Ein scharlachroter Tod
Epilog: Am Ende des Jahres
Der Hirte des Mysteriums und die Lampe
"Wenn vor Jahrhunderten in Tectaria ein kleiner Junge seine Stirn an einen Baum lehnt und ein Lied singt, sendet er Jahrhunderte später ein Signal durch das Mathricodon, das die Zendavesta erreicht - und sie befreien die Finsternis. Wenn derselbe Junge zum Mann reift und im Geheimen aus einer Quelle trinkt, schafft er später diejenigen, die ihn Jahrhunderte früher einen Prophet nennen, während er selbst glaubt zu ertrinken. Und wenn diejenigen einen Mann in Blau holen, den ein Mann mit vielen Augen verstoßen hat, vergiftet ein schwarzer Stern Baelon - Jahre später. Wenn der Mann in Schwarz durch ein Ecaloscop schaut, graben die von ihm geschaffenen Wesen einen Spiegel aus den Tiefen der Erde, die Jahre vorher eine Königin aus Gold verschluckt hat. Wenn der Mond weint, wächst ein König heran. Und wenn dieser König einen verstoßenen Riesen trifft, lernt er sein Wesen. Aber wenn der Nebel sich verirrt, erobert ein anderer König den Thron. Wenn ein Panther vierzig Tage in der Wüste liegt, wird er später hereinfallen auf die Wahrheit seines Gottes, der eine ganz andere Aufgabe für ihn hat. Und wenn diese Aufgabe ihn in das Land im Norden bringt, stirbt der Fischer aller Fischer, der Jahrzehnte zuvor eine Stimme der Gnade ist. Wenn Schatten an der Wand von einem einzigen Licht gespeist werden und wir gefesselt sind, nur die Schatten zu sehen, sind wir von allen anderen Dingen geblendet wie der Mensch, der die Tür durchschreitet, die seinen Namen trägt. Wenn wir alle miteinander verbunden sind, wo bin dann ich?", fragte sich Erec, während er die Lampe nach Blyrtindur trug.
Der Traumleser und die Wundernadel
Wie ein Ehrenmann hatte er Liurroccar zu ihren Leuten geleitet und freudig am Fest teilgenommen. Wenn sie mit ihm tanzte, hatte er nur Augen für sie. Wenn sie mit anderen tanzte oder sie am Feuer saßen und den Geschichten über die Welt hinter dem Schleier lauschten, wenn Feen sangen oder die Sylvaner mit den Kindern Verstecken spielten, hatte er doch immer nur Augen für sie. Ohne dass sie etwas tun musste, spürte er, wie sein Herz zusammenwuchs. Es war gebrochen worden, mit dem Abschied von Tysandra, dann zerrissen und zerfetzt, mit ihrem Tod. Aber so wie die Kraft des Traumlesens langsam wieder erwacht war, wachten nun seine Lebensgeister auf. Als würde der Schleier der Anderwelt in sein Herz steigen und mit schimmernden Händen eine etherische Naht durch die Fragmente fädeln, dass eine Wundernadel ihn und seine Seele reparieren konnte. Der Traumleser spürte Sicherheit und Zuversicht.
Er wusste nicht, dass kurze Zeit später ein Alptraum über ihn und alle anderen hereinbrechen würde. Ein Kataklysmus.
Der Mörder und der Weg
Hatte man ihm denn eine Wahl gelassen? Nach allem was er wusste, war der Tod des Heiligen Vaters Tectarias notwendig gewesen. Schon damals hatte man ihm beigebracht, was von Tectaria zu erwarten war. Nun hatte die Pestillenz große Teile des Landes verheert. Die Wesen des Malstroms waren das körperliche Bildnis der Strafe des Herrn, die über die Welt kam wie ein großer dunkler Schrecken. Das Erbe der Finsternis, die zu bekämpfen er vor langer Zeit sich geschworen hatte. Ja, es war richtig, ihn zu töten. Er mochte der Heilige Vater gewesen sein, aber in seiner scharlachroten Robe war er der Tod. Der Fischer aller Fischer war er nicht - jeder andere Versuch, die Skjöldburer davon zu überzeugen, wäre gescheitert. Sie waren überzeugt. Aber nun hätten sie keine andere Wahl, als einen anderen zu suchen, um den Geisterwal vor Blyrtindur zu zähmen - mit dem er, der Mörder, vor einer Weile gesprochen hatte.
Das Gift zu besorgen, war schwierig gewesen. Ein genauer Zeitplan, der mit seiner eigentlichen Mission genau abgestimmt werden musste, hatte ihn an den Ort gebracht. Seine Begleiter hatten Stillschweigen bewahren müssen: Aber da er ihnen nicht trauen konnte, waren sie doch einfache Seelen, musste er sie am Ende opfern. Als der Kreis der Zendavesta über den Wolken Midgards in einem atemlosen Grollen verging, hatte er die Malstromwesen in das kleine Lager geführt, dass sie seine Männer töteten und verwandelten. Wie er dann die todbringende Pflanze fand, da sah er noch mehr. Etwas, wovon er nicht berichten konnte, so sehr er es auch wollte. Aber wie es schien, war der Winterkönig erwacht und trieb seine Macht gen Süden. "Gnade uns der Herr, wenn er nicht gestoppt wird. Es wäre das Ende des Planes. Das Ende des Königs des Verfluchten Landes und seiner Königin."
Nun sah er, wie die Skjöldburer die Ostfold betraten, wo bereits Templer und Konquistadoren an Land gegangen waren - bereit, den Mörder und seine Verbündeten zu vernichten. Das Bündnis mit dem Heiligen Vater stand und fiel mit ihm, als er sein Leben aushauchte. Der Mörder empfand Mitleid. Aber es war der einzige Weg, die Welt zu retten.
Der Mann in Schwarz und der verlorene Ringkampf
Er schaute in das Ecaloscop, betrachtete den Leuchtturm, wie sein ewiges Licht den Schiffen eine sichere Fahrt wünschte. So sicher, wie sie angesichts dessen, was er durch seine Tat am Kreis der Zendavesta entfesselt hatte, nur sein konnten. Die Kinder des Hrabanus, eigentlich doch seine Kinder, beherrschten die Meere, die Flüsse und Seen, die Länder. Ricardus Schwarzsterns Rache an Tectaria war nun beinahe vollkommen, und dann würde der nächste Schritt folgen. Bald würde der Schwarzstern Zada in den endlosen Weiten im Tal des Feuers gefunden haben. Sein Lied würde auch sie bezwingen. Aus ihr einen wundersamen Schmetterling zaubern, dessen Kraft die Grundfesten der Elemente erschüttern würde!
Der Mann in Schwarz hatte die Suche abgebrochen und nur den Schwarzstern ziehen lassen, als er eine Umwälzung gefühlt hatte. Etwas, das die Welt erschüttern würde - etwas, das er nicht vorhergesehen hatte, nicht eingeplant, nicht erwartet und erst recht nicht erhofft. Dieses kataklystische Ereignis war mehr als 'seine Kinder' vermochten, war doch sein Ziel nicht Zerstörung, sondern die Erschaffung einer neuen friedlichen und gereinigten Welt. Keine Feuer mehr für die, welche die Ströme, die Zauberei, die Elemente und Sterne nutzten. Dazu musste der nächste Schritt getan werden: Die Verheerung des Mysteriums. Der einzige Grund für all das Leid, das er den Menschen zufügen musste. Sie erkannten das Grauen nicht, das es ihnen bereitete. Hrabanus und Erec, sie hatten es gesehen, in ihrer einsamen Höhle. Warum nicht die, die ihnen einst gefolgt waren? Hatten sie nicht die Schatten an der Wand gedeutet? So wie es ihnen verheißen worden war? Darum musste er, der Mann in Schwarz, der Schwarzstern, handeln. Aber das konnte er nicht, ohne jene zu vernichten, die ihm die größte Gefahr waren: die Krieger des Winterkönigs. Was hatte sie geweckt? Der Plan war gewesen, das elfte Lied zu singen, um den Winterkönig niemals erwachen zu lassen. Aber die verfluchten Krähen des Alten aus der Vestfold waren lauter, stärker, gewaltiger gewesen! Der Mann in Schwarz liebte Ricardus Schwarzstern - niemals würde er ihn verraten, mit dem er das Lied gesungen hatte, um den Schwarzstern zu verwandeln in einen prächtigen Schmetterling.
Aber als der Mann in Schwarz die Insel mit dem Leuchtturm betrat, die Söldner Crenns, den Wolf Varcus und die Krieger des Winterkönigs sah, als er in Aethels Rücken stand und gerade einen Fluch über alle sprechen wollte, fiel er in Ohnmacht. Die Quelle rang ihn nieder.
Zhaerius schlug die Augen auf. Er liebte die Menschen und das Leben. Und er sah, dass der Traumaltar gefunden war.
Der Mann mit den vielen Augen und die Liebe
Sie waren gekommen. Der Mann mit den vielen Augen hatte sie gewarnt. Fast schon hätte er darum gefleht, dass sie ihn nicht stören würden, bei der Erfüllung seines Schicksals. War er nicht ohnehin schon des Todes? Die Krankheit zehrte. So wie das Feuer, das Emes ihm beigebracht hatte, sein Gesicht zerfressen hatte, verspeiste die Krankheit ihn langsam von innen. Als er vor langer Zeit seinen Medicus gefragt hatte, wie und wo er sich infiziert hätte, da war nur Ratlosigkeit in den Augen des alten Mannes gewesen. Ratlosigkeit - und diese in den alten Augen des Mannes, der so viel erreicht hatte: Hieronymusz Klammbergs Genius hatte die Gezeiten überdauert, die Invasion der Dunklen Alten vorhergesehen und begleitet, die Finsterschlucht, ihren Anfang und ihr Ende, gesehen. Doch bei einer solch klaren Sache wie einer Sieche kannte er keine Antwort. Vor einigen Jahren hätte der Mann mit den vielen Augen ihn einfach getötet. Aber als er das hohe Alter Klammbergs begriffen hatte, war da kein Drang mehr gewesen, ihm die letzten Jahre zu nehmen. So hatte er ihn einfach verstoßen.
Die Monate darauf hatte der Mann mit den vielen Augen mit seinem Schicksal gerungen: Er war der wahre Erbe. Die Götter mussten ihn erwählt haben. Und doch haben sie ihm diese Krankheit gegeben, die sein Leben beenden würde, bevor er den Sieg davongetragen hätte. Es war nicht gerecht. Lang hatte er sich gefragt, ob er seiner Tochter Tysandra die Wahrheit sagen sollte - wer er war, wer sie war, und dass ihr leiblicher Vater einen qualvollen Tod erleiden würde; dass er die Flüsse und Meere vergiften würde, in ihrem Namen, nur für sie. Dass er sie liebte. Die Liebe hatte keine große Bedeutung in den Plänen des Mannes mit den vielen Augen, aber seine Tochter durchaus. Warum die Zendavesta ihm damals die Chance gegeben hatten, so weit durch die Gezeiten zu wandern, so weit in die Tiefen der Vergangenheit, es war ihm damals nicht aufgegangen, auch nicht, als er zurückgekehrt war. Vielleicht war es das einzige, das er selbst je aus Liebe getan hatte.
Heute kannte er den Grund. Dafür hatte er alles getan. Die Folterungen, die Morde, Lerhons Tod. Und als Nour ihm das einzige genommen hatte, das vielleicht etwas wie Liebe in ihm und aus ihm gewesen war, begann nur noch der Zorn zu herrschen. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr. Er verfluchte sich, sie mit Regentin Irinia verschwendet zu haben und nie zu erfahren, wer ihr dabei geholfen hatte, Baelon auf seinen Rat hin zu vergiften - sie hatte beharrlich geschwiegen. Er hatte Zeit damit verschwendet, Velas zu beobachten - dessen Bild er in Samariq gesehen hatte - und ihn eines Tages zu töten. Zeit verschwendet, mit den Hütern Katz und Maus zu spielen.
Nun aber sah er klar, als er enthauptet wurde. Er sah die Höhle. Die Schatten. So wie einst die, die er auch beobachtet hatte, deren Leben er verfolgte: Erec und Hrabanus.
Dann verließen die vielen Augen den Mann - er war nur noch Szarak. Aufgespießt und fahl und leer. Selbst die liebgewonnenen Schmerzen verschwanden und ließen ihn im Stich.
Ein Brief
'Werte Majestät, Königin Theresia,
Ihr werdet mich nicht kennen. Das heißt, Ihr seid mir niemals bewusst persönlich begegnet. Ich hingegen kenne Euch. Wir sind uns dreimal begegnet. Zum ersten Mal, als man Euch in den Tiefenwald gebracht hat. Ich war der junge Nordmärker, der den Geleitzug gemeinsam mit anderen der Äxte der Nordmark begleitet hat. Damals seid Ihr so jung und unerfahren gewesen, liebste Majestät. Beinahe wäre ich schwach geworden und hätte meinen gerechten Pfad verlassen. Das zweite Mal sahen wir uns bei Eurer Krönung. Ich war in der Kirche. Der Kanzler nannte Euch die unangefochtene Herrscherin. Beinahe wäre ich aufgesprungen und hätte widersprochen. Doch ich hätte meinen gerechten Pfad verlassen. Beide Male habt Ihr mich gesehen, vermute ich. Zumindest seid Ihr zu diesen Zeiten noch nicht die Königin gewesen, die Ihr heute seid, sodass die Möglichkeit besteht. Das dritte Mal jedoch sah ich Euch, aber Ihr mich nicht. Es war, nachdem Sir Allyen nach Midgard geschickt wurde. Ich sah, wie mein Freund Emes Euch in die Kanzlei begleitet hat. Sicher, um nach dem armen Baelon zu sehen, nicht wahr?
Nun, wie auch immer: Wir werden uns kein viertes Mal sehen, denn ich bin ein todgeweihter Mann. Nun wäre es allzu leicht, mir eine Sentimentalität zu unterstellen, wenn ich Euch eine gesegnete Zeit auf dem Thron wünsche und die Weisheit, Recht von Unrecht zu unterscheiden, dem Guten und dem Gerechten zu dienen, mit einem langen Leben voller Erfolg. Das wünsche ich Euch tatsächlich. Aber nicht aus den genannten Gründen oder so, wie Ihr es erwarten mögt. Ich meine es im Folgenden so:
Gesegnet sei Eure Zeit, denn sie wird ohnehin sehr kurz sein. Weisheit werdet Ihr benötigen, wenn Euch das Recht entzogen wird, Bretonia zu regieren. Unrecht wird sterben, wenn dies geschieht - ich nehme Euch also Arbeit ab, Majestät. Erfolg wird Euch nicht beschieden sein, so sehr ich ihn Euch persönlich wünsche - denn auch wenn ich Euer Leben nicht nehmen kann, so werde ich es doch zerstören. Mein Tod wird genau das alles bedeuten, Majestät. Ein Sturm wird kommen. Nicht größer als der Malstrom, nicht gewaltiger als das, was aus dem Schelf zu uns kommt, nein. Aber für Euch und die, die Euch so bedingungslos folgen und lieben, wird es das Ende der Welt sein.
Es grüßt:
Szarak Crenn.'
Das Lied
Es war einmal ein kleines Ei,
das lag auf einem grünen Blatt.
Eine Raupe klein
wohnte darin fein
und die wollte ganz schnell raus
Es wurde ihr darin zu eng.
Sie stieß sich aus dem Ei geschwind.
Und sie krabbelt schnell.
Und sie krabbelt flink.
Denn der Hunger war sehr groß.
Sie begann mit einem grünen Blatt,
doch das macht sie noch lang nicht satt.
Und sie krabbelt schnell.
Und sie krabbelt flink.
Denn der Hunger war sehr groß.
Am Montag fraß sie einen Apfel,
Dienstag dann die Birnen.
Mittwoch Pflaumentag,
oh, wie sie das mag.
Doch der Hunger ging nicht weg.
Die Erdberr'n kamen Donnerstag,
Orangen dann am Freitag.
Samstag Kuchentag
Sonntag war sie satt.
Und der Hunger war gestillt.
Da baute sie sich schnell ein Haus,
Kokon kannst du auch sagen.
Zwei Wochen lang
schlief sie tief und fest
in diesem Kokon.
Doch was war da geschehen?
Heraus kam keine Raupe mehr.
Ein Schmetterling!
Ein Schmetterling!
Ein Schmetterling flog raus.
Der Hirte des Mysteriums und die Lampe
"Wenn vor Jahrhunderten in Tectaria ein kleiner Junge seine Stirn an einen Baum lehnt und ein Lied singt, sendet er Jahrhunderte später ein Signal durch das Mathricodon, das die Zendavesta erreicht - und sie befreien die Finsternis. Wenn derselbe Junge zum Mann reift und im Geheimen aus einer Quelle trinkt, schafft er später diejenigen, die ihn Jahrhunderte früher einen Prophet nennen, während er selbst glaubt zu ertrinken. Und wenn diejenigen einen Mann in Blau holen, den ein Mann mit vielen Augen verstoßen hat, vergiftet ein schwarzer Stern Baelon - Jahre später. Wenn der Mann in Schwarz durch ein Ecaloscop schaut, graben die von ihm geschaffenen Wesen einen Spiegel aus den Tiefen der Erde, die Jahre vorher eine Königin aus Gold verschluckt hat. Wenn der Mond weint, wächst ein König heran. Und wenn dieser König einen verstoßenen Riesen trifft, lernt er sein Wesen. Aber wenn der Nebel sich verirrt, erobert ein anderer König den Thron. Wenn ein Panther vierzig Tage in der Wüste liegt, wird er später hereinfallen auf die Wahrheit seines Gottes, der eine ganz andere Aufgabe für ihn hat. Und wenn diese Aufgabe ihn in das Land im Norden bringt, stirbt der Fischer aller Fischer, der Jahrzehnte zuvor eine Stimme der Gnade ist. Wenn Schatten an der Wand von einem einzigen Licht gespeist werden und wir gefesselt sind, nur die Schatten zu sehen, sind wir von allen anderen Dingen geblendet wie der Mensch, der die Tür durchschreitet, die seinen Namen trägt. Wenn wir alle miteinander verbunden sind, wo bin dann ich?", fragte sich Erec, während er die Lampe nach Blyrtindur trug.
