten der Geschichte, als würde sie ihnen das erste Mal erzählt werden, obwohl sie ihnen sicher mehr als nur bekannt war. Wyreg nahm noch etwas Fleisch vom heißen Stein, trank etwas und sprach leise weiter.
"Sein Name war nicht immer Ormur gewesen. Seine Eltern tauften den kräftigen Welpen Varungar. Schon früh lernte er die Kunst der lautlosen Jagd und des waffenlosen Kampfes. Als er zehn mal zehn Monde zählte, erschlug er einen Riesen im Zweikampf. Aus einem Rippenknochen fertigte er die Waffe, die er heute noch trägt. Nach dem Tod seines Vaters machten drei große Valkyn ihm den Platz des Anführers streitig, aber den ersten erschlug er, den zweiten warf er gegen einen Fels und den dritten besiegte er, aber er verschonte ihn und machte ihn zu seinem Heermeister - seitdem dient mein Vater ihm treu. Das Rudel wanderte viele Monde über Jorgans Rücken. Und in einer Nacht schien der Mond hell, und der Nebel kam. Beide vereinten sich und stiegen in das Herz unseres Königs. Sie schenkten ihm die Gabe, die Sprache der Menschen, die gerade selbst sprechen lernten, zu verstehen. Alle fühlten, dass Varungar zu Höherem bestimmt war. Mond und Nebel zu beschützen, das große Geheimnis zu beschützen, das ihr Mysterium nennt. Sie haben ihm gesagt, dass er ein Hirte wäre. Ein Hirte seines Volkes, ein Hirte vom großen Geheimnis und ein Hirte des Landes, in dem es seinen Anfang hat. Aber sie sagten auch, dass es Hirten in anderen Völkern geben würde, auch unter den Menschen. Und eines Tages würde man ihn rufen. Aber der Tag war in dieser Nacht noch fern. Im Morgengrauen hörte er eine weitere Stimme. Es war das Land, es war Jorgan, der zu ihm sprach und ihm alles beibrachte, was er wusste. Von seinen Geschwistern hat er gesprochen, von Marja, Tector und allen anderen. Und das Land krönte Varungar zum Winterkönig, der den Weißen Wolf und die Klirrende Krone behüten sollte - für den Kampf gegen das Faulwasser. Denn das Faulwasser, vom Schwarzstern in die Welt gebracht, es würde das Geheimnis vergiften, wenn es nicht aufgehalten werden würde. Als Jorgan fiel, erkannte Varungar, dass es der Schwarzstern war, der ihm seinen Lehrmeister genommen hatte. Und als der Winterkönig den Thron raubte, da sah Varungar das Eis, wie es seine Krone zerschmetterte. So zog Varungar mit seinem Gefolge durch das Land, auf der Suche nach den anderen Hirten vom großen Geheimnis. Sein Weg führte nach Blyr. Ob er dort einen Hirten gefunden hat, können wir nur erahnen. Aber seinen Namen trägt er heute nicht mehr. Heute nennen wir ihn Ormur, denn mit bloßer Hand hat er eine Seeschlange erwürgt, die ihn und die anderen töten wollte, auf dem langen Weg über das gefrorene Meer. Diese Schlange war eine alte Bestie aus den Kriegen zwischen den Elfen und Zwergen. Der Verstand der Bestie war von Dholon vergiftet worden. Dholon, der erste Elaya, den Ormur getötet hatte, denn er war vom rechten Pfad abgekommen und hat seinesgleichen geopfert für die Krähenfrau. Es war die erste Elayafrau, die Dholons Tod wollte, um ihr Volk und auch alle anderen zu schützen. Aber weil Mellwen in Gefahr war und es nicht über ihr großes Herz bringen konnte, Dholon selbst zu töten, hat Ormur es getan. Wir Valkyn halten wenig von den Haarlosen, aber diese eine Frau hat unserem König viel bedeutet. Also ehren wir sie, in dem wir einen der Monde nach ihr benannt haben. Heute nacht ist Mellwen-Mond", sagte Wyreg und zeigte auf den Vollmond.