Der Traumleser und die Wundernadel
Wie ein Ehrenmann hatte er Liurroccar zu ihren Leuten geleitet und freudig am Fest teilgenommen. Wenn sie mit ihm tanzte, hatte er nur Augen für sie. Wenn sie mit anderen tanzte oder sie am Feuer saßen und den Geschichten über die Welt hinter dem Schleier lauschten, wenn Feen sangen oder die Sylvaner mit den Kindern Verstecken spielten, hatte er doch immer nur Augen für sie. Ohne dass sie etwas tun musste, spürte er, wie sein Herz zusammenwuchs. Es war gebrochen worden, mit dem Abschied von Tysandra, dann zerrissen und zerfetzt, mit ihrem Tod. Aber so wie die Kraft des Traumlesens langsam wieder erwacht war, wachten nun seine Lebensgeister auf. Als würde der Schleier der Anderwelt in sein Herz steigen und mit schimmernden Händen eine etherische Naht durch die Fragmente fädeln, dass eine Wundernadel ihn und seine Seele reparieren konnte. Der Traumleser spürte Sicherheit und Zuversicht.
Er wusste nicht, dass kurze Zeit später ein Alptraum über ihn und alle anderen hereinbrechen würde. Ein Kataklysmus.
Der Mörder und der Weg
Hatte man ihm denn eine Wahl gelassen? Nach allem was er wusste, war der Tod des Heiligen Vaters Tectarias notwendig gewesen. Schon damals hatte man ihm beigebracht, was von Tectaria zu erwarten war. Nun hatte die Pestillenz große Teile des Landes verheert. Die Wesen des Malstroms waren das körperliche Bildnis der Strafe des Herrn, die über die Welt kam wie ein großer dunkler Schrecken. Das Erbe der Finsternis, die zu bekämpfen er vor langer Zeit sich geschworen hatte. Ja, es war richtig, ihn zu töten. Er mochte der Heilige Vater gewesen sein, aber in seiner scharlachroten Robe war er der Tod. Der Fischer aller Fischer war er nicht - jeder andere Versuch, die Skjöldburer davon zu überzeugen, wäre gescheitert. Sie waren überzeugt. Aber nun hätten sie keine andere Wahl, als einen anderen zu suchen, um den Geisterwal vor Blyrtindur zu zähmen - mit dem er, der Mörder, vor einer Weile gesprochen hatte.
Das Gift zu besorgen, war schwierig gewesen. Ein genauer Zeitplan, der mit seiner eigentlichen Mission genau abgestimmt werden musste, hatte ihn an den Ort gebracht. Seine Begleiter hatten Stillschweigen bewahren müssen: Aber da er ihnen nicht trauen konnte, waren sie doch einfache Seelen, musste er sie am Ende opfern. Als der Kreis der Zendavesta über den Wolken Midgards in einem atemlosen Grollen verging, hatte er die Malstromwesen in das kleine Lager geführt, dass sie seine Männer töteten und verwandelten. Wie er dann die todbringende Pflanze fand, da sah er noch mehr. Etwas, wovon er nicht berichten konnte, so sehr er es auch wollte. Aber wie es schien, war der Winterkönig erwacht und trieb seine Macht gen Süden. "Gnade uns der Herr, wenn er nicht gestoppt wird. Es wäre das Ende des Planes. Das Ende des Königs des Verfluchten Landes und seiner Königin."
Nun sah er, wie die Skjöldburer die Ostfold betraten, wo bereits Templer und Konquistadoren an Land gegangen waren - bereit, den Mörder und seine Verbündeten zu vernichten. Das Bündnis mit dem Heiligen Vater stand und fiel mit ihm, als er sein Leben aushauchte. Der Mörder empfand Mitleid. Aber es war der einzige Weg, die Welt zu retten.
Der Mann in Schwarz und der verlorene Ringkampf
Er schaute in das Ecaloscop, betrachtete den Leuchtturm, wie sein ewiges Licht den Schiffen eine sichere Fahrt wünschte. So sicher, wie sie angesichts dessen, was er durch seine Tat am Kreis der Zendavesta entfesselt hatte, nur sein konnten. Die Kinder des Hrabanus, eigentlich doch seine Kinder, beherrschten die Meere, die Flüsse und Seen, die Länder. Ricardus Schwarzsterns Rache an Tectaria war nun beinahe vollkommen, und dann würde der nächste Schritt folgen. Bald würde der Schwarzstern Zada in den endlosen Weiten im Tal des Feuers gefunden haben. Sein Lied würde auch sie bezwingen. Aus ihr einen wundersamen Schmetterling zaubern, dessen Kraft die Grundfesten der Elemente erschüttern würde!
Der Mann in Schwarz hatte die Suche abgebrochen und nur den Schwarzstern ziehen lassen, als er eine Umwälzung gefühlt hatte. Etwas, das die Welt erschüttern würde - etwas, das er nicht vorhergesehen hatte, nicht eingeplant, nicht erwartet und erst recht nicht erhofft. Dieses kataklystische Ereignis war mehr als 'seine Kinder' vermochten, war doch sein Ziel nicht Zerstörung, sondern die Erschaffung einer neuen friedlichen und gereinigten Welt. Keine Feuer mehr für die, welche die Ströme, die Zauberei, die Elemente und Sterne nutzten. Dazu musste der nächste Schritt getan werden: Die Verheerung des Mysteriums. Der einzige Grund für all das Leid, das er den Menschen zufügen musste. Sie erkannten das Grauen nicht, das es ihnen bereitete. Hrabanus und Erec, sie hatten es gesehen, in ihrer einsamen Höhle. Warum nicht die, die ihnen einst gefolgt waren? Hatten sie nicht die Schatten an der Wand gedeutet? So wie es ihnen verheißen worden war? Darum musste er, der Mann in Schwarz, der Schwarzstern, handeln. Aber das konnte er nicht, ohne jene zu vernichten, die ihm die größte Gefahr waren: die Krieger des Winterkönigs. Was hatte sie geweckt? Der Plan war gewesen, das elfte Lied zu singen, um den Winterkönig niemals erwachen zu lassen. Aber die verfluchten Krähen des Alten aus der Vestfold waren lauter, stärker, gewaltiger gewesen! Der Mann in Schwarz liebte Ricardus Schwarzstern - niemals würde er ihn verraten, mit dem er das Lied gesungen hatte, um den Schwarzstern zu verwandeln in einen prächtigen Schmetterling.
Aber als der Mann in Schwarz die Insel mit dem Leuchtturm betrat, die Söldner Crenns, den Wolf Varcus und die Krieger des Winterkönigs sah, als er in Aethels Rücken stand und gerade einen Fluch über alle sprechen wollte, fiel er in Ohnmacht. Die Quelle rang ihn nieder.
Zhaerius schlug die Augen auf. Er liebte die Menschen und das Leben. Und er sah, dass der Traumaltar gefunden war.
Der Mann mit den vielen Augen und die Liebe
Sie waren gekommen. Der Mann mit den vielen Augen hatte sie gewarnt. Fast schon hätte er darum gefleht, dass sie ihn nicht stören würden, bei der Erfüllung seines Schicksals. War er nicht ohnehin schon des Todes? Die Krankheit zehrte. So wie das Feuer, das Emes ihm beigebracht hatte, sein Gesicht zerfressen hatte, verspeiste die Krankheit ihn langsam von innen. Als er vor langer Zeit seinen Medicus gefragt hatte, wie und wo er sich infiziert hätte, da war nur Ratlosigkeit in den Augen des alten Mannes gewesen. Ratlosigkeit - und diese in den alten Augen des Mannes, der so viel erreicht hatte: Hieronymusz Klammbergs Genius hatte die Gezeiten überdauert, die Invasion der Dunklen Alten vorhergesehen und begleitet, die Finsterschlucht, ihren Anfang und ihr Ende, gesehen. Doch bei einer solch klaren Sache wie einer Sieche kannte er keine Antwort. Vor einigen Jahren hätte der Mann mit den vielen Augen ihn einfach getötet. Aber als er das hohe Alter Klammbergs begriffen hatte, war da kein Drang mehr gewesen, ihm die letzten Jahre zu nehmen. So hatte er ihn einfach verstoßen.
Die Monate darauf hatte der Mann mit den vielen Augen mit seinem Schicksal gerungen: Er war der wahre Erbe. Die Götter mussten ihn erwählt haben. Und doch haben sie ihm diese Krankheit gegeben, die sein Leben beenden würde, bevor er den Sieg davongetragen hätte. Es war nicht gerecht. Lang hatte er sich gefragt, ob er seiner Tochter Tysandra die Wahrheit sagen sollte - wer er war, wer sie war, und dass ihr leiblicher Vater einen qualvollen Tod erleiden würde; dass er die Flüsse und Meere vergiften würde, in ihrem Namen, nur für sie. Dass er sie liebte. Die Liebe hatte keine große Bedeutung in den Plänen des Mannes mit den vielen Augen, aber seine Tochter durchaus. Warum die Zendavesta ihm damals die Chance gegeben hatten, so weit durch die Gezeiten zu wandern, so weit in die Tiefen der Vergangenheit, es war ihm damals nicht aufgegangen, auch nicht, als er zurückgekehrt war. Vielleicht war es das einzige, das er selbst je aus Liebe getan hatte.
Heute kannte er den Grund. Dafür hatte er alles getan. Die Folterungen, die Morde, Lerhons Tod. Und als Nour ihm das einzige genommen hatte, das vielleicht etwas wie Liebe in ihm und aus ihm gewesen war, begann nur noch der Zorn zu herrschen. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr. Er verfluchte sich, sie mit Regentin Irinia verschwendet zu haben und nie zu erfahren, wer ihr dabei geholfen hatte, Baelon auf seinen Rat hin zu vergiften - sie hatte beharrlich geschwiegen. Er hatte Zeit damit verschwendet, Velas zu beobachten - dessen Bild er in Samariq gesehen hatte - und ihn eines Tages zu töten. Zeit verschwendet, mit den Hütern Katz und Maus zu spielen.
Nun aber sah er klar, als er enthauptet wurde. Er sah die Höhle. Die Schatten. So wie einst die, die er auch beobachtet hatte, deren Leben er verfolgte: Erec und Hrabanus.
Dann verließen die vielen Augen den Mann - er war nur noch Szarak. Aufgespießt und fahl und leer. Selbst die liebgewonnenen Schmerzen verschwanden und ließen ihn im Stich.
Ein Brief
'Werte Majestät, Königin Theresia,
Ihr werdet mich nicht kennen. Das heißt, Ihr seid mir niemals bewusst persönlich begegnet. Ich hingegen kenne Euch. Wir sind uns dreimal begegnet. Zum ersten Mal, als man Euch in den Tiefenwald gebracht hat. Ich war der junge Nordmärker, der den Geleitzug gemeinsam mit anderen der Äxte der Nordmark begleitet hat. Damals seid Ihr so jung und unerfahren gewesen, liebste Majestät. Beinahe wäre ich schwach geworden und hätte meinen gerechten Pfad verlassen. Das zweite Mal sahen wir uns bei Eurer Krönung. Ich war in der Kirche. Der Kanzler nannte Euch die unangefochtene Herrscherin. Beinahe wäre ich aufgesprungen und hätte widersprochen. Doch ich hätte meinen gerechten Pfad verlassen. Beide Male habt Ihr mich gesehen, vermute ich. Zumindest seid Ihr zu diesen Zeiten noch nicht die Königin gewesen, die Ihr heute seid, sodass die Möglichkeit besteht. Das dritte Mal jedoch sah ich Euch, aber Ihr mich nicht. Es war, nachdem Sir Allyen nach Midgard geschickt wurde. Ich sah, wie mein Freund Emes Euch in die Kanzlei begleitet hat. Sicher, um nach dem armen Baelon zu sehen, nicht wahr?
Nun, wie auch immer: Wir werden uns kein viertes Mal sehen, denn ich bin ein todgeweihter Mann. Nun wäre es allzu leicht, mir eine Sentimentalität zu unterstellen, wenn ich Euch eine gesegnete Zeit auf dem Thron wünsche und die Weisheit, Recht von Unrecht zu unterscheiden, dem Guten und dem Gerechten zu dienen, mit einem langen Leben voller Erfolg. Das wünsche ich Euch tatsächlich. Aber nicht aus den genannten Gründen oder so, wie Ihr es erwarten mögt. Ich meine es im Folgenden so:
Gesegnet sei Eure Zeit, denn sie wird ohnehin sehr kurz sein. Weisheit werdet Ihr benötigen, wenn Euch das Recht entzogen wird, Bretonia zu regieren. Unrecht wird sterben, wenn dies geschieht - ich nehme Euch also Arbeit ab, Majestät. Erfolg wird Euch nicht beschieden sein, so sehr ich ihn Euch persönlich wünsche - denn auch wenn ich Euer Leben nicht nehmen kann, so werde ich es doch zerstören. Mein Tod wird genau das alles bedeuten, Majestät. Ein Sturm wird kommen. Nicht größer als der Malstrom, nicht gewaltiger als das, was aus dem Schelf zu uns kommt, nein. Aber für Euch und die, die Euch so bedingungslos folgen und lieben, wird es das Ende der Welt sein.
Es grüßt:
Szarak Crenn.'
Das Lied
Es war einmal ein kleines Ei,
das lag auf einem grünen Blatt.
Eine Raupe klein
wohnte darin fein
und die wollte ganz schnell raus
Es wurde ihr darin zu eng.
Sie stieß sich aus dem Ei geschwind.
Und sie krabbelt schnell.
Und sie krabbelt flink.
Denn der Hunger war sehr groß.
Sie begann mit einem grünen Blatt,
doch das macht sie noch lang nicht satt.
Und sie krabbelt schnell.
Und sie krabbelt flink.
Denn der Hunger war sehr groß.
Am Montag fraß sie einen Apfel,
Dienstag dann die Birnen.
Mittwoch Pflaumentag,
oh, wie sie das mag.
Doch der Hunger ging nicht weg.
Die Erdberr'n kamen Donnerstag,
Orangen dann am Freitag.
Samstag Kuchentag
Sonntag war sie satt.
Und der Hunger war gestillt.
Da baute sie sich schnell ein Haus,
Kokon kannst du auch sagen.
Zwei Wochen lang
schlief sie tief und fest
in diesem Kokon.
Doch was war da geschehen?
Heraus kam keine Raupe mehr.
Ein Schmetterling!
Ein Schmetterling!
Ein Schmetterling flog raus.
Alea iacta est.
Die Würfel sind gefallen!
Die Würfel sind gefallen!
Re: Ein scharlachroter Tod
Kapitel Sechs: Corvus Corone
Prolog
Der Ritter mit der eisernen Hand
Alle würden ihn suchen und seinen Namen verfluchen. Er war nun auf der Flucht. Doch ein einfaches Abwarten oder sich zu fügen in die Fesseln, es käme für den Ritter mit der eisernen Hand niemals in Frage. Er sah Dakhil und Aurelion, wie sie umringt wurden von Templern und Konquistadoren. Einen Augenblick wartete er noch, bereit, einzugreifen - er wollte nicht, dass andere für den Tod des Heiligen Vaters bezahlen mussten. Als er sah, wie sie in die Taverne gingen, musste es genügen. Im Schutze der Nacht fuhr er zurück ans Ufer, sattelte ein anderes Pferd und folgte den Spuren. Wind und Wetter hatten ihr Übriges getan, um seinen Weg zu erschweren.
Aber dann, nach vielen Stunden, fand er, was er gesucht hatte. Und während er die Beweise sammelte, fragte er sich, ob auch Baelon ihn verdammen würde.
Die Fürstin der Krähen
Es war nicht ihre Stimme. Etwas war anders. Als die Fürstin der Krähen den Fluten entstieg und sich orientierte, sah sie brennende Leichen. Sie spürte den Tod ihres Erschaffers. Nicht Trauer oder Mitleid überkam sie; es waren Zufriedenheit und Erleichterung - man hatte Arbeit für sie erledigt. Sie konnte sich an alles erinnern: So dachte sie an die unbeschwerten Stunden im Garten, an ihren lieben Velas und vor allem an ihren Tod. Während die Fürstin der Krähen die Hüter und ihre Begleiter betrachtete, spürte sie wie Nours Klauen ihren Leib zerfetzten. Das Blut schmeckte sie wieder, auch sah sie den Mond, der ihren Tod begleitet hatte. Sie fühlte keine Rache, keinen Zorn. Nour hatte getan, was notwendig gewesen war. Dass auch sie nur ein Werkzeug war, wie alle anderen, würde ihr schon bald aufgehen. Das, was die Fürstin antrieb, war die Erfüllung des ihr verheißenen Schicksals: Der Thron Ghundras, die Herrschaft über die Menschen. Endlich, nach so langer Zeit, würden die Krähen regieren. Das elfte Lied, das ihr verheißen worden war, hatte sie vor einer Ewigkeit abgelehnt - die Zeit war noch nicht reif gewesen. Doch nun, da der Winterkönig erwacht war und die Wesen aus dem Malstrom unter dem Banner des Schwarzsterns marschierten, war der Moment der Wahrheit gekommen.
"Können wir dann?", fragte die Fürstin der Krähen.
"Ja", antwortete der Dybbuk.
Dann brach Sysanna zusammen. Die Krähen würden schon bald von den Schlachtfeldern speisen. Zufrieden wollte sie gerade aufbrechen, um ihren geliebten Velas zu begrüßen, als sie zwei Dinge spürte: Ein Kind, ihr Kind, in der Abtei. Und einen Dybbuk, in genau diesem Kind.
Der verstoßene König
"Crenn ist tot", brummte der verstoßene König, "dank der Hüter und ihrer Gefährten."
Sein Gefolge hob die Waffen und knurrte und bellte in die Nacht. "Du wirkst dennoch nicht zufrieden", sagte dann einer der Valkyn.
"Ein Stolperstein ist fort, ein anderer ist gekommen. Wir stehen nicht nur gegen den Winterkönig, meine Krieger. Der Schwarze Stern ist immer noch da, der Geist der Elemente. Wir nennen ihn den Nachtfalter."
"Auch er wird fallen!", rief ein junger unerfahrener Krieger.
Der verstoßene König packte dessen Nacken und hielt ihn in die Höhe. "So, glaubst du das? Und weißt du auch wie? Und kannst du mir sagen, wie die Krähe zu besiegen ist? Das elfte Lied hat sie gelockt. Bete, dass nicht der Körperlose bei ihr ist!"
Stille trat ein im Rudel der Verstoßenen. Der König versammelte die ältesten Krieger um sich: "Ihr Tapferen, ihr Ältesten! Die Kräfte, die gegen Mond und Nebel stehen sind zahlreich. Und wir sind wenige. Doch ich sage euch: Wo wäre man heute lieber, wenn nicht im Angesicht der Dunkelheit, die vom Norden und aus den Himmeln in alle Länder weht? Wir wenigen, wir glücklichen wenigen, ein Band aus Brüdern sind wir. Verfluchen sollen sich jene, die nicht bei uns sind, die sich lieber in Erdlöcher und Höhlen verkrochen haben, weil sie vor Angst zittern!"
Noch in derselben Nacht marschierte das Rudel zum nächsten Ziel. Selbst ein guter Beobachter hätte in dieser Nacht wohl nur dichten Nebel gesehen.
Die schwarze Witwe
Sie wusste es. Sie fühlte es nicht nur, nein, sie wusste es. Schon als sie von Sysannas Flucht gehört hatte, war es ihre Pflicht gewesen, Szarak eine Warnung auszusprechen: "Vertraue ihr nicht. Sie haben Gefangene, warum konnte ausgerechnet sie fliehen?" Aber Szarak, er hatte nicht hören wollen. Ob es seine Sieche war, die nun auch seinen Verstand umnachtete, hatte sie sich gefragt. Doch Widerworte oder besseres Wissen waren noch nie etwas gewesen, das für Szarak Crenn gezählt hatte. Ja, sie hatte ihren Mann geliebt. Und ihn in allem unterstützt. Denn seine Sache, sie war edel und gerecht. Noch immer, selbst jetzt, da er tot war. Als seine Tochter gestorben war, sie wäre für ihn da gewesen. Doch Mitleid, es war auch nie seine Sache gewesen - weder für andere und erst recht nicht für sich selbst.
"Was tun wir jetzt?", fragte Thalid, dessen Aufgabe im Moor noch nicht beendet war.
"Ich sende die Dokumente an den Palast, außerdem Abschriften an den Kanzler, an die Abtei, sowie an den Lethos und auch an Martus. Es war das, was er wollte - so wird es also geschehen", sprach sie, gefasst und entschlossen. Sie würde sein Werk beenden, auch wenn es bedeutete, selbst dabei unterzugehen. Auch wenn Szarak es nie gesagt hätte, aber auch er hatte ihr ewige Liebe geschworen. Gezeigt hatte er es nicht, aber seine Worte, sie waren immer wahr geworden.
"Und dann?"
Sie musste lächeln. "Dann geht es weiter. Ich möchte außerdem genau wissen, wer sein Leben beendet hat."
"Die Hüter waren es", sagte Thalid.
"Ja, aber wer? Sie selbst oder einer ihrer Begleiter? Derjenige wird einen grausamen Tod erleben, das schwöre ich!"
Der klirrende Heerwurm
Die Reitspinnen liefen geschwind wie der Sturm über die eisigen Ebenen von Jorgans Rücken. Der Heerführer war sicher, dass die ersten Späher bereits Ghundras Leib erreicht haben mussten, genau wie sie schon auf Blyr und Midor wandelten. Erst musste er seinen Feind kennen, bevor er den Befehl erteilte. Die Südländer bedrohten den Thron seines Herrn, wollten seine gerechte Beute stehlen. Vor allem - es war der Grund für den langen Marsch - gab es das Gerücht, Ormur wäre zurückgekehrt aus dem großen Exil. Er durfte nicht siegen. Und niemand durfte je in den Besitz des Weißen Wolfes gelangen. Der Winterkönig sollte nicht umsonst den Ketten der Spinnenfrau entgangen sein, nicht umsonst sollte er sein neues Geschlecht begründet haben.
So marschierte der klirrende Heerwurm immer weiter südwärts. Spinnen erkundeten die Wege, Echsen schlichen durch die Höhlen und Katakomben, auf der Suche nach Spionen. Die Drachen aus der Winterschmiede überwachten die Luft, und eine Schar aus abertausenden Kriegern folgte dem Ruf des Generals: "Tod den Südländern, Tod allen Feinden des Winterkönigs! Für den Herrn der Erde!"
Und das Banner, eine Krone aus Eiszapfen, darunter eine blau glühende Flamme, die eine Spinne trug, wehte im Nordwind, der wie eine kalte Hand alle Länder umschließen wollte.
Sysannas Dybbuk
Irgendwie fühlte er sich schuldig. Aber konnte er überhaupt etwas fühlen? Als man ihm aufgetragen hatte, Sysanna zu übernehmen und bei diesem Crenn zu spionieren, da war er noch absolut loyal gewesen. Immerhin hatten sie ihm versprochen, ihn durch das elfte Lied heim zu bringen. Dass er dazu einen dauerhaften Körper bräuchte, hatte er klugerweise verschwiegen, aber er hatte darauf gebaut, dass bis dahin sich auch dafür eine Lösung finden würde. Dass aber nun ausgerechnet dieser Auftrag eine viel bessere und vor allem sichere Lösung ergeben würde, war unerwartet gewesen: Brav hatte der Dybbuk den Hinweis hinterlassen, wo Crenn versuchte, in den Vulkan einzudringen. Eine kleine Erhebung, kaum wert, Insel genannt zu werden. Als es zum Kampf gekommen war, da hatte der Dybbuk artig den Hütern und deren Gefährten beigestanden. Nach Crenns Tod aber, da hatte er etwas Seltsames wahrgenommen: Ein Körper, ein Mensch, aber von tiefer Weisheit durchdrungen, dazu noch bereit und vor allem willens, ihn aufzunehmen, um ihn in die Außenwelt zu bringen.
"Können wir dann?", fragte die Frau.
"Ja", antwortete der Dybbuk mit Sysannas Stimme, verließ diesen Körper und kletterte in den anderen hinein. "Tut mir leid." Ob es geholfen hätte, wenn er dies noch zu den Hütern gesagt hätte? Dass er es nicht tat, ließ ihn durchaus an seinen Gefühlen zweifeln und ob er wirklich welche hätte.
Aus den Erinnerungen Erecs
"Am Anfang des Jahres 215 sahen wir uns zahlreichen Feinden gegenüber. Ich wusste zu dieser Zeit gar nicht, mit welchem ich anfangen sollte, wenn ich in den langen Nächten des Winters am Feuer lag und keinen Schlaf finden konnte. Da war Khaliq, der Djinn der sieben Plagen, den man auch den Schwarzstern nannte. Er hatte Besitz genommen von Zhaerius, den ich in meinen Erzählungen den Mann in Schwarz nenne. Da war Yphilia, Crenns Witwe. Und da waren natürlich noch immer die Wesen des Malstroms. Die Pestillenz. Die ersten Krieger des Winterkönigs wurden schon gesichtet, und ich fragte mich irgendwann, ob Ormur eine echte Chance hatte, ihn zu stürzen - immerhin waren Gwayan, die alte Krähe und Garsils Elementar auf direktem Weg zu ihm, und nach einigen Wochen hörte man nichts mehr von ihnen. Mit dem Tod des Heiligen Vaters brachte man nun endgültig auch Varcus gegen sich auf, obwohl es für ihn nur eine Gelegenheit gewesen war, Farbe zu bekennen, was seine eigenen Pläne betraf. Ja, es war vieles, das uns alle sorgte. Vielleicht fange ich mit den Spiegeln an und wie das Artefakt der Königin des Westens gesichert wurde? Oder sollte ich besser zuerst erzählen, wer den Heiligen Vater umgebracht hat? Nun, ich müsste etwas ausholen und dir vorher in Erinnerung rufen, was man über einen Noncorpus weiß. Wenn einer die wahre Erleuchtung gefunden hat - und nur dann - kann es sein, dass Körper und Geist sich trennen, und der Geist wandert unter Umständen Jahrhunderte umher. Meines Wissens nach war so etwas zweimal geschehen, aber ich sollte eines Besseren belehrt werden: Es war ein drittes und auch ein viertes Mal passiert. Einmal vor einer Ewigkeit weit im Westen und einmal in einer Dachstube, als eine verlorene Seele den Mond betrachtet hatte..."
Prolog
Der Ritter mit der eisernen Hand
Alle würden ihn suchen und seinen Namen verfluchen. Er war nun auf der Flucht. Doch ein einfaches Abwarten oder sich zu fügen in die Fesseln, es käme für den Ritter mit der eisernen Hand niemals in Frage. Er sah Dakhil und Aurelion, wie sie umringt wurden von Templern und Konquistadoren. Einen Augenblick wartete er noch, bereit, einzugreifen - er wollte nicht, dass andere für den Tod des Heiligen Vaters bezahlen mussten. Als er sah, wie sie in die Taverne gingen, musste es genügen. Im Schutze der Nacht fuhr er zurück ans Ufer, sattelte ein anderes Pferd und folgte den Spuren. Wind und Wetter hatten ihr Übriges getan, um seinen Weg zu erschweren.
Aber dann, nach vielen Stunden, fand er, was er gesucht hatte. Und während er die Beweise sammelte, fragte er sich, ob auch Baelon ihn verdammen würde.
Die Fürstin der Krähen
Es war nicht ihre Stimme. Etwas war anders. Als die Fürstin der Krähen den Fluten entstieg und sich orientierte, sah sie brennende Leichen. Sie spürte den Tod ihres Erschaffers. Nicht Trauer oder Mitleid überkam sie; es waren Zufriedenheit und Erleichterung - man hatte Arbeit für sie erledigt. Sie konnte sich an alles erinnern: So dachte sie an die unbeschwerten Stunden im Garten, an ihren lieben Velas und vor allem an ihren Tod. Während die Fürstin der Krähen die Hüter und ihre Begleiter betrachtete, spürte sie wie Nours Klauen ihren Leib zerfetzten. Das Blut schmeckte sie wieder, auch sah sie den Mond, der ihren Tod begleitet hatte. Sie fühlte keine Rache, keinen Zorn. Nour hatte getan, was notwendig gewesen war. Dass auch sie nur ein Werkzeug war, wie alle anderen, würde ihr schon bald aufgehen. Das, was die Fürstin antrieb, war die Erfüllung des ihr verheißenen Schicksals: Der Thron Ghundras, die Herrschaft über die Menschen. Endlich, nach so langer Zeit, würden die Krähen regieren. Das elfte Lied, das ihr verheißen worden war, hatte sie vor einer Ewigkeit abgelehnt - die Zeit war noch nicht reif gewesen. Doch nun, da der Winterkönig erwacht war und die Wesen aus dem Malstrom unter dem Banner des Schwarzsterns marschierten, war der Moment der Wahrheit gekommen.
"Können wir dann?", fragte die Fürstin der Krähen.
"Ja", antwortete der Dybbuk.
Dann brach Sysanna zusammen. Die Krähen würden schon bald von den Schlachtfeldern speisen. Zufrieden wollte sie gerade aufbrechen, um ihren geliebten Velas zu begrüßen, als sie zwei Dinge spürte: Ein Kind, ihr Kind, in der Abtei. Und einen Dybbuk, in genau diesem Kind.
Der verstoßene König
"Crenn ist tot", brummte der verstoßene König, "dank der Hüter und ihrer Gefährten."
Sein Gefolge hob die Waffen und knurrte und bellte in die Nacht. "Du wirkst dennoch nicht zufrieden", sagte dann einer der Valkyn.
"Ein Stolperstein ist fort, ein anderer ist gekommen. Wir stehen nicht nur gegen den Winterkönig, meine Krieger. Der Schwarze Stern ist immer noch da, der Geist der Elemente. Wir nennen ihn den Nachtfalter."
"Auch er wird fallen!", rief ein junger unerfahrener Krieger.
Der verstoßene König packte dessen Nacken und hielt ihn in die Höhe. "So, glaubst du das? Und weißt du auch wie? Und kannst du mir sagen, wie die Krähe zu besiegen ist? Das elfte Lied hat sie gelockt. Bete, dass nicht der Körperlose bei ihr ist!"
Stille trat ein im Rudel der Verstoßenen. Der König versammelte die ältesten Krieger um sich: "Ihr Tapferen, ihr Ältesten! Die Kräfte, die gegen Mond und Nebel stehen sind zahlreich. Und wir sind wenige. Doch ich sage euch: Wo wäre man heute lieber, wenn nicht im Angesicht der Dunkelheit, die vom Norden und aus den Himmeln in alle Länder weht? Wir wenigen, wir glücklichen wenigen, ein Band aus Brüdern sind wir. Verfluchen sollen sich jene, die nicht bei uns sind, die sich lieber in Erdlöcher und Höhlen verkrochen haben, weil sie vor Angst zittern!"
Noch in derselben Nacht marschierte das Rudel zum nächsten Ziel. Selbst ein guter Beobachter hätte in dieser Nacht wohl nur dichten Nebel gesehen.
Die schwarze Witwe
Sie wusste es. Sie fühlte es nicht nur, nein, sie wusste es. Schon als sie von Sysannas Flucht gehört hatte, war es ihre Pflicht gewesen, Szarak eine Warnung auszusprechen: "Vertraue ihr nicht. Sie haben Gefangene, warum konnte ausgerechnet sie fliehen?" Aber Szarak, er hatte nicht hören wollen. Ob es seine Sieche war, die nun auch seinen Verstand umnachtete, hatte sie sich gefragt. Doch Widerworte oder besseres Wissen waren noch nie etwas gewesen, das für Szarak Crenn gezählt hatte. Ja, sie hatte ihren Mann geliebt. Und ihn in allem unterstützt. Denn seine Sache, sie war edel und gerecht. Noch immer, selbst jetzt, da er tot war. Als seine Tochter gestorben war, sie wäre für ihn da gewesen. Doch Mitleid, es war auch nie seine Sache gewesen - weder für andere und erst recht nicht für sich selbst.
"Was tun wir jetzt?", fragte Thalid, dessen Aufgabe im Moor noch nicht beendet war.
"Ich sende die Dokumente an den Palast, außerdem Abschriften an den Kanzler, an die Abtei, sowie an den Lethos und auch an Martus. Es war das, was er wollte - so wird es also geschehen", sprach sie, gefasst und entschlossen. Sie würde sein Werk beenden, auch wenn es bedeutete, selbst dabei unterzugehen. Auch wenn Szarak es nie gesagt hätte, aber auch er hatte ihr ewige Liebe geschworen. Gezeigt hatte er es nicht, aber seine Worte, sie waren immer wahr geworden.
"Und dann?"
Sie musste lächeln. "Dann geht es weiter. Ich möchte außerdem genau wissen, wer sein Leben beendet hat."
"Die Hüter waren es", sagte Thalid.
"Ja, aber wer? Sie selbst oder einer ihrer Begleiter? Derjenige wird einen grausamen Tod erleben, das schwöre ich!"
Der klirrende Heerwurm
Die Reitspinnen liefen geschwind wie der Sturm über die eisigen Ebenen von Jorgans Rücken. Der Heerführer war sicher, dass die ersten Späher bereits Ghundras Leib erreicht haben mussten, genau wie sie schon auf Blyr und Midor wandelten. Erst musste er seinen Feind kennen, bevor er den Befehl erteilte. Die Südländer bedrohten den Thron seines Herrn, wollten seine gerechte Beute stehlen. Vor allem - es war der Grund für den langen Marsch - gab es das Gerücht, Ormur wäre zurückgekehrt aus dem großen Exil. Er durfte nicht siegen. Und niemand durfte je in den Besitz des Weißen Wolfes gelangen. Der Winterkönig sollte nicht umsonst den Ketten der Spinnenfrau entgangen sein, nicht umsonst sollte er sein neues Geschlecht begründet haben.
So marschierte der klirrende Heerwurm immer weiter südwärts. Spinnen erkundeten die Wege, Echsen schlichen durch die Höhlen und Katakomben, auf der Suche nach Spionen. Die Drachen aus der Winterschmiede überwachten die Luft, und eine Schar aus abertausenden Kriegern folgte dem Ruf des Generals: "Tod den Südländern, Tod allen Feinden des Winterkönigs! Für den Herrn der Erde!"
Und das Banner, eine Krone aus Eiszapfen, darunter eine blau glühende Flamme, die eine Spinne trug, wehte im Nordwind, der wie eine kalte Hand alle Länder umschließen wollte.
Sysannas Dybbuk
Irgendwie fühlte er sich schuldig. Aber konnte er überhaupt etwas fühlen? Als man ihm aufgetragen hatte, Sysanna zu übernehmen und bei diesem Crenn zu spionieren, da war er noch absolut loyal gewesen. Immerhin hatten sie ihm versprochen, ihn durch das elfte Lied heim zu bringen. Dass er dazu einen dauerhaften Körper bräuchte, hatte er klugerweise verschwiegen, aber er hatte darauf gebaut, dass bis dahin sich auch dafür eine Lösung finden würde. Dass aber nun ausgerechnet dieser Auftrag eine viel bessere und vor allem sichere Lösung ergeben würde, war unerwartet gewesen: Brav hatte der Dybbuk den Hinweis hinterlassen, wo Crenn versuchte, in den Vulkan einzudringen. Eine kleine Erhebung, kaum wert, Insel genannt zu werden. Als es zum Kampf gekommen war, da hatte der Dybbuk artig den Hütern und deren Gefährten beigestanden. Nach Crenns Tod aber, da hatte er etwas Seltsames wahrgenommen: Ein Körper, ein Mensch, aber von tiefer Weisheit durchdrungen, dazu noch bereit und vor allem willens, ihn aufzunehmen, um ihn in die Außenwelt zu bringen.
"Können wir dann?", fragte die Frau.
"Ja", antwortete der Dybbuk mit Sysannas Stimme, verließ diesen Körper und kletterte in den anderen hinein. "Tut mir leid." Ob es geholfen hätte, wenn er dies noch zu den Hütern gesagt hätte? Dass er es nicht tat, ließ ihn durchaus an seinen Gefühlen zweifeln und ob er wirklich welche hätte.
Aus den Erinnerungen Erecs
"Am Anfang des Jahres 215 sahen wir uns zahlreichen Feinden gegenüber. Ich wusste zu dieser Zeit gar nicht, mit welchem ich anfangen sollte, wenn ich in den langen Nächten des Winters am Feuer lag und keinen Schlaf finden konnte. Da war Khaliq, der Djinn der sieben Plagen, den man auch den Schwarzstern nannte. Er hatte Besitz genommen von Zhaerius, den ich in meinen Erzählungen den Mann in Schwarz nenne. Da war Yphilia, Crenns Witwe. Und da waren natürlich noch immer die Wesen des Malstroms. Die Pestillenz. Die ersten Krieger des Winterkönigs wurden schon gesichtet, und ich fragte mich irgendwann, ob Ormur eine echte Chance hatte, ihn zu stürzen - immerhin waren Gwayan, die alte Krähe und Garsils Elementar auf direktem Weg zu ihm, und nach einigen Wochen hörte man nichts mehr von ihnen. Mit dem Tod des Heiligen Vaters brachte man nun endgültig auch Varcus gegen sich auf, obwohl es für ihn nur eine Gelegenheit gewesen war, Farbe zu bekennen, was seine eigenen Pläne betraf. Ja, es war vieles, das uns alle sorgte. Vielleicht fange ich mit den Spiegeln an und wie das Artefakt der Königin des Westens gesichert wurde? Oder sollte ich besser zuerst erzählen, wer den Heiligen Vater umgebracht hat? Nun, ich müsste etwas ausholen und dir vorher in Erinnerung rufen, was man über einen Noncorpus weiß. Wenn einer die wahre Erleuchtung gefunden hat - und nur dann - kann es sein, dass Körper und Geist sich trennen, und der Geist wandert unter Umständen Jahrhunderte umher. Meines Wissens nach war so etwas zweimal geschehen, aber ich sollte eines Besseren belehrt werden: Es war ein drittes und auch ein viertes Mal passiert. Einmal vor einer Ewigkeit weit im Westen und einmal in einer Dachstube, als eine verlorene Seele den Mond betrachtet hatte..."
Alea iacta est.
Die Würfel sind gefallen!
Die Würfel sind gefallen!
Re: Ein scharlachroter Tod
1
Jorgan erhält eine Nachricht
"Es ist ein Reiter eingetroffen, Herr", sagte Claudius Hilmon, der durch Lariena, Aethel und ihre Gefährten aus Tectaria gerettet worden war. Er hatte verschwiegen, dass er Jorgans Versteck kannte.
"Was hast du zu berichten?", fragte Jorgan den Boten.
"Der erste Golem ist in Sicherheit, Pytharas."
"Du sollst mich nicht so nennen. Dazu ist es zu früh."
Ormur erfüllt einen Wunsch
Der verstoßene König hatte die Nachricht vom Tode Crenns mit Freude vernommen. Nun war es an der Zeit, die östlichen Gefilde der Insel erneut zu betreten, denn er hatte noch etwas zu tun. Aber vorher wollte er jemandem einen Wunsch erfüllen.
So würde Mellwen am kommenden Abend am Feuer Brulunds ein Bündel entdecken, das auf sie wartet. Darin ein Geschenk. Der Kopfschmuck der ersten Elaya.
Der Weinende Gott, der die Sterne sieht
Hrabanus war wieder allein mit der Finsternis, die ihn nur dann entließ und ein paar Stunden frei über die Insel wandern, wenn ihre Laune es erlaubte. Die letzten Wesen, die hier auferstanden waren, hatten das Meer betreten - doch weit waren sie nicht gekommen. Etwas, das Hrabanus nicht kannte, hatte dort unten im Wasser gelauert. Aber er hatte gespürt, wie es seine Kinder aufgeschlitzt hatte, wie es ihren Tod herbeigeführt hatte - ohne Wiederkehr. Wer waren diese schwarzen Krieger, denen die Macht des Mondes beistand und die keinerlei Furcht hatten? Eine Chance, sie zu sehen, bekam er nie. Aber er hatte bemerkt, dass ihnen der magische Schild, den die Tirinaither an jedem ersten Tag eines Monats erneuerten, nichts anhaben konnte. Ob sie auch die Insel betreten konnten? Wären sie dann ein Weg, die Finsternis und ihre Qualen zu verlassen, damit er bei seinen Kindern wäre? Wieder blickte Hrabanus in die Sterne und suchte nach Antworten auf seine tausend Fragen. War dahinter, weit oben und doch unten nicht das Mysterium, das ihm alle Antworten geben würde? Auf die vielen Fragen, die ihn weinen ließen? Auf den Sinn seines Seins? "Warum bin ich einer von euch, wenn ich nicht bei euch sein kann?", fragte er die anderen Götter, die seinesgleichen waren und ihn doch verachteten. Aber eine Antwort kam nie.
"Ich bin zurück, wie ich es versprochen habe, Weinender Gott", sagte Liranus, als er den Fluten entstieg.
"Wie schaffst du es, den Schild zu überwinden?"
"Es sind Wesen in der Nähe, die ihn schadlos überwinden, ihn sogar unterbinden. Sie verschonten mich, auch jetzt, aber die anderen nicht. Die Gründe kenne ich nicht, Weinender Gott."
"Es ist vielleicht ein Weg, mich zu retten."
"Ja, und wir wollen es versuchen. Aber beantworte mir zuerst eine wichtige Frage Arans."
"Wie kann ich meinem Heerführer und deiner rechten Hand helfen?", fragte Hrabanus.
"Sage mir, Meister: Ist dein Prophet immer noch deine Stimme?"
Velas
Sein Herz klopfte noch immer. Aber nicht etwa aus Furcht oder Sorge. Das Gegenteil war der Fall. Er hatte sich getraut, Liurroccar zum Essen einzuladen in seine Stube in Brumalis. Sie war der Einladung gefolgt. Als er gespürt hatte, dass in ihr die Kraft des Traumlesens erwacht war, hatte er es als letztes Zeichen gesehen, sich zu überwinden und allen Mut, den ein Mann nur aufbringen konnte, aufzubringen, sie zu küssen. Die Keltin hatte den Kuss erwidert. Gern wäre er weitergegangen, aber er wollte den Dingen Zeit geben, sich zu entwickeln. Es sollte keine falsche Verbindung sein, sondern eine aufrichtige und wahrhaftige, so wie er es immer bei Tysandra erhofft hatte. Lange hatte er sich selbst die Schuld an ihrem Tod gegeben, denn er war fortgegangen und konnte sie nicht beschützen, als Nour sie tötete. Rachegedanken hatte er zu keinem Zeitpunkt empfunden, denn Rache war nichts, das einen lange leben ließ. Aber die Schuld hatte lang genagt. Doch dank Liurroccar konnte er sie ablegen wie seine Trauer und sich selbst erklären, dass er damals keine andere Wahl gehabt hatte, als zu gehen. Er war kein Prophet, kein besonderer Mensch, der Tysandras Tod hätte ahnen können. Vielleicht war es besser für sie gewesen, diese schmerzhafte Welt zu verlassen. Denn nur Leid und Schmerz gab sie den Menschen. Selbst seine Liebe zu Liurroccar könnte jeden Tag getrübt werden durch ein dunkles Ereignis. Wenn es eines gab, das er in seinem Leben gelernt hatte, dann dass das Unheil hinter jedem Winkel lauerte. Gerade in diesen Zeiten.
Nachdem Liurroccar Terra Brumalis verlassen hatte, trat er vor die Stube. Namid hielt treu seine Wache. "Wir drehen eine Runde durch die Siedlung", sagte Velas, und der Wolf lief wachsam an seiner Seite. Velas bemerkte Kiran, dessen Dienst seit ein paar Stunden beendet war und der zufrieden auf dem Baumstamm vor der Taverne saß und eine Pfeife rauchte. "Du siehst entspannt aus, mein Freund", sagte Velas.
"Das bin ich, das bin ich", sagte er verträumt und sah zum Tor. Liurroccar und Mellwen verließen gerade die Siedlung. "Ich verstehe", sagte Velas, schmunzelte und setzte seinen Weg fort.
Er verstand sogar sehr gut. Wenn es etwas gab, das einen hier in der Ferne und eigentlich immer und überall das Leben versüßte, dann die vollen Lippen und Brüste einer Frau. Und wenn dann noch ihr Antlitz und ihre Seele im Einklang mit dem eigenen Herzen waren, dann gab es nichts, das dagegen etwas tun konnte. Nur der Tod. Velas vertrieb die düsteren Gedanken schnell, nahm sich einen Apfel an Fearas Gemüsestand und beendete seine Runde durch den Ort. "Gute Nacht, Brumalis. Schlaf gut", flüsterte er, als er wieder in seine Stube ging. Namid legte sich neben den Schreibtisch, und Velas arbeitete noch eine Weile an den üblichen Papieren.
Aber immer wieder schaute er auf, blickte hinaus in die Nacht und in die Sterne. Er konnte sich nicht auf die Arbeit konzentrieren. Immer wieder dachte er an Liurroccar und an den Kuss. Er bereute ihn nicht, im Gegenteil. Auch scheute er sich nicht, sein Herz offen in ihre Hände zu legen. Sicher, Tysandra hatte er nicht vergessen, wie könnte er? Aber die Trauer war fort, und die Liebe zu ihr wandelte sich nunmehr in eine Erinnerung aus der Vergangenheit.
Namid hob den Kopf und knurrte, als etwas an das Fensterglas kopfte. "Ganz ruhig, Namid. Ist nur eine Krähe."
Varcus
Eines Tages würde er Valars Angebot annehmen, so wie er Zhaerius von Maegranths Angebot abgelehnt hatte. Nour mit der Hilfe der Valkyn zur Strecke zu bringen, das war ein annehmbarer Plan. Mit dem ketzerischen Weib hatte er mehr als eine Rechnung offen. Damals, in Tectaria, hatte sie es gewagt, ihre Fotze zu verbergen, als er sie sehen wollte. Es war seine übliche Vorgehensweise, Dienerinnen selbst zu prüfen, denn Krankheiten waren die liebsten Reisebegleiter von Sklaven aus Samariq. Nour hatte sich geweigert und laut um Hilfe geschrien, sodass sein Vater in das Gemach geeilt war, um dem Treiben ein Ende zu setzen, bevor es überhaupt begonnen hatte. Natürlich hatte Varcus es an einem anderen Abend getan, aber die Demütigung, von seinem Vater vor den Augen einer wertlosen Sklavin gemaßregelt worden zu sein, er konnte sie nie ganz vergessen. Bei der nächsten Gelegenheit hatte er einen Bambusstock aus Yaruner Holz genommen und leider vergessen, etwas Öl darauf zu streichen:
"Setz dich und breite deine dreckigen Beine aus, Hure."
Nour hatte schreien wollen, aber eine von Varcus besonders besoldeten Wachen hatte sie eilig gepackt und geknebelt. "Du kannst gehen", sagte er zur Wache.
"Jetzt sind wir ganz allein, Hure. Zeig mir deine Lenden. Ich will deine Fotze sehen, Hure."
Mit Tränen in den Augen, die ihn noch mehr erregten als ihre Angst, öffnete sie sich. Er betrachtete ihre Lenden und strich mit einem Finger darüber. Dann roch er ihren Saft. "Riecht sauber. Du kennst also Wasser und Seife, ja? Es wundert mich, gehörst du doch zu einem niederen Volk aus Analphabeten und Barbaren."
Ihre Wut konnte er sehen, und sein Gemächt richtete sich auf. "Wollen wir sehen, wie es innen um dich bestellt ist, Fotze."
Er nahm denselben Finger und schob ihn hinein. "Fühlt sich warm an, wie dein Schweiß", sagte er und lachte leise, zeigte ihr den Stock. "In Yarun fertigen sie Flöten daraus. Kannst du dir das vorstellen, Hure, Flöten! Was tut ein Krieger mit Flöten. Dieses Holz ist fast so hart wie Eisen. Es ist eine Waffe. Du willst es sehen? Gut, ich zeige es dir."
Dann holte er aus und schlug ihr den Stock auf die Innenseite der Oberschenkel, bis diese blau anliefen. Sie weinte bitterlich. "Oh, du weinst? Warte, ich habe etwas für dich", flüsterte er und schob den Stock in ihre saubere Fotze. Immer wieder. "Es gefällt dir nicht?" Da unterbrach ihn die Wache, die ihn von der Rückkehr seines Vaters unterrichtete. "Wir machen später weiter", sagte er, küsste ihre feuchte Stirn und schlug ihr den Stock in den Nacken, dass sie schlief.
"Sind wir bald da?", fragte er den Kapitän. Seit der Nachricht, dass Gregorianus tot war, hatte er nichts mehr von Nazarius vernommen. Der Pakt mit den Kriegern des Winterkönigs hatte vorgesehen, die Ostfold zu besetzen. Aber da Nazarius nichts mehr von sich hatte hören lassen, wollte Varcus nun die Insel aufsuchen, auf der sich ein Ecaloscop befinden sollte, wie seine Spione ihm mitgeteilt hatten. Der Pakt mit den Winterkriegern sah außerdem vor, im zweiten Schritt Dakhils Mannen auszulöschen. Der Angriff auf Ascanios Lager hatte dazu gedient, sie aus der Reserve zu locken, war aber vorerst gescheitert. Varcus wollte Nazarius informieren und sich gleichsam erkundigen nach dem Stand der Dinge. "Land ist in Sicht."
"Wir sind nicht die einzigen Besucher", murmelte Varcus als er ein kleines Schiff in einer Bucht ausmachte. "Wir legen auch dort an."
An Land verbarg er sein Gesicht und versuchte, eine Witterung aufzunehmen. Seine Gesichtszüge mussten sich wohl in ein irres Grinsen verwandelt haben, als er sich umdrehte und seine Leute ihn verwirrt ansahen: "Sie ist hier", sagte er zufrieden.
Yphilia
Die Schwarze Witwe gab den Befehl, den Angriff einzustellen und den Rückzug anzutreten, als den Kriegern Dakhils und Ascanios Mannen jemand zu Hilfe kam. Riesige Dunkelelfen, wie sie sie noch nie zuvor gesehen hatte, waren dem Fluss entstiegen und hatten in Windeseile viele ihrer Männer erschlagen. Dass diese unbekannten Krieger auch die bretonischen Soldaten und Geistlichen, sowie die Hun angriffen, scherte sie wenig, denn einen Kampf gegen eine Übermacht, gleich ob sie sich auch gegenseitig attackierte oder nicht, erschien ihr aussichtslos. Und wenn sie eines von Szarak gelernt hatte, dann, wann man rechtzeitig einen Schritt zurück gehen musste, um danach zehn nach vorn laufen zu können. Vielleicht war es nicht sehr klug von ihm gewesen, an so vielen Orten gleichzeitig zuzuschlagen und entgegen aller Gewohnheit mehr als ein oder zwei Lager zu errichten. Je mehr Leute eingeweiht waren, umso leichter wäre es für den Gegner, an Informationen zu gelangen. So war es mit Rinjalf passiert, so war es Dhorgos ergangen, der nun wohl ein Dasein als Malstromwesen fristete.
Und am Ende war es auch Szarak so ergangen, der elendig im Nirgendwo auf dem Meer vor Blyrtindur getötet und den Gerüchten nach verbrannt worden war. Yphilia Crenn hatte ihren Mann geliebt und seine Geduld, mit der er das langfristige Ziel, für Tysandra den Thron zu sichern, verfolgt hatte. Doch weniger angetan war sie von den Dingen gewesen, die er in den letzten Wochen getan hatte: Es war ein Fehler gewesen, ein Versteckspiel gegen die Hüter Blyrtindurs einzugehen, sich ihnen sogar zu zeigen, nachdem er all die Jahre zuvor so darauf bedacht gewesen war, dass niemand sein wahres Gesicht oder das, was er am liebsten trug, kennen würde. War es Leichtsinn gewesen? Oder die Sicherheit und Überzeugung, dem Ziel nah genug zu sein? Oder war es am Ende sogar seine Absicht gewesen, dort zu sterben, damit der Weg für Tysandra frei wäre? Einen Abschiedsbrief hatte sie nicht gefunden. Die ganze Siedlung hatte sie absuchen lassen, aber da war nichts - kein Wort der Erklärung, kein Abschied und erst recht kein Bezeugen seiner Liebe, denn dies hatte er nie getan. Vielleicht auf seine Weise, aber nicht wie ein Mann eine Frau umwerben oder lieben würde. Sicher, das Lager hatten sie oft geteilt. Aber nur um der Säfte und um des Verlangens wegen. In der Zeit, die er damit verbracht hatte, Regentin Irinia zu befriedigen, war er jede Nacht zurück in Yphilias Bett gekommen, um sich den Dreck und ihre schwarze Seele vom Schwanz zu schütteln, wie er immer wieder gesagt hatte. Aber Liebe? In Worten oder Taten? Das war nie Szaraks Sache gewesen. Dennoch, es gab keine andere Erklärung, musste er gewusst haben, dass Tysandra zurückkehren würde, seine Tochter und ihre Ziehtochter, die nun den Thron einforderte.
Und die nun, da alle in Sicherheit waren, mit ihrer Ziehmutter sprach wie mit einem Sklaven. "Warum sind wir geflohen? Erkläre mir das, sofort!", zischte Tysandra.
"Es waren zu viele. Willst du sterben wie dein Vater? Ungeduldig und gedankenlos in den letzten Stunden?"
"Ich stehe unter besonderem Schutz, Mutter."
"Ja. Aber meine Männer nicht. Wir werden eine andere Gelegenheit bekommen, an die Essenz zu gelangen. Du hast selbst gesagt, dass du sie manipuliert hast. Sie werden dich brauchen, um das zu reparieren. Also müssen sie zu uns kommen. Und darauf warten wir. Das ist mein letztes Wort", zischte Yphilia nun ihrerseits.
"Sie kommen hierher?", fragte Tysandra.
"Nein, das nicht. Aber sie werden in eine Falle gehen."
Etwas zufriedener nun nickte Tysandra. "Verzeih meinen Ärger. Aber die Zeit drängt."
"Ja. Überlasse mir die Strategie. Du bekommst die Toten."
Nun lächelte die Ziehtochter, erhob die Arme und ließ sich von den Krähen auf einen Thron aus Holz tragen. Dann hob sie den Kopf und murmelte. "Wir haben einen Gast."
"Soll ich die Wachen rufen?"
"Nein. Ich begrüße ihn selbst."
Cleophos
Seine Tat war nicht rückgängig zu machen. So wie Jorgan es ihm befohlen hatte, hatte Cleophos dem Befehl Folge geleistet: "Töte den, der sich Fischer aller Fischer nennen wird, denn er ist es nicht." Der Mann, der ihn einen Scharlachroten Tod genannt hatte, war immer ein Rätsel geblieben. Doch alles, was er ihm gesagt hatte, war haargenau so eingetroffen. Velas trug den gleichen Namen wie der erste Heilige Vater, der laut Jorgan der einzig wahre Fischer aller Fischer gewesen wäre. Und dessen Noncorpus war im Leibe von Gregorianus und Velas, der nunmehr Anführer in Terra Brumalis geworden war. Der Noncorpus musste vereint werden in Velas.
Dass Präfekt Nazarius seine Leute und auch die Skjöldburer mit einem Doppelgänger des Heiligen Vaters getäuscht hatte, hatte Cleophos nicht geahnt. So war er zwar nun nicht der Mörder von Gregorianus, wohl aber hatte er einen Unschuldigen auf dem Gewissen, einen Mönch namens Mikandras - der einzige Mann, der Dakhil in dessen Gefangenschaft in Tectaria Gnade und Mitleid erwiesen hatte. Nun, Allyen würde ihn ohnehin festnehmen wollen, sobald die Spiegel eingesetzt worden wären. Ein weiteres ihm zur Last gelegtes Verbrechen machte kaum noch etwas aus.
Es war aber nicht so, dass Cleophos den Tod des Mönches nicht bedauern würde. Aber es war nicht zu ändern. Wie so vieles nicht. Die Opfer, die er selbst gebracht hatte, sie waren kaum noch zu zählen. Anfangs hatte Cleophos sich geschämt und sich selbst einen Narren genannt, wenn er daran gedacht hatte. Aber heute erfüllte es ihn eher mit Zorn, dass andere nicht erkannten, wieviel er für Blyrtindur, die Quelle und den Kampf gegen die Malstromwesen gegeben hatte, nur um am Ende als Verbrecher zu gelten, für den der Strang beinahe eine Erlösung wäre. Nicht etwa, um zu sühnen, denn hatte er nicht alles auf Weisung Jorgans getan? Es wäre eher eine Erlösung von einer Krankheit, die ihn innerlich auszehrte. Eine Seuche, die sich in seinen Gedanken und Gefühlen über all die Jahrzehnte hinweg ernährt hatte; sie fraß seine Liebe zu Tysandra vom Augenblick der Eheschließung an; sie ernährte sich von allen freundschaftlichen Banden, die er je gekannt hatte, von seinen Ruhmestaten im Bürgerkrieg, als er an Lerhons Seite gegen die Torbrins gekämpft hatte und auch von allen anderen Dingen, die er je gedacht oder gefühlt hatte: Es war die Sehnsucht.
Die Sehnsucht, wieder die Quelle zu spüren, ihr Wasser zu fühlen und zu schmecken, den Wind zu spüren, die Gedanken der Schildkröte Blyr zu hören. Wenn er Gespräche führte, hier in Skjöldbur, dann war er nie ganz er selbst. Immer führten seine Gedanken zur Quelle zurück. Wenn er lachte, dann war es gespielt, denn in Wahrheit wollte er weinen wie ein Kind, dem man die Puppe weggenommen hatte. Und wenn er aß oder trank, dann fehlte nicht viel und er würde sich übergeben. Er würde sein Innerstes ausspeien und wie Kehricht in ein tiefes Loch würgen, sein Blut opfern und sein eigenes Herz in den tiefsten Schlund der Erde werfen, wenn es ihn zurück zur Quelle tragen würde. Alles würde er dafür hergeben.
"Wirklich alles?", fragte eine Stimme, die ihn Tag und Nacht heimsuchte. "Du musst nur das Lied von der Raupe Nimmersatt singen, und ich bringe dich zur Quelle."
"Nein", dachte er. Und doch wollte er etwas anderes antworten.
Aran
Mit größtem Ärger und Missmut ließ sich Aran berichten, dass es den Skjöldburern gelungen war, den Golem Jorgans zu rauben. Vor allem das Wie erzürnte ihn. "Der Prophet hat euch befohlen, sie gewähren zu lassen? Warum sollte der Mann in Schwarz dies tun?", fragte er Szynric.
"Weshalb, Aran, sollte ich ihn danach fragen? Seine Worte sind die Worte von Hrabanus, dem Weinenden Gott, der die Sterne sieht. Es gab keinen Grund, dessen Wort zu bezweifeln. Oder?"
In den letzten Tagen waren Arans Bemühungen, sein Volk im Namen des Weinenden Gottes in eine goldene Zeit zu führen, nicht gerade von Erfolg gekrönt gewesen. Jogrimur hatte eine der drei Nebelessenzen aus dem Schelf verloren, der andere Golem Jorgans war von den Kriegern des Winterkönigs gestohlen worden. Nicht nur, dass sie diese Kreaturen nicht verwandeln konnten, nein, ihre Waffen töteten und die Toten verwandelten sich auch nicht. Und sie hatten keine Furcht vor den Wesen des Malstroms, vor den Kindern von Hrabanus. "Hat der Prophet die Worte des Weinenden Gottes nicht erklärt?"
"Nein, das hat er nicht. Und das muss er auch nicht."
"Du glaubst also immer noch, dass Hrabanus uns in das Licht der Erkenntnis führt, durch seine Hand Zhaerius? Glaubst du, wir werden jemals das Mysterium sehen und damit den Sinn unseres Lebens?", fragte er Szynric mit einem zynischen Lächeln auf den ansonsten leblosen und fahlen Lippen.
"Daran glaube ich. Daran glaubt auch Liranus, dein und mein König, wenn ich dich daran erinnern darf."
Ach ja, Liranus. Der eine Stadt an der Nebelküste errichten wollte, als gäbe es gerade nichts, das wesentlicher wäre. "Schon in seinem alten Leben war Liranus ein Idealist. Und schau, was es gebracht hat. Hier sind wir nun."
"Du bedauerst, was du bist?"
"Nein. Ich bedaure nur, was ich geworden bin. Ich diene. Ich versuche, für uns alle das Beste zu erreichen. Aber das muss nicht bedeuten, dass ich mich nicht an das erinnere, was gewesen ist. Ist es bei dir anders, Szynric?"
"Mein Leben als Diener der Kelten ist vorüber. Ich habe nun einen Gott, der sich erinnert, wer seine Kinder sind."
"Ja. Eingesperrt auf einer von der ganzen Welt verdammten Insel, die wir nicht erreichen können, nicht wahr?"
Szynric wollte gerade antworten, als Aran eine Idee kam: "Oh, Augenblick. Es gibt einen Weg, wie wir Zhaerius und seine Absichten prüfen können. Ich möchte mit Liranus sprechen. Vielleicht kann er die Insel der Finsternis erreichen - immerhin starb er dort und kehrte ebenso dort als einer von uns zurück."
"Eine weise Idee. Ich schicke ihm einen Boten", antwortete Szynric und verließ das Schattendorf in den Ostlanden Blyrtindurs.
Immer noch verärgert schaute Aran auf sein Ecaloscop. Sie hatten es in einem verlassenen Lager Crenns entdeckt. Von dessen Tod hatte Aran gehört und mit Bedauern vernommen, dass seine Leiche verbrannt worden war. Auch hatte er vernommen, dass Tysandra, das Eheweib von Cleophos, einem ehemaligen Hüter, zurückgekehrt war. Auch aus ihr hätte man sicher verwertbares Wissen bekommen, wäre sie nach dem Tod nicht verbrannt worden. Aber wieso war sie nun lebendig? Vielleicht hätte Hrabanus auch darauf eine Antwort.
"Ist jemand dort?", fragte plötzlich eine Stimme durch das Ecaloscop.
"Wer spricht da...?", fragte Aran leise und vorsichtig.
"Sag mir erst, wer du bist!", forderte die Kinderstimme.
Nour
Das Eheweib Dakhils hatte eine unendliche Geduld, wenn es um das Töten ging. Sich Zeit nehmen, alles vorzubereiten, sich den letzten Augenblick vor der Tat vorstellen, die Erfüllung ersehnen. Und dann, wenn einmal geschehen, verblasste das Gefühl so schnell. Wie ein Geschenk, das man erwartet - und am Ende wartete man auf das nächste. Doch ihre Ruhe währte lang. Geduld, eine ihrer Tugenden. Nur nicht dann, wenn aus Nour die schwarze Katze wurde. In diesen Momenten war nichts übrig von der Ruhe, der Geduld, der langfristigen und sorgfältigen Planung. Sie konnte kaum den Geschmack des warmen Blutes erwarten, wenn ihre Krallen sich bereits in die Brust ihres Opfers bohrten und hastig zitterten, ungeduldig und gierig. Nour war zwiegespalten. Einerseits liebte sie es, als Panther durch das Dickicht und die Dunkelheit zu streifen, nach der Beute knurrend; andererseits hasste sie es, in diesen Augenblicken nicht mehr Herr ihres Verstandes zu sein. So liebte sie den Fluch von Mond und Nebel, und zugleich verabscheute sie es, ihr Selbst abzulegen und einzutauschen gegen das Tier. Aber das Tier schützte sie, so wie der Fluch sie bewahrte vor einer Verwandlung durch das Faulwasser. Es war wie mit Dakhil. Liebe und Hass, so nah zusammen, dass sie ein Kind zeugen könnten. Und doch schien für allzu viel Liebe kein Platz mehr in Nour zu sein. Betrogen und verraten. Mit dem Tod Tysandras hatte ihr Rachefeldzug begonnen, und als sie Varcus entdeckt hatte, war ein weiteres Ziel gefunden worden. Varcus, dem sie so viel Pein und Angst zu verdanken hatte. Varcus, der Schlächter. Und auch wenn er nun ein Wolf war, so fühlte sie kein gemeinsames Blut. Alles, was aus Tectaria gekommen war, war so faulig wie die Wesen des Malstroms! Bald schon würde er ihr Festschmaus sein, genau wie Zhaerius, genau wie Dakhil.
Und so wie der, den sie gerade in ihrer Gewalt hatte. "Sage mir, wo ich ihn finde. Vielleicht verschone ich dich dann", zischte die Hun.
Der tectarische Matrose, vielleicht gerade fünfzehn oder sechzehn, jammerte. "Bitte, ich weiß nicht, wo der Präfekt ist, wirklich nicht."
Nour hatte ihn in der Nähe von Edailech gewittert, verfolgt und gestellt. "Wenn du auf seinem Schiff dienst, dann musst du auch wissen, wo er ist. Deine Freunde haben die Küstennähe verlassen - warum?"
"Ich war überfällig, ich kann nicht sagen, wohin sie sind. Aber ich kenne vielleicht den Grund. Bitte lasst mich leben, ja?"
Sie lächelte. "Ich hege keinen Groll gegen dich, Junge. Sage mir, wieso sie abdrehten, und ich lasse dich gehen. Du hast dein Leben noch vor dir, auch wenn du es für einen seelenlosen Sohn einer Hure verschwendest."
"Es ist weil der Heilige Vater zu Tode gekommen ist, in Midgard."
"Tatsächlich?", fragte sie ohne Bedauern. "Er ist tot?"
"Ja, das ist er. Sie segeln vielleicht nach Norden, und sie haben mich vergessen. Bitte, lässt du mich gehen?"
"Wenn sie wirklich nordwärts fahren, welche Route nehmen sie? Eine der üblichen oder ziehen sie es vor, sich zu verstecken?", fragte Nour und drückte den Dolch fester an die Kehle des jungen Tectariers.
"Als wir kamen, fuhren wir die Handelsroute entlang, zwischen Bretonia und Midgard. Vorbei an einer Insel."
"Welche Insel?"
"Die Bäume stehen hoch, und es ist wärmer als üblich, obwohl es Winter ist", antwortete er.
"Diese Insel kenne ich. Sie ist nicht weit von hier. Du hast deine Sache gut gemacht. Wie ist dein Name?"
Sie führte den Dolch weg von seiner Kehle und zurück in ihren Gürtel. Harmos, so stellte er sich vor, sah in ihre Augen. "Ich werde auch nichts verraten. Bitte, glaubt mir das."
"Natürlich wirst du das nicht. Weil du weißt, dass ich dich finden werde. Nicht wahr?"
"Ja, das weiß ich, ja", sagte Harmos, und sie ließ ihn aufstehen. Er neigte einmal den Kopf, nahm sein Bündel und ging hastig ein paar Schritte rückwärts. Nour ließ ihn ziehen. Er war bedeutungslos. Aber als er hinter einem Hügel verschwand, da fühlte sie das gehasste und geliebte Gieren nach Blut. Ein stechender Schmerz, und eilig lief ein Panther zwischen den Bäumen seiner Beute nach. Sie sprang an seine Kniekehlen, Harmos fiel zu Boden, kroch schreiend nach hinten, aber war natürlich zu langsam. Die schwarze Katze schlitzte seinen Rücken auf und brach ihm das Genick, bevor sie sein Blut trank und ein paar Fetzen Fleisch verspeiste. Sie lief noch ein paar Stunden umher, bis sie sich an das Gespräch erinnerte: die Insel. Vielleicht machten sie dort Halt, um Vorräte zu sammeln. Die Bretonen verwehrten ihnen Märsche ins Inland, höchstens ein Matrose wie der junge Harmos wäre nicht aufgefallen.
Da sie noch Zeit hatte und von Aethel noch nicht wegen der Waffe gegen den Mann in Schwarz informiert worden war, schlich Nour in die Nähe der Werft, wo sie ein kleines Segelschiff stahl, das man allein bedienen konnte. Die Wellen trugen sie zusammen mit dem Wind gen Norden, und nach einigen Stunden war bereits Land in Sicht. Die Schiffe des schwarzen Kreuzes waren nicht zu sehen, aber die schwarze Katze witterte Menschenfleisch und verwandelte sich, nachdem sie das Schiffchen in einer kleinen Bucht versteckt hatte. Hier war das Wetter wirklich angenehmer, und die Kälte war nicht so sehr zu spüren. Vorsichtig lief sie zwischen den Bäumen umher, erkletterte einen davon und spähte in die Siedlung, die von der Zeit vergessen worden war. Menschen. Tatsächlich. Aber keine Tectarier. Plötzlich fuhr die Katze herum, denn sie witterte noch etwas anderes. Ein Vogel ließ sich mutig nieder und schien sie anzusehen.
"Willkommen", flüsterte die Krähe.
"Wer bist du", zischte Nour und ging in eine Angriffshaltung.
"Oh, wir kennen uns. Mein Name ist Tysandra."
"Ich habe keine Zeit für Scherze. Was für ein Zauber ist das?"
Plötzlich saß sie neben ihr: Tysandra. "Keine Angst, ich vergebe dir. Ich will dir etwas vorschlagen, liebste Nour."
"Wie hast du es geschafft?", flüsterte Nour, bereit, sie wieder und wieder zu töten.
"Ich kann dir geben, was du willst. Sieh nur, wer dort ist. Sollen wir ihn gemeinsam begrüßen?", fragte Tysandra und zeigte auf den Mann, der sich den Bäumen näherte.
Baelon
"Den Göttern sei Dank", murmelte Baelon, als er einen weiteren Brief Allyens erhielt, der ihn über die Lage in Midgard informierte. Sein Vater hatte sein Ansinnen, den Heiligen Vater zu töten, nicht in die Tat umgesetzt. Erst war es wohl so erschienen, dass ein anderer - Cleophos - es getan hätte. Über die Gründe schrieb Allyen nicht viel, aber offenbar befanden sich im Heiligen Vater Gregorianus und in Velas von Aestrinor Teile eines Noncorpus - entstanden vor dem Tod des ersten Heiligen Vaters Tectarias, dem wirklichen Fischer aller Fischer: mit dem Namen Velas. Dass dies kein Zufall war, wusste man auch, ohne ein Nordmann zu sein. So konnte Baelon nur hoffen, dass sein Vater und die Skjöldburer umsichtig genug wären, einen anderen Weg zu finden, den Noncorpus in Velas zu vereinen, damit Velas, Dakhil und jemand namens Jan die Wesen des Meeres in den Kampf gegen die Wesen des Malstroms führen würden, sobald die Lieder geborgen wären. Dass eine weitere Partei, die Krieger eines sogenannten Winterkönigs, aufgetreten war, aus dem fernen Schelf, schrieb Allyen ebenso. Baelon beauftragte Maga Minerva, mehr darüber in Erfahrung zu bringen.
Jetzt widmete er sich den inneren Angelegenheiten. "Sind sie schon eingetroffen?", fragte er den Hausdiener. "Ja, Mylord." "Bittet sie herein."
"Willkommen. Setzt Euch. Es gibt einiges zu besprechen", sagte Baelon, als Emes und Lethos Mercutio eingetreten waren.
"Allerdings", murmelte der Bretonianer, während Mercutio lediglich nickte.
"Beginnen wir mit den Dokumenten", sagte Baelon, "sie scheinen ja ziemlich brisante Informationen zu beinhalten. Offenbar, so verkündet es der verschiedene Szarak Crenn, handelt es sich bei der Königin um eine illegitime Herrscherin. Er begründet dies mit verschiedenen Argumenten und Stammbäumen: Zuerst spielt er auf die unangenehme Wahrheit an, dass nicht König Lerhon der Vater und Erzeuger Theresias war, sondern ein tectarischer Bischof. Da müssen wir nicht nachforschen, um dies zu bestätigen. Königin Annieshe hat dies Zeugen gegenüber bestätigt, und auch Herrin Lariena, die sich Theresias annahm, nachdem man sie aus einer tectarischen Festung in Marjastika befreite, würde dies bejahen. Zweitens erwähnt Crenn, dass Theresia damit als Bastard gelte. Dies mag eine Tatsache sein, aber die Thronfolgen sind im bretonischen Recht nicht eindeutig. Somit wären diese Vorwürfe allein zwar wahr, aber haltlos. Niemand würde allein deshalb die Königin und ihre Macht anzweifeln. Beunruhigender sind die Stammbäume und deren Anmerkungen, nach denen erstens König Lerhon kein Breton war, sondern der illegitime Sohn eines namentlich nicht genannten Ritters, der vor seinem Tod in der Schlacht König Darius gebeten haben soll, sich seines Sohnes anzunehmen. Ein zweiter Stammbaum zeigt, dass Szarak Crenn entgegen der bisherigen Vermutungen nicht der Sohn des beim Angriff der Blodhord auf die Festung Nordstein verstorbenen Hetmans Rokil gewesen wäre, sondern tatsächlich leiblicher Sohn von König Darius, den er mit einer Zofe gezeugt haben soll. Ich möchte nicht nervös erscheinen, aber das scheint mir mehr zu sein als eine bloße Behauptung, wenn jemand sich eine solche Mühe macht. Zudem es erklären würde, weshalb Darius seinen leiblichen Sohn verleugnet und lieber einen bretonischen Jungen als seinen Sohn - ich meine also Lerhon - angegeben und anerkannt hat. Wie gesagt, das Thronfolgerecht ist hier nicht eindeutig. Man könnte also sagen, dass all das unerheblich ist. Nur haben alle Wilderlandlords, die Gilden und auch die Kirche Abschriften aller Dokumente erhalten. Außerdem bestünde - wenn dies alles stimmt - ein durch das Recht gültiges Interesse eines Nachkommens von Crenn, den Thron zu fordern. Das ist dann auch der springende Punkt: Nachdem sich herausstellte, dass Tysandra Aestrinor, Ziehtochter eines Mannes namens Jorgan Fausten, leibliche Tochter von Szarak Crenn, mitnichten tot ist, sondern sehr lebendig gesehen wurde, als das Lager von Priester Ascanio angegriffen wurde, handelt es sich bei ihr also um diesen Nachkommen. Emes, was habt Ihr erfahren?"
Emes trank einen Schluck Wasser, dann antwortete er. "Es darf als gesichert gelten, dass Crenn keine weiteren lebenden Nachkommen hat. Nachforschungen in Nordstein, sowie das Durchforsten der Bibliotheken, Stammbäume und aller Ahnentafeln aus dieser Zeit beweisen, dass es einen Ritter gab, dessen Sohn angeblich im Kindbett starb. Sir Markens Sohn wurde in derselben Zeit geboren wie Lerhon. Und zwar im Norden, genau wie Szarak Crenn. Über den Aufenthaltsort von Yphilia Crenn habe ich noch keine Informationen. Tysandra Aestrinor, wenn sie es denn ist, wurde an der Abtei gesehen. Abt Aldwyn verwehrte ihr den Eintritt. Sie bat um einen Krug Wasser, den sie auch bekommen hat und verließ den Ort. Eine Verfolgung ergab nichts: Hinter dem nächsten Hügel war sie verschwunden."
"Hat sie etwas gesagt? Was wollte sie dort?", fragte Baelon.
"Ihr Kind sehen, das sie im Sterben zur Welt gebracht hat. Nachdem sie von Nour angegriffen wurde, der Ehefrau Dakhil Al Khans."
Baelon nickte besorgt. "Das Kind, ja. Es ist nicht mehr sicher in der Abtei. Ich werde mich erkundigen, ob es einen Weg gibt, es seinem Vater zu übergeben. In Velas von Aestrinor habe ich mich vielleicht getäuscht. Werter Lethos, erleuchtet uns. Was gibt es zu wissen und zu erfahren?"
Mercutio nickte bedächtig, dann ergriff er endlich das Wort. "In der Tat war Tysandra an der Abtei. Abt Aldwyn hat mich umgehend informiert. Sie hat mit Absicht um einen Krug Wasser gebeten, nehme ich an. Denn ich habe ihn untersucht und die Rückstände mit der Asche der Verstorbenen vergleichen wollen: Die Asche ist fort. Niemand hat etwas gesehen, und die Grabstätte blieb unberührt. Ich habe schließlich alte Kleidungsstücke Tysandras zur Untersuchung benutzt. Es gibt keine schwarzmagischen Spuren, keine Rückstände irgendeiner Zauberei oder göttlichen Wirkens. Ich kann mit Sicherheit sagen - zu diesem Zeitpunkt - dass es sich bei der Auferstandenen um Tysandra Aestrinor handelt."
Baelon spürte noch größere Sorge. "Sie muss gefunden werden. Und in Gewahrsam gebracht werden. Damit steht und fällt alles andere. Wir sind ein gefundenes Fressen für die Malstromwesen, Söldner Crenns streifen noch umher, und Zhaerius von Maegranth ist immer noch frei. Dies alles könnte ein Emporkömmling wie Tysandra nutzen. Es spielt in ihre Hände. Ich werde die Wilderlandlords vorerst beruhigen können, aber man erwartet Erklärungen, langfristig."
Sie sprachen noch einige Stunden über weitere Maßnahmen. Dann, nachdem er Emes und den Lethos dankend entlassen hatte, nahm er sich für eine andere sehr wichtige Angelegenheit Zeit: Lariena war zurück. Er erwartete sie in seiner Stube und ließ eine Mahlzeit herrichten. Vielleicht hätte er heute mehr Mut, ihr zu sagen, wie es um sein Herz bestellt wäre.
Der Mann in Schwarz
In seinen wirren Träumen floh er immer wieder durch die Wüste, verfolgt von Dakhil, dem Fürsten aller Tierfürsten. Wenn er aufwachte, erinnerte sich der Mann in Schwarz an alles. Dann sang er wieder das Lied, um sich zu beruhigen. Selbst wenn er zu Caldorvan sprach, den er sich zu Diensten gemacht hatte, war es ihm, als würde er hinter sich die Skorpione ausmachen, die ihn an den Boden fesselten, damit der Panther ihn töten könnte. "Nichts kann mich töten, nichts", flüsterte der mit den vielen Namen immer wieder, wenn die letzte Zeile des Liedes gesungen war. "Nichts kann mich töten, nichts." Ja, Namen trug er viele. Man nannte ihn einst Zhaerius, aber in Wahrheit war er der Schwarzstern, den man auch Khaliq nannte, den Herrn der Plagen. Manchmal rief man ihn auch den Nachtfalter oder den Schwarzen Schmetterling. Herr der Siechen, Zerstörer des Erschaffenen. Es gab so viele Namen, dass er - wenn die Furcht ihn einholte wie ein Skorpion in der Wüste - manchmal nicht mehr wusste, wer er wirklich war. Erst das Lied von der Raupe Nimmersatt erinnerte ihn wieder daran. "Du bist Ricardus, dessen Herz vom Schwarzstern getrunken hat. Du bist Ricardus Schwarzstern, der Herr der Plagen. Dein Name ist Khaliq, vergiss das nicht", flüsterte er. Dann wieder: "Nichts kann mich töten, nichts."
Es gab so vieles, das noch zu tun war. Er hatte die Nachrichten aus Tectaria vernommen. Die Krieger des Winterkönigs und die Präfekten Nazarius, Varcus und Saphian hatten einen Pakt mit ihnen geschlossen. Der Mann in Schwarz verfluchte den Winterkönig und auch sich selbst: Wenn der Schwarzstern nicht vor langer Zeit Jorgans Frevel gefördert hätte, dann wäre Jorgans Rücken niemals von Ormur erobert und anschließend vom Winterkönig übernommen worden. Der Fluch von Mond und Nebel wäre nie über das Schelf in alle Winkel der Welt gelangt. Doch andererseits, das war die Ironie, hätte er nie durch die Finsternis und Hrabanus die Wesen des Malstroms, die Plage aller Plagen, rufen können. Das Schicksal aller Seiten war miteinander verknüpft. So, wie es das Sigillum Dei vor langer Zeit Pytharas geweissagt hatte.
Als der Mann in Schwarz vom Erwachen und der Ankunft der Krieger des Winterkönigs erfahren hatte, hatte er erkannt, dass er diese Möglichkeit nie in Betracht gezogen hatte. Die Legenden und Mythen waren so alt, dass selbst er sie als falsch und ungenau betrachtet hatte. Wie sehr er sich irrte! Also hatte er schnell gehandelt und einen anonymen Brief an Varcus, Nazarius und Saphian geschrieben, sie mögen das Sigillum Dei befragen, um einen Weg zu finden, die Plage zu bekämpfen. Es würde sie erstens ablenken von den Liedern und zweitens wäre es eine Einladung an den Winterkönig, seine Augen auf Tectaria zu richten. Warum den Pakt zwischen Tectaria und dem Thron des Winters nicht bestärken, anstatt sinnlos Krieger gegen sie zu schicken, wenn das Ergebnis schneller erreicht wäre?
Das Sigillum Dei war das lebendige Wort des tectarischen Gottes. Der Mathematiker Pytharas hatte es, bevor er vor der Kirche hatte fliehen müssen, für den ersten Heiligen Vater übersetzt. Seitdem lagen die Heptagramme ungenutzt in den Kerkern der Kirche. Aber der Mann in Schwarz war sich sicher, dass sie geborgen wurden, als Varcus und der Heilige Vater das Land verlassen hatten. Mit der Macht der Erschaffung, die ihm gegeben worden war durch Amurs Stab, hatte der Mann in Schwarz ein neues Sigillum erzeugt: Die Sprache des Herrn, die er zu den Engeln rief - selbst dies war ihm möglich zu tun! Und Varcus und Nazarius schienen seinen Worten zu glauben. Saphian, der daran gezweifelt hatte, hatten sie ermorden lassen. "Tötet den Heiligen Vater. Die Krieger des Winters stehen Euch zur Seite." Dies und noch andere Worte fanden sie also auf den Heptagrammen, die Sylthir ihnen übersetzt hatte - bevor auch er verwandelt worden war. Der Plan muste so gelingen, musste einfach!
Derweil er im Tal des Feuers weiter nach Zada suchen ließ, sprach er zu seinem Wirt Zhaerius. "Du hast mich sehr enttäuscht, als du mir geraten hast, die Insel mit der Quelle aufzusuchen. Dass sie mich für eine Weile unterdrücken kann, habe ich erst jetzt verstanden. Du darfst sprechen, Zhaerius."
"Ich werde immer wieder gegen dich kämpfen. Du brauchst diesen Körper, das solltest du nicht vergessen, wenn du mir drohst."
"Dann weißt du vielleicht nicht, dass ich langfristige Pläne habe. Ich werde bald nicht mehr auf diesen Leib angewiesen sein. Und dann solltest du zu Leban beten, dass dein Ende ohne Qualen ist. Erinnerst du dich, wie wir Freunde wurden, du und ich? Du warst ein Kind, unschuldig und schrecklich unbedeutend. Dank mir hast du Blyrtindur und seine Quelle gesehen, vergiss das nicht."
Zhaerius lachte. "Ich bin dir dankbar."
"Wie meinst du das nun?"
"Nun weiß ich, dass du gelogen hast. Du hast gesagt: Nichts kann mich töten, nichts. Wenn du also diesen Leib nicht mehr benötigst, irgendwann, sagt es mir, dass man dich töten kann."
"Das ist nur Geschwätz", sagte der Mann in Schwarz. Und doch war da etwas in Zhaerius Stimme, das ihn zunehmend beunruhigte.
"Dann höre nicht zu, Khaliq", antwortete Zhaerius.
"Wovon sprichst du, sag es mir!"
Aber Zhaerius antwortete nicht mehr. Panisch versuchte der Mann in Schwarz, sich zu erinnern, wovon Zhaerius auf der Insel gesprochen hatte, als er gemeinsam mit Maga Aethel und den anderen gegen die Krieger des Winterkönigs gekämpft hatte. Um Zhaerius abzulenken, sang er das Lied. Immer wieder. Er zeigte ihm die Bilder, wie aus der Raupe ein Schmetterling geworden war. Und da war es. Ein Bild, ein Gegenstand. Etwas, das Ricardus Schwarzstern fast vergessen hatte: die Lampe. "Nein, Zhaerius, ich bin dir dankbar!"
"Prophet", brummte eine Stimme aus dem Ecaloscop.
"Aran, was gibt es zu berichten?"
"Ich sage dir, wo das Kind Zada ist, wenn du mir eine Frage beantwortest."
"Seit wann muss der Prophet auf deine Befehle hören?", zischte der Mann in Schwarz.
"Seit sein Wort eine große Lüge ist."
Gwayan
Viele Tage waren sie schon durch den Reifwald gewandert und hatten die alte Hütte Jorgans hinter sich gelassen. Der Eindringling war keiner gewesen: Es war ein Valkyn, ein alter Jäger, mit einer überaus interessanten Geschichte. Als sie einander vorgestellt und jede Feindseligkeit begraben hatten, waren sie zusammen am Feuer gesessen:
"Wie konntest du Garsils Elementar überwinden?", fragte Gwayan.
Der Jäger schmunzelte und zeigte seine abgenutzten Zähne. "Es gibt Wege, wie man mit ihnen spricht. Ich bin kein Feind, und euer Freund hat dies gesehen. Gibst du dich damit zufrieden, Einohr?"
Er nickte. "Ja, das reicht uns vollkommen aus. Aber, sage mir, was verschlägt dich in diese eisigen Weiten? Und das in diesen schlimmen Zeiten?"
"Du möchtest wissen, ob ich mich fürchte vor den Kriegern des Winters, vor dem Winterkönig?", fragte der Jäger und schmunzelte wieder.
"Wenn du es so sagst: ja. Der Winterkönig ist erwacht, und immer mehr seiner Krieger gehen mir nicht ins Netz und ziehen südwärts."
"Ein klirrender Heerwurm bewegt sich nach Süden, ja. Und nicht nur in die Gefilde Midgards streben sie. Auch weiter im Süden werden sie eintreffen. Sie bewegen sich durch das Wasser und über die eisigen Straßen. Und die Wesen der schwarzen Quelle können ihnen nichts anhaben."
"Das beantwortet meine Frage nur ungenau, Freund..."
"Ich fürchte mich nicht. Ja, der Winterkönig mag grausam sein, und ihm sind Eis und Wind und Schnee zu Diensten, genau wie seine unheimlichen schwarzen Krieger aus dem gefallenen Geschlecht, deren Herzen so verbraucht und dunkel sind wie seines. Und doch ist er ein Emporkömmling!", erboste sich der Jäger und schlug mit der Faust auf den Tisch, dass die Alte Krähe kurz erschrak. "Ein Emporkömmling?", fragte sie.
Der Jäger nickte bekräftigend. "Er kam aus den Nebeln und griff meinen König an, den wahren Herrscher von Jorgans Rücken! Den Thron des Winters hat er ihm geraubt und daraus einen Hort der Finsternis gemacht, der Dunkelheit, die gegen jedes Licht strebt."
"Wer war dein König?", fragte Gwayan.
"Ist! Er lebt, und eines Tages mag er zurückkehren und sich nehmen, was sein ist. Heute nennt man ihn Ormur. Und er ist sicher schon dabei, seine Armee zu sammeln, um in einem letzten Bündnis den Thron des Winters, den Winterhain zu retten. Nun aber sage mir, warum seid ihr hier?"
Gwayan blickte prüfend zur Alten Krähe. Sie gab schweigend Zustimmung. "Wir wollen sehen, was die Pläne des Winterkönigs sind. Einen Weg finden, ihn zu vernichten. Und um die Krähen meines Freundes hier zu befreien. Denn sie wählten den Winterhain als einen Ort der Ruhe - ohne zu ahnen, was dort tatsächlich lauert."
"Deine Krähen sind in großer Gefahr, alter Mann", sagte der Jäger.
Die Alte Krähe senkte den Kopf. "Ich kann nicht sagen, wieso sie diesen Ort zur Erneuerung gewählt haben. Aber ich muss sie retten."
"Es ist der Weg, der euch verheißen wurde, sonst wäret ihr niemals hier und so weit gekommen. Der Winterkönig fürchtet sich, dass sein Nebel gestohlen wird. Darum schickt er seine Armeen, um jeden Widerstand gegen ihn zu ersticken, bevor er wachsen kann. Und zu deinen Krähen: Ich habe sie gesehen."
"Geht es ihnen gut?", fragte die Alte Krähe hastig.
"Der Winterkönig hat auch sie in seine Obhut genommen. Wie den Weißen Wolf. Alles steht auf Messers Schneide. Er erwartet mehr Macht, wenn er sie beherrschen kann. Macht über die Toten. Denn er kennt die Legenden über die Krähe Morrighan."
Gwayan nahm noch einen Schluck heissen Wein. "Woher weißt du das alles?", fragte er den Jäger. "Du sprichst, als würdest du den Winterkönig kennen."
Die Erinnerung an die Antwort des Jägers auf seine Frage ließ den alten Schamanen innerlich fast gefrieren, während sie die letzten Ausläufer des Waldes erreichten. In den letzten Stunden waren sie stetig nach oben gelaufen, sodass sie die Baumgrenze allmählich passiert hatten. Vor ihnen lag ein weites Tal, von Schluchten und alten Ruinen aus der altvorderen Zeit umsäumt. Unten sahen sie einen gefrorenen Fluss, an dessen Ufern Bäume wuchsen. Aber hier, so weit oben, wuchs nur noch die Kälte. Sie hatten sich von dem Valkyn verabschiedet, der angeboten hatte, den Eber der Alten Krähe nach Skjöldbur zu geleiten und waren wieder zu dritt. Garsils Elementar machte ein paar Schritte, um sicheren Stand für seine Begleiter zu finden, dass sie einen Pfad in das Tal finden würden. Denn auf den Anhöhen und Bergen waren sie leichte Ziele für die Diener des Winterkönigs.
Plötzlich - sie waren noch immer auf der Anhöhe - hörte Gwayan ein eisiges klirrendes Geräusch, gefolgt von einem Grollen. Ein zweiköpfiger Drache, so weiß wie der Schnee, spuckte seinen kalten Odem aus. Gwayan warf sich auf die Alte Krähe, und sie stürzten zurück zwischen die Bäume. Der Eisstrahl traf auf einen Stein. Gwayan versicherte sich, dass es dem alten Nordmann gut ging, nahm seine Keule und versteckte sich hinter einer dicken Tanne. Garsils Elementar nahm einen großen Brocken Gestein, zielte und traf den schwarzhäutigen Reiter des Drachen, der in die Tiefe fiel. Der Drache aber holte wieder tief Luft, machte eine große Wende in der Luft und wollte gerade seinen Odem gegen das Elementar hauchen, als Gwayan ein Wort sprach und Ranken, so dick wie der Baum selbst, aus dem unter dem Schnee verborgenen Erdreich kamen, nach den Flügeln des Ungeheuers griffen und es gegen die Seite des Berges schmetterten. "Das war knapp!", rief die Krähe.
Als Gwayan sich umsah, konnte er nur noch rufen: "Vorsicht, alter Mann!" Vier Krieger des Winterkönigs waren ihnen lautlos die ganze Zeit gefolgt. Garsils Elementar fuhr herum, sprang über einen Fels und nahm mit dem linken Bein etwas Geröll mit, das es gegen den ersten Krieger beförderte. Dieser fiel zu Boden. Die anderen zogen ihre Klingen und stürmten auf die Alte Krähe zu. Gwayan warf seine Keule, um dem vordersten Krieger den Weg abzuschneiden - es gelang, und der Krieger stolperte. Die Krähe murmelte einige Worte und ließ längst Vergangenes auferstehen - im Gegensatz zu Gwayan konnte er seine Zauberei in Gegenwart der Krieger ausüben. Ein durchscheinender Krieger, der Geist eines Nordmannes, tötete den nachfolgenden Krieger. Gwayan hatte Zeit, sich dem letzten zu nähern. Dieser aber wich geschickt seinem Angriff aus, und ein Schwertstreich des dunklen Kriegers traf Gwayans Bein. Der Oger sank auf ein Knie. Bevor der Krieger zum letzten Schlag ausholen konnte, traf ihn die riesige Faust des Elementars.
Zeit, sich um Verletzungen zu sorgen, hatten sie keine. Aus dem Wald, der auf die Anhöhe führte, hörten sie das Krächzen der Reitspinnen, und schon sahen sie erst vier, dann sechs und am Ende zehn Krieger, die sich schnell näherten. Die Krieger des Winterkönigs. Gwayan dachte wieder an die Antwort des Jägers: "Ich kenne den Winterkönig. Er ist der Stammvater aller Elaya."
Gwayan unterdrückte seine Furcht, indem er das Lied summte, das der Jäger ihnen vorgesungen hatte. "Es ist das Gegenstück zu dem Lied, das Zhaerius gehört hat", waren seine Worte gewesen.
Jorgan erhält eine Nachricht
"Es ist ein Reiter eingetroffen, Herr", sagte Claudius Hilmon, der durch Lariena, Aethel und ihre Gefährten aus Tectaria gerettet worden war. Er hatte verschwiegen, dass er Jorgans Versteck kannte.
"Was hast du zu berichten?", fragte Jorgan den Boten.
"Der erste Golem ist in Sicherheit, Pytharas."
"Du sollst mich nicht so nennen. Dazu ist es zu früh."
Ormur erfüllt einen Wunsch
Der verstoßene König hatte die Nachricht vom Tode Crenns mit Freude vernommen. Nun war es an der Zeit, die östlichen Gefilde der Insel erneut zu betreten, denn er hatte noch etwas zu tun. Aber vorher wollte er jemandem einen Wunsch erfüllen.
So würde Mellwen am kommenden Abend am Feuer Brulunds ein Bündel entdecken, das auf sie wartet. Darin ein Geschenk. Der Kopfschmuck der ersten Elaya.
Der Weinende Gott, der die Sterne sieht
Hrabanus war wieder allein mit der Finsternis, die ihn nur dann entließ und ein paar Stunden frei über die Insel wandern, wenn ihre Laune es erlaubte. Die letzten Wesen, die hier auferstanden waren, hatten das Meer betreten - doch weit waren sie nicht gekommen. Etwas, das Hrabanus nicht kannte, hatte dort unten im Wasser gelauert. Aber er hatte gespürt, wie es seine Kinder aufgeschlitzt hatte, wie es ihren Tod herbeigeführt hatte - ohne Wiederkehr. Wer waren diese schwarzen Krieger, denen die Macht des Mondes beistand und die keinerlei Furcht hatten? Eine Chance, sie zu sehen, bekam er nie. Aber er hatte bemerkt, dass ihnen der magische Schild, den die Tirinaither an jedem ersten Tag eines Monats erneuerten, nichts anhaben konnte. Ob sie auch die Insel betreten konnten? Wären sie dann ein Weg, die Finsternis und ihre Qualen zu verlassen, damit er bei seinen Kindern wäre? Wieder blickte Hrabanus in die Sterne und suchte nach Antworten auf seine tausend Fragen. War dahinter, weit oben und doch unten nicht das Mysterium, das ihm alle Antworten geben würde? Auf die vielen Fragen, die ihn weinen ließen? Auf den Sinn seines Seins? "Warum bin ich einer von euch, wenn ich nicht bei euch sein kann?", fragte er die anderen Götter, die seinesgleichen waren und ihn doch verachteten. Aber eine Antwort kam nie.
"Ich bin zurück, wie ich es versprochen habe, Weinender Gott", sagte Liranus, als er den Fluten entstieg.
"Wie schaffst du es, den Schild zu überwinden?"
"Es sind Wesen in der Nähe, die ihn schadlos überwinden, ihn sogar unterbinden. Sie verschonten mich, auch jetzt, aber die anderen nicht. Die Gründe kenne ich nicht, Weinender Gott."
"Es ist vielleicht ein Weg, mich zu retten."
"Ja, und wir wollen es versuchen. Aber beantworte mir zuerst eine wichtige Frage Arans."
"Wie kann ich meinem Heerführer und deiner rechten Hand helfen?", fragte Hrabanus.
"Sage mir, Meister: Ist dein Prophet immer noch deine Stimme?"
Velas
Sein Herz klopfte noch immer. Aber nicht etwa aus Furcht oder Sorge. Das Gegenteil war der Fall. Er hatte sich getraut, Liurroccar zum Essen einzuladen in seine Stube in Brumalis. Sie war der Einladung gefolgt. Als er gespürt hatte, dass in ihr die Kraft des Traumlesens erwacht war, hatte er es als letztes Zeichen gesehen, sich zu überwinden und allen Mut, den ein Mann nur aufbringen konnte, aufzubringen, sie zu küssen. Die Keltin hatte den Kuss erwidert. Gern wäre er weitergegangen, aber er wollte den Dingen Zeit geben, sich zu entwickeln. Es sollte keine falsche Verbindung sein, sondern eine aufrichtige und wahrhaftige, so wie er es immer bei Tysandra erhofft hatte. Lange hatte er sich selbst die Schuld an ihrem Tod gegeben, denn er war fortgegangen und konnte sie nicht beschützen, als Nour sie tötete. Rachegedanken hatte er zu keinem Zeitpunkt empfunden, denn Rache war nichts, das einen lange leben ließ. Aber die Schuld hatte lang genagt. Doch dank Liurroccar konnte er sie ablegen wie seine Trauer und sich selbst erklären, dass er damals keine andere Wahl gehabt hatte, als zu gehen. Er war kein Prophet, kein besonderer Mensch, der Tysandras Tod hätte ahnen können. Vielleicht war es besser für sie gewesen, diese schmerzhafte Welt zu verlassen. Denn nur Leid und Schmerz gab sie den Menschen. Selbst seine Liebe zu Liurroccar könnte jeden Tag getrübt werden durch ein dunkles Ereignis. Wenn es eines gab, das er in seinem Leben gelernt hatte, dann dass das Unheil hinter jedem Winkel lauerte. Gerade in diesen Zeiten.
Nachdem Liurroccar Terra Brumalis verlassen hatte, trat er vor die Stube. Namid hielt treu seine Wache. "Wir drehen eine Runde durch die Siedlung", sagte Velas, und der Wolf lief wachsam an seiner Seite. Velas bemerkte Kiran, dessen Dienst seit ein paar Stunden beendet war und der zufrieden auf dem Baumstamm vor der Taverne saß und eine Pfeife rauchte. "Du siehst entspannt aus, mein Freund", sagte Velas.
"Das bin ich, das bin ich", sagte er verträumt und sah zum Tor. Liurroccar und Mellwen verließen gerade die Siedlung. "Ich verstehe", sagte Velas, schmunzelte und setzte seinen Weg fort.
Er verstand sogar sehr gut. Wenn es etwas gab, das einen hier in der Ferne und eigentlich immer und überall das Leben versüßte, dann die vollen Lippen und Brüste einer Frau. Und wenn dann noch ihr Antlitz und ihre Seele im Einklang mit dem eigenen Herzen waren, dann gab es nichts, das dagegen etwas tun konnte. Nur der Tod. Velas vertrieb die düsteren Gedanken schnell, nahm sich einen Apfel an Fearas Gemüsestand und beendete seine Runde durch den Ort. "Gute Nacht, Brumalis. Schlaf gut", flüsterte er, als er wieder in seine Stube ging. Namid legte sich neben den Schreibtisch, und Velas arbeitete noch eine Weile an den üblichen Papieren.
Aber immer wieder schaute er auf, blickte hinaus in die Nacht und in die Sterne. Er konnte sich nicht auf die Arbeit konzentrieren. Immer wieder dachte er an Liurroccar und an den Kuss. Er bereute ihn nicht, im Gegenteil. Auch scheute er sich nicht, sein Herz offen in ihre Hände zu legen. Sicher, Tysandra hatte er nicht vergessen, wie könnte er? Aber die Trauer war fort, und die Liebe zu ihr wandelte sich nunmehr in eine Erinnerung aus der Vergangenheit.
Namid hob den Kopf und knurrte, als etwas an das Fensterglas kopfte. "Ganz ruhig, Namid. Ist nur eine Krähe."
Varcus
Eines Tages würde er Valars Angebot annehmen, so wie er Zhaerius von Maegranths Angebot abgelehnt hatte. Nour mit der Hilfe der Valkyn zur Strecke zu bringen, das war ein annehmbarer Plan. Mit dem ketzerischen Weib hatte er mehr als eine Rechnung offen. Damals, in Tectaria, hatte sie es gewagt, ihre Fotze zu verbergen, als er sie sehen wollte. Es war seine übliche Vorgehensweise, Dienerinnen selbst zu prüfen, denn Krankheiten waren die liebsten Reisebegleiter von Sklaven aus Samariq. Nour hatte sich geweigert und laut um Hilfe geschrien, sodass sein Vater in das Gemach geeilt war, um dem Treiben ein Ende zu setzen, bevor es überhaupt begonnen hatte. Natürlich hatte Varcus es an einem anderen Abend getan, aber die Demütigung, von seinem Vater vor den Augen einer wertlosen Sklavin gemaßregelt worden zu sein, er konnte sie nie ganz vergessen. Bei der nächsten Gelegenheit hatte er einen Bambusstock aus Yaruner Holz genommen und leider vergessen, etwas Öl darauf zu streichen:
"Setz dich und breite deine dreckigen Beine aus, Hure."
Nour hatte schreien wollen, aber eine von Varcus besonders besoldeten Wachen hatte sie eilig gepackt und geknebelt. "Du kannst gehen", sagte er zur Wache.
"Jetzt sind wir ganz allein, Hure. Zeig mir deine Lenden. Ich will deine Fotze sehen, Hure."
Mit Tränen in den Augen, die ihn noch mehr erregten als ihre Angst, öffnete sie sich. Er betrachtete ihre Lenden und strich mit einem Finger darüber. Dann roch er ihren Saft. "Riecht sauber. Du kennst also Wasser und Seife, ja? Es wundert mich, gehörst du doch zu einem niederen Volk aus Analphabeten und Barbaren."
Ihre Wut konnte er sehen, und sein Gemächt richtete sich auf. "Wollen wir sehen, wie es innen um dich bestellt ist, Fotze."
Er nahm denselben Finger und schob ihn hinein. "Fühlt sich warm an, wie dein Schweiß", sagte er und lachte leise, zeigte ihr den Stock. "In Yarun fertigen sie Flöten daraus. Kannst du dir das vorstellen, Hure, Flöten! Was tut ein Krieger mit Flöten. Dieses Holz ist fast so hart wie Eisen. Es ist eine Waffe. Du willst es sehen? Gut, ich zeige es dir."
Dann holte er aus und schlug ihr den Stock auf die Innenseite der Oberschenkel, bis diese blau anliefen. Sie weinte bitterlich. "Oh, du weinst? Warte, ich habe etwas für dich", flüsterte er und schob den Stock in ihre saubere Fotze. Immer wieder. "Es gefällt dir nicht?" Da unterbrach ihn die Wache, die ihn von der Rückkehr seines Vaters unterrichtete. "Wir machen später weiter", sagte er, küsste ihre feuchte Stirn und schlug ihr den Stock in den Nacken, dass sie schlief.
"Sind wir bald da?", fragte er den Kapitän. Seit der Nachricht, dass Gregorianus tot war, hatte er nichts mehr von Nazarius vernommen. Der Pakt mit den Kriegern des Winterkönigs hatte vorgesehen, die Ostfold zu besetzen. Aber da Nazarius nichts mehr von sich hatte hören lassen, wollte Varcus nun die Insel aufsuchen, auf der sich ein Ecaloscop befinden sollte, wie seine Spione ihm mitgeteilt hatten. Der Pakt mit den Winterkriegern sah außerdem vor, im zweiten Schritt Dakhils Mannen auszulöschen. Der Angriff auf Ascanios Lager hatte dazu gedient, sie aus der Reserve zu locken, war aber vorerst gescheitert. Varcus wollte Nazarius informieren und sich gleichsam erkundigen nach dem Stand der Dinge. "Land ist in Sicht."
"Wir sind nicht die einzigen Besucher", murmelte Varcus als er ein kleines Schiff in einer Bucht ausmachte. "Wir legen auch dort an."
An Land verbarg er sein Gesicht und versuchte, eine Witterung aufzunehmen. Seine Gesichtszüge mussten sich wohl in ein irres Grinsen verwandelt haben, als er sich umdrehte und seine Leute ihn verwirrt ansahen: "Sie ist hier", sagte er zufrieden.
Yphilia
Die Schwarze Witwe gab den Befehl, den Angriff einzustellen und den Rückzug anzutreten, als den Kriegern Dakhils und Ascanios Mannen jemand zu Hilfe kam. Riesige Dunkelelfen, wie sie sie noch nie zuvor gesehen hatte, waren dem Fluss entstiegen und hatten in Windeseile viele ihrer Männer erschlagen. Dass diese unbekannten Krieger auch die bretonischen Soldaten und Geistlichen, sowie die Hun angriffen, scherte sie wenig, denn einen Kampf gegen eine Übermacht, gleich ob sie sich auch gegenseitig attackierte oder nicht, erschien ihr aussichtslos. Und wenn sie eines von Szarak gelernt hatte, dann, wann man rechtzeitig einen Schritt zurück gehen musste, um danach zehn nach vorn laufen zu können. Vielleicht war es nicht sehr klug von ihm gewesen, an so vielen Orten gleichzeitig zuzuschlagen und entgegen aller Gewohnheit mehr als ein oder zwei Lager zu errichten. Je mehr Leute eingeweiht waren, umso leichter wäre es für den Gegner, an Informationen zu gelangen. So war es mit Rinjalf passiert, so war es Dhorgos ergangen, der nun wohl ein Dasein als Malstromwesen fristete.
Und am Ende war es auch Szarak so ergangen, der elendig im Nirgendwo auf dem Meer vor Blyrtindur getötet und den Gerüchten nach verbrannt worden war. Yphilia Crenn hatte ihren Mann geliebt und seine Geduld, mit der er das langfristige Ziel, für Tysandra den Thron zu sichern, verfolgt hatte. Doch weniger angetan war sie von den Dingen gewesen, die er in den letzten Wochen getan hatte: Es war ein Fehler gewesen, ein Versteckspiel gegen die Hüter Blyrtindurs einzugehen, sich ihnen sogar zu zeigen, nachdem er all die Jahre zuvor so darauf bedacht gewesen war, dass niemand sein wahres Gesicht oder das, was er am liebsten trug, kennen würde. War es Leichtsinn gewesen? Oder die Sicherheit und Überzeugung, dem Ziel nah genug zu sein? Oder war es am Ende sogar seine Absicht gewesen, dort zu sterben, damit der Weg für Tysandra frei wäre? Einen Abschiedsbrief hatte sie nicht gefunden. Die ganze Siedlung hatte sie absuchen lassen, aber da war nichts - kein Wort der Erklärung, kein Abschied und erst recht kein Bezeugen seiner Liebe, denn dies hatte er nie getan. Vielleicht auf seine Weise, aber nicht wie ein Mann eine Frau umwerben oder lieben würde. Sicher, das Lager hatten sie oft geteilt. Aber nur um der Säfte und um des Verlangens wegen. In der Zeit, die er damit verbracht hatte, Regentin Irinia zu befriedigen, war er jede Nacht zurück in Yphilias Bett gekommen, um sich den Dreck und ihre schwarze Seele vom Schwanz zu schütteln, wie er immer wieder gesagt hatte. Aber Liebe? In Worten oder Taten? Das war nie Szaraks Sache gewesen. Dennoch, es gab keine andere Erklärung, musste er gewusst haben, dass Tysandra zurückkehren würde, seine Tochter und ihre Ziehtochter, die nun den Thron einforderte.