Gwayan schwieg lange, um die Andacht der Krieger nicht zu unterbrechen. Als einige wieder aßen und tranken, ergriff er endlich das Wort. "Es ist möglich, dass Ormur einem der Hirten begegnet ist. Sein Name ist Erec. Ich kenne ihn."
"Erec? Den Namen haben wir schon einmal gehört", antwortete Wyreg.
Das Elementar hielt Wache, und die Alte Krähe saß auf seiner Schulter. "Tatsächlich?", fragte sie verwundert.
"Eine Frau hat diesen Namen ausgesprochen. Vor langer Zeit, als Jorgan schon gefallen war, als die schwarze Quelle im Süden entstand."
"Wo ist diese Frau jetzt? Ich muss sie sehen", sagte Gwayan. Vielleicht hatte sie noch mehr Antworten auf die tausend Fragen, die ihn und die anderen bewegten.
"Ihre Antworten sind immer mit einem Preis verbunden, Gwayan. Bist du dir also sicher?"
"Ja, das bin ich. Unsere Reise war beschwerlich, wir sind weit gekommen. Aber noch lang nicht am Ziel."
"Ich führe dich morgen zu ihr", sagte Wyreg und nickte.
In der Nacht sangen die Valkyn fremdartige Lieder. Gwayan konnte kein Wort verstehen, und doch wusste er, dass sie alle von Ormur handelten, vom Thron des Winters und Jorgan. Dass das Mysterium hier irgendwie seinen Ursprung hatte, wunderte ihn nicht. Alle Wege schienen hoch in den Norden zu führen. Er fragte sich nur, was sie wirklich dort erwarten mochte. Am nächsten Morgen brach er gemeinsam mit Wyreg auf. Vom Lager aus wanderten sie ein paar Stunden ostwärts, bis sie die Felswand erreichten. "Dies ist der Schwarze Wall", erklärte Wyreg und zeigte hinauf. Zwischen den glatten kahlen Gesteinen waren Adern aus Obsidian zu sehen. Der Berg war nicht schwarz, sondern eher grau. Dazwischen lagen schwarze Streifen aus Vulkanglas. Als hätte der Wall einen feurigen Berg mit bloßer Hand zum Erlöschen gebracht. "Siehst du den Aufstieg dort?"
"Ja", antwortete Gwayan, nachdem er dem Blick Wyregs gefolgt war und eine steile Treppe entdeckt hatte. "Dort ist sie?"
"Dort lebt sie. Ich werde hier unten auf dich warten. Sei vorsichtig. Sie ist sehr alt", sagte Wyreg und gab ihm etwas Wasser mit.
Gwayan stieg die glatten Stufen hinauf. Das Vulkanglas glänzte im fahlen Zwielicht, das sich über Jorgans Rücken wie ein Wintermantel ausbreitete. Es dauerte fast zwei Stunden, da fand er eine Öffnung im Wall. Dort endete auch die Treppe. Fackeln aus Eisen entzündeten sich wie von Geisterhand, und Gwayan fühlte die Wärme der Erde, die bis nach oben in die Höhle stieg. Es war ein natürliches Gewölbe, geformt von Lava und Feuer. Langsam folgte er dem Pfad. Obsidian war überall in den Wänden. Die Waffe gegen das Eis. Ob es sich an diesen Ort wagte?
Am Ende des Ganges breitete sich die Höhle aus, die in der Mitte durch einen scharlachroten Vorhang geteilt war. Er blieb stehen und wartete. Das Brodeln der Erde und ein dumpfes Grollen waren zu hören. Plötzlich spürte er, wie etwas an seinen Füßen krabbelte. Ein Salamander, hier in Eis und Schnee? Gerade wollte er die kleine Echse aufheben, da hörte er die Stimme einer Frau. Sie war tief und zischend, aber dennoch weiblich, verführerisch und abwartend. "Berühre ihn nicht - oder ich werfe dich den Wall hinab wie einen Stein."
"Wer spricht dort?", fragte Gwayan, als er einen Schatten hinter dem Vorhang sah. Der Schatten wurde etwas kleiner, als er sich näherte. Dann sah er ein gelbes Augenpaar, wie es sich aus der Dunkelheit des hinteren Gewölbes näherte. Er erkannte einen Kopf, schwarz, etwas lang gezogen. Darunter war ein dunkler Körper, an dessen Ende der Leib einer Schlange zu sehen war - alles dunkel, denn das Licht der Fackeln konnte nur einen Teil der Höhle erleuchten. "Komm nicht näher, Diener der Erde", zischte die Schlangenfrau.
Er rührte sich nicht. "Ich habe viele Fragen."
"Du hast nur eine einzige Frage."
Gwayan verstand nicht. "Wir sind einen weiten Weg gegangen. Der Thron des Winters... es ist Zeit, ihn und den Weißen Wolf zu befreien."
"Ist es das... ist es das...", zischte sie.
"Es ist meine Überzeugung. Wenn du nicht helfen kannst oder willst, dann werde ich einfach gehen", brummte Gwayan.
"Niemand kommt oder geht ohne meine Erlaubnis."
"Wer bist du?"
"Du hast nur eine einzige Frage", wiederholte sie.
"Du erlaubst mir nur eine?"
"Nein. Aber du hast nur eine einzige Frage", sagte sie wieder. Sie zischte, und schwarze Arme hielten sich am Vorhang fest.
"Aber es sind so viele Dinge, die wir noch nicht wissen."
"Nein. Nur eine einzige Frage bewegt dich. Eine, die du noch nicht kennst. Aber du willst die Antwort wissen."
Und ohne dass er sich irgendwann erinnert hätte, wie er auf die eine Frage gekommen war, stellte er sie doch: "Was ist das Ziel des Jägers aus der Kälte?"
"Alles hat seinen Preis", zischte die Schlangenfrau.
"Nenne ihn."
"Wie lautet der Name deiner Mutter?"
Gwayan wollte Mutter Erde nicht in Gefahr bringen. "Das darf ich nicht sagen."
"Dann verschwinde, und finde die Antwort anderswo!", krächzte sie. Der Vorhang zitterte.
"Nenne einen anderen Preis. Mutter Erde ist das, was ich beschütze."
Die Schlangenfrau lachte. Für einen Moment brannten die Flammen heller. Gwayan erkannte, dass der ganze Körper aus Obsidian war. Die Augen der Schlangenfrau waren in Wahrheit kleine Flammen, die in einem spitz zulaufenden Gesicht züngelten, das entfernt an eine Mischung aus einer Frau und einer Schlange erinnerte. "Dann bist du nicht gut darin, sie zu schützen. Denn sie ist auf dem Weg hierher. Sie hat beinahe den Reifwald erreicht."
"Was? Warum tut sie das? Was willst du ihr antun?", fragte er beunruhigt.
"Nichts. Aber ich möchte ihren Namen wissen, falls sie hierherkommen sollte. Sie und ich, wir sind alte... Freunde. Aber ihren Namen nannte sie nie. Da sie aber meinen kennt, möchte ich den Nachteil ausgleichen. Ein geringer Preis, findest du nicht?"
"Ich warne dich. Sollte ihr etwas geschehen, dann komme ich zurück. Und wir werden nicht reden. Ich werde dich mit aller Macht bekämpfen."
"Wir stehen auf derselben Seite. Es gibt keinen Grund für Hass oder Zorn", zischte sie, als die Flammen wieder kleiner wurden.
"Kelar. Ihr Name ist Kelar, wenn sie in menschlicher Gestalt reist."
Der Vorhang verschwand plötzlich. Die Gestalt kam näher. Gwayan nahm die Keule in die Hand. Er war bereit, sich zu verteidigen. Aber die Schlangenfrau, die ihn um mehr als einen Schritt überragte, beugte sich vor und flüsterte die Antwort auf die gestellte Frage in sein Ohr. "Jetzt... jetzt darfst du gehen."