Und die nun, da alle in Sicherheit waren, mit ihrer Ziehmutter sprach wie mit einem Sklaven. "Warum sind wir geflohen? Erkläre mir das, sofort!", zischte Tysandra.
"Es waren zu viele. Willst du sterben wie dein Vater? Ungeduldig und gedankenlos in den letzten Stunden?"
"Ich stehe unter besonderem Schutz, Mutter."
"Ja. Aber meine Männer nicht. Wir werden eine andere Gelegenheit bekommen, an die Essenz zu gelangen. Du hast selbst gesagt, dass du sie manipuliert hast. Sie werden dich brauchen, um das zu reparieren. Also müssen sie zu uns kommen. Und darauf warten wir. Das ist mein letztes Wort", zischte Yphilia nun ihrerseits.
"Sie kommen hierher?", fragte Tysandra.
"Nein, das nicht. Aber sie werden in eine Falle gehen."
Etwas zufriedener nun nickte Tysandra. "Verzeih meinen Ärger. Aber die Zeit drängt."
"Ja. Überlasse mir die Strategie. Du bekommst die Toten."
Nun lächelte die Ziehtochter, erhob die Arme und ließ sich von den Krähen auf einen Thron aus Holz tragen. Dann hob sie den Kopf und murmelte. "Wir haben einen Gast."
"Soll ich die Wachen rufen?"
"Nein. Ich begrüße ihn selbst."
Cleophos
Seine Tat war nicht rückgängig zu machen. So wie Jorgan es ihm befohlen hatte, hatte Cleophos dem Befehl Folge geleistet: "Töte den, der sich Fischer aller Fischer nennen wird, denn er ist es nicht." Der Mann, der ihn einen Scharlachroten Tod genannt hatte, war immer ein Rätsel geblieben. Doch alles, was er ihm gesagt hatte, war haargenau so eingetroffen. Velas trug den gleichen Namen wie der erste Heilige Vater, der laut Jorgan der einzig wahre Fischer aller Fischer gewesen wäre. Und dessen Noncorpus war im Leibe von Gregorianus und Velas, der nunmehr Anführer in Terra Brumalis geworden war. Der Noncorpus musste vereint werden in Velas.
Dass Präfekt Nazarius seine Leute und auch die Skjöldburer mit einem Doppelgänger des Heiligen Vaters getäuscht hatte, hatte Cleophos nicht geahnt. So war er zwar nun nicht der Mörder von Gregorianus, wohl aber hatte er einen Unschuldigen auf dem Gewissen, einen Mönch namens Mikandras - der einzige Mann, der Dakhil in dessen Gefangenschaft in Tectaria Gnade und Mitleid erwiesen hatte. Nun, Allyen würde ihn ohnehin festnehmen wollen, sobald die Spiegel eingesetzt worden wären. Ein weiteres ihm zur Last gelegtes Verbrechen machte kaum noch etwas aus.
Es war aber nicht so, dass Cleophos den Tod des Mönches nicht bedauern würde. Aber es war nicht zu ändern. Wie so vieles nicht. Die Opfer, die er selbst gebracht hatte, sie waren kaum noch zu zählen. Anfangs hatte Cleophos sich geschämt und sich selbst einen Narren genannt, wenn er daran gedacht hatte. Aber heute erfüllte es ihn eher mit Zorn, dass andere nicht erkannten, wieviel er für Blyrtindur, die Quelle und den Kampf gegen die Malstromwesen gegeben hatte, nur um am Ende als Verbrecher zu gelten, für den der Strang beinahe eine Erlösung wäre. Nicht etwa, um zu sühnen, denn hatte er nicht alles auf Weisung Jorgans getan? Es wäre eher eine Erlösung von einer Krankheit, die ihn innerlich auszehrte. Eine Seuche, die sich in seinen Gedanken und Gefühlen über all die Jahrzehnte hinweg ernährt hatte; sie fraß seine Liebe zu Tysandra vom Augenblick der Eheschließung an; sie ernährte sich von allen freundschaftlichen Banden, die er je gekannt hatte, von seinen Ruhmestaten im Bürgerkrieg, als er an Lerhons Seite gegen die Torbrins gekämpft hatte und auch von allen anderen Dingen, die er je gedacht oder gefühlt hatte: Es war die Sehnsucht.
Die Sehnsucht, wieder die Quelle zu spüren, ihr Wasser zu fühlen und zu schmecken, den Wind zu spüren, die Gedanken der Schildkröte Blyr zu hören. Wenn er Gespräche führte, hier in Skjöldbur, dann war er nie ganz er selbst. Immer führten seine Gedanken zur Quelle zurück. Wenn er lachte, dann war es gespielt, denn in Wahrheit wollte er weinen wie ein Kind, dem man die Puppe weggenommen hatte. Und wenn er aß oder trank, dann fehlte nicht viel und er würde sich übergeben. Er würde sein Innerstes ausspeien und wie Kehricht in ein tiefes Loch würgen, sein Blut opfern und sein eigenes Herz in den tiefsten Schlund der Erde werfen, wenn es ihn zurück zur Quelle tragen würde. Alles würde er dafür hergeben.
"Wirklich alles?", fragte eine Stimme, die ihn Tag und Nacht heimsuchte. "Du musst nur das Lied von der Raupe Nimmersatt singen, und ich bringe dich zur Quelle."
"Nein", dachte er. Und doch wollte er etwas anderes antworten.
Aran
Mit größtem Ärger und Missmut ließ sich Aran berichten, dass es den Skjöldburern gelungen war, den Golem Jorgans zu rauben. Vor allem das Wie erzürnte ihn. "Der Prophet hat euch befohlen, sie gewähren zu lassen? Warum sollte der Mann in Schwarz dies tun?", fragte er Szynric.
"Weshalb, Aran, sollte ich ihn danach fragen? Seine Worte sind die Worte von Hrabanus, dem Weinenden Gott, der die Sterne sieht. Es gab keinen Grund, dessen Wort zu bezweifeln. Oder?"
In den letzten Tagen waren Arans Bemühungen, sein Volk im Namen des Weinenden Gottes in eine goldene Zeit zu führen, nicht gerade von Erfolg gekrönt gewesen. Jogrimur hatte eine der drei Nebelessenzen aus dem Schelf verloren, der andere Golem Jorgans war von den Kriegern des Winterkönigs gestohlen worden. Nicht nur, dass sie diese Kreaturen nicht verwandeln konnten, nein, ihre Waffen töteten und die Toten verwandelten sich auch nicht. Und sie hatten keine Furcht vor den Wesen des Malstroms, vor den Kindern von Hrabanus. "Hat der Prophet die Worte des Weinenden Gottes nicht erklärt?"
"Nein, das hat er nicht. Und das muss er auch nicht."
"Du glaubst also immer noch, dass Hrabanus uns in das Licht der Erkenntnis führt, durch seine Hand Zhaerius? Glaubst du, wir werden jemals das Mysterium sehen und damit den Sinn unseres Lebens?", fragte er Szynric mit einem zynischen Lächeln auf den ansonsten leblosen und fahlen Lippen.
"Daran glaube ich. Daran glaubt auch Liranus, dein und mein König, wenn ich dich daran erinnern darf."
Ach ja, Liranus. Der eine Stadt an der Nebelküste errichten wollte, als gäbe es gerade nichts, das wesentlicher wäre. "Schon in seinem alten Leben war Liranus ein Idealist. Und schau, was es gebracht hat. Hier sind wir nun."
"Du bedauerst, was du bist?"
"Nein. Ich bedaure nur, was ich geworden bin. Ich diene. Ich versuche, für uns alle das Beste zu erreichen. Aber das muss nicht bedeuten, dass ich mich nicht an das erinnere, was gewesen ist. Ist es bei dir anders, Szynric?"
"Mein Leben als Diener der Kelten ist vorüber. Ich habe nun einen Gott, der sich erinnert, wer seine Kinder sind."
"Ja. Eingesperrt auf einer von der ganzen Welt verdammten Insel, die wir nicht erreichen können, nicht wahr?"
Szynric wollte gerade antworten, als Aran eine Idee kam: "Oh, Augenblick. Es gibt einen Weg, wie wir Zhaerius und seine Absichten prüfen können. Ich möchte mit Liranus sprechen. Vielleicht kann er die Insel der Finsternis erreichen - immerhin starb er dort und kehrte ebenso dort als einer von uns zurück."
"Eine weise Idee. Ich schicke ihm einen Boten", antwortete Szynric und verließ das Schattendorf in den Ostlanden Blyrtindurs.
Immer noch verärgert schaute Aran auf sein Ecaloscop. Sie hatten es in einem verlassenen Lager Crenns entdeckt. Von dessen Tod hatte Aran gehört und mit Bedauern vernommen, dass seine Leiche verbrannt worden war. Auch hatte er vernommen, dass Tysandra, das Eheweib von Cleophos, einem ehemaligen Hüter, zurückgekehrt war. Auch aus ihr hätte man sicher verwertbares Wissen bekommen, wäre sie nach dem Tod nicht verbrannt worden. Aber wieso war sie nun lebendig? Vielleicht hätte Hrabanus auch darauf eine Antwort.
"Ist jemand dort?", fragte plötzlich eine Stimme durch das Ecaloscop.
"Wer spricht da...?", fragte Aran leise und vorsichtig.
"Sag mir erst, wer du bist!", forderte die Kinderstimme.
Nour
Das Eheweib Dakhils hatte eine unendliche Geduld, wenn es um das Töten ging. Sich Zeit nehmen, alles vorzubereiten, sich den letzten Augenblick vor der Tat vorstellen, die Erfüllung ersehnen. Und dann, wenn einmal geschehen, verblasste das Gefühl so schnell. Wie ein Geschenk, das man erwartet - und am Ende wartete man auf das nächste. Doch ihre Ruhe währte lang. Geduld, eine ihrer Tugenden. Nur nicht dann, wenn aus Nour die schwarze Katze wurde. In diesen Momenten war nichts übrig von der Ruhe, der Geduld, der langfristigen und sorgfältigen Planung. Sie konnte kaum den Geschmack des warmen Blutes erwarten, wenn ihre Krallen sich bereits in die Brust ihres Opfers bohrten und hastig zitterten, ungeduldig und gierig. Nour war zwiegespalten. Einerseits liebte sie es, als Panther durch das Dickicht und die Dunkelheit zu streifen, nach der Beute knurrend; andererseits hasste sie es, in diesen Augenblicken nicht mehr Herr ihres Verstandes zu sein. So liebte sie den Fluch von Mond und Nebel, und zugleich verabscheute sie es, ihr Selbst abzulegen und einzutauschen gegen das Tier. Aber das Tier schützte sie, so wie der Fluch sie bewahrte vor einer Verwandlung durch das Faulwasser. Es war wie mit Dakhil. Liebe und Hass, so nah zusammen, dass sie ein Kind zeugen könnten. Und doch schien für allzu viel Liebe kein Platz mehr in Nour zu sein. Betrogen und verraten. Mit dem Tod Tysandras hatte ihr Rachefeldzug begonnen, und als sie Varcus entdeckt hatte, war ein weiteres Ziel gefunden worden. Varcus, dem sie so viel Pein und Angst zu verdanken hatte. Varcus, der Schlächter. Und auch wenn er nun ein Wolf war, so fühlte sie kein gemeinsames Blut. Alles, was aus Tectaria gekommen war, war so faulig wie die Wesen des Malstroms! Bald schon würde er ihr Festschmaus sein, genau wie Zhaerius, genau wie Dakhil.
Und so wie der, den sie gerade in ihrer Gewalt hatte. "Sage mir, wo ich ihn finde. Vielleicht verschone ich dich dann", zischte die Hun.
Der tectarische Matrose, vielleicht gerade fünfzehn oder sechzehn, jammerte. "Bitte, ich weiß nicht, wo der Präfekt ist, wirklich nicht."
Nour hatte ihn in der Nähe von Edailech gewittert, verfolgt und gestellt. "Wenn du auf seinem Schiff dienst, dann musst du auch wissen, wo er ist. Deine Freunde haben die Küstennähe verlassen - warum?"
"Ich war überfällig, ich kann nicht sagen, wohin sie sind. Aber ich kenne vielleicht den Grund. Bitte lasst mich leben, ja?"
Sie lächelte. "Ich hege keinen Groll gegen dich, Junge. Sage mir, wieso sie abdrehten, und ich lasse dich gehen. Du hast dein Leben noch vor dir, auch wenn du es für einen seelenlosen Sohn einer Hure verschwendest."
"Es ist weil der Heilige Vater zu Tode gekommen ist, in Midgard."
"Tatsächlich?", fragte sie ohne Bedauern. "Er ist tot?"
"Ja, das ist er. Sie segeln vielleicht nach Norden, und sie haben mich vergessen. Bitte, lässt du mich gehen?"
"Wenn sie wirklich nordwärts fahren, welche Route nehmen sie? Eine der üblichen oder ziehen sie es vor, sich zu verstecken?", fragte Nour und drückte den Dolch fester an die Kehle des jungen Tectariers.
"Als wir kamen, fuhren wir die Handelsroute entlang, zwischen Bretonia und Midgard. Vorbei an einer Insel."
"Welche Insel?"
"Die Bäume stehen hoch, und es ist wärmer als üblich, obwohl es Winter ist", antwortete er.
"Diese Insel kenne ich. Sie ist nicht weit von hier. Du hast deine Sache gut gemacht. Wie ist dein Name?"
Sie führte den Dolch weg von seiner Kehle und zurück in ihren Gürtel. Harmos, so stellte er sich vor, sah in ihre Augen. "Ich werde auch nichts verraten. Bitte, glaubt mir das."
"Natürlich wirst du das nicht. Weil du weißt, dass ich dich finden werde. Nicht wahr?"
"Ja, das weiß ich, ja", sagte Harmos, und sie ließ ihn aufstehen. Er neigte einmal den Kopf, nahm sein Bündel und ging hastig ein paar Schritte rückwärts. Nour ließ ihn ziehen. Er war bedeutungslos. Aber als er hinter einem Hügel verschwand, da fühlte sie das gehasste und geliebte Gieren nach Blut. Ein stechender Schmerz, und eilig lief ein Panther zwischen den Bäumen seiner Beute nach. Sie sprang an seine Kniekehlen, Harmos fiel zu Boden, kroch schreiend nach hinten, aber war natürlich zu langsam. Die schwarze Katze schlitzte seinen Rücken auf und brach ihm das Genick, bevor sie sein Blut trank und ein paar Fetzen Fleisch verspeiste. Sie lief noch ein paar Stunden umher, bis sie sich an das Gespräch erinnerte: die Insel. Vielleicht machten sie dort Halt, um Vorräte zu sammeln. Die Bretonen verwehrten ihnen Märsche ins Inland, höchstens ein Matrose wie der junge Harmos wäre nicht aufgefallen.
Da sie noch Zeit hatte und von Aethel noch nicht wegen der Waffe gegen den Mann in Schwarz informiert worden war, schlich Nour in die Nähe der Werft, wo sie ein kleines Segelschiff stahl, das man allein bedienen konnte. Die Wellen trugen sie zusammen mit dem Wind gen Norden, und nach einigen Stunden war bereits Land in Sicht. Die Schiffe des schwarzen Kreuzes waren nicht zu sehen, aber die schwarze Katze witterte Menschenfleisch und verwandelte sich, nachdem sie das Schiffchen in einer kleinen Bucht versteckt hatte. Hier war das Wetter wirklich angenehmer, und die Kälte war nicht so sehr zu spüren. Vorsichtig lief sie zwischen den Bäumen umher, erkletterte einen davon und spähte in die Siedlung, die von der Zeit vergessen worden war. Menschen. Tatsächlich. Aber keine Tectarier. Plötzlich fuhr die Katze herum, denn sie witterte noch etwas anderes. Ein Vogel ließ sich mutig nieder und schien sie anzusehen.
"Willkommen", flüsterte die Krähe.
"Wer bist du", zischte Nour und ging in eine Angriffshaltung.
"Oh, wir kennen uns. Mein Name ist Tysandra."
"Ich habe keine Zeit für Scherze. Was für ein Zauber ist das?"
Plötzlich saß sie neben ihr: Tysandra. "Keine Angst, ich vergebe dir. Ich will dir etwas vorschlagen, liebste Nour."
"Wie hast du es geschafft?", flüsterte Nour, bereit, sie wieder und wieder zu töten.
"Ich kann dir geben, was du willst. Sieh nur, wer dort ist. Sollen wir ihn gemeinsam begrüßen?", fragte Tysandra und zeigte auf den Mann, der sich den Bäumen näherte.
Baelon
"Den Göttern sei Dank", murmelte Baelon, als er einen weiteren Brief Allyens erhielt, der ihn über die Lage in Midgard informierte. Sein Vater hatte sein Ansinnen, den Heiligen Vater zu töten, nicht in die Tat umgesetzt. Erst war es wohl so erschienen, dass ein anderer - Cleophos - es getan hätte. Über die Gründe schrieb Allyen nicht viel, aber offenbar befanden sich im Heiligen Vater Gregorianus und in Velas von Aestrinor Teile eines Noncorpus - entstanden vor dem Tod des ersten Heiligen Vaters Tectarias, dem wirklichen Fischer aller Fischer: mit dem Namen Velas. Dass dies kein Zufall war, wusste man auch, ohne ein Nordmann zu sein. So konnte Baelon nur hoffen, dass sein Vater und die Skjöldburer umsichtig genug wären, einen anderen Weg zu finden, den Noncorpus in Velas zu vereinen, damit Velas, Dakhil und jemand namens Jan die Wesen des Meeres in den Kampf gegen die Wesen des Malstroms führen würden, sobald die Lieder geborgen wären. Dass eine weitere Partei, die Krieger eines sogenannten Winterkönigs, aufgetreten war, aus dem fernen Schelf, schrieb Allyen ebenso. Baelon beauftragte Maga Minerva, mehr darüber in Erfahrung zu bringen.
Jetzt widmete er sich den inneren Angelegenheiten. "Sind sie schon eingetroffen?", fragte er den Hausdiener. "Ja, Mylord