"Hast du Antworten bekommen?", fragte Wyreg, nachdem Gwayan die Treppe hinabgestiegen war.
"Ja. Ich muss unseren steinernen Begleiter in den Reifwald schicken. Mutter Kelar ist auf dem Weg hierher. Sie darf nicht in die Hände des Winterkönigs gelangen."
Wyreg nickte. "Ein paar meiner Männer werden das Elementar begleiten. Auf welche Fragen hast du eine Antwort erhalten, Gwayan?"
"Der Jäger aus der Kälte... ich weiß, was er will. Wer er ist."
"Er war ein Bruder Jorgans, der Varathessa verraten hat. Das wissen wir bereits", sagte Wyreg.
Gwayan nickte. Als er ihm dann erklärte, wie die Antwort auf die Frage gelautet hatte, sah er denselben entsetzten Blick, den man wohl auch bei ihm selbst gesehen hätte. Es war mehr als das. Es war eine Erschütterung von allem, was alle bisher zu wissen glaubten und niemals hinterfragt hatten. Als sie wieder das Gylwar-Lager erreichten, war aus dem Zwielicht finsterste Nacht geworden. Es war, als würde Jorgans Rücken die Antwort ebenso gehört haben und bereits in die endlose Leere fallen wollen, die hinter dem Thron des Winters lauerte.
Der Mann hinter dem Vorhang
"Es ist ein Reiter eingetroffen, Herr", sagte Claudius Hilmon, der durch Lariena, Aethel und ihre Gefährten aus Tectaria gerettet worden war. Er hatte verschwiegen, dass er Jorgans Versteck kannte.
"Was hast du zu berichten?", fragte Jorgan den Boten.
"Der erste Golem ist in Sicherheit, Pytharas."
"Du sollst mich nicht so nennen. Dazu ist es zu früh."
Nachdem der Mann hinter dem Vorhang, der sich dem Tölpel Claudius gegenüber als Pytharas ausgegeben hatte, den Diener des Meeres wieder fortgeschickt hatte, sah er wieder in den Brunnen. Das Wasser wirbelte umher, und er sah wieder sein Spiegelbild. Der Mann hinter dem Vorhang verwandelte sich zurück. Der Diener im Brunnen lachte. "Du bist wirklich der wahre Meister."
"Ich habe viel zu tun. Ich bin vorbereitet."
"Was soll nun geschehen, mein Herr?"
"Sie glauben wirklich daran, Pytharas finden zu können. Dies wird nicht geschehen. Ich habe dafür Sorge getragen, dass Tysandra ihren Sohn befreien will. Außerdem habe ich Claudius genau dort getroffen, wo sie ihren Plan verfolgen will. Tysandra läuft in eine Falle. Hohenfels bewacht schon die Katakomben. Wir müssen gehen", antwortete der Mann hinter dem Vorhang, hob den Arm und legte eine Hand in das Wasser. Das Gesicht floss in seine Robe, und der Brunnen war leer. Dann nahm der Mann hinter dem Vorhang seinen Stab und stützte sich darauf, als er das Gewölbe durch eine Geheimtür verließ. Im Brunnen hatte er gesehen, dass Esthelion schon in Skjöldbur eingetroffen war. Zhaerius hatte Yphilia zur willigen Dienerin gemacht, und die Schatten aus der Anderwelt hatten eine neue Herrin. Er schmeckte Blut. Es war eigentlich kein Blut, es war Rache. Für alles, was geschehen war. Und seine Rache war Blut, und Blut war seine Rache. Scharlachrot war sie. Genau wie seine Kleidung, sein Stab, sein Haar und besonders seine Augen. Der Scharlachrote Tod erreichte die Oberfläche und blickte auf die Burg, die sich in der Ferne erhob. Einst hatte sein Banner dort geweht.Statistik:Verfasst von Meister — 26 Feb 2013, 21:11
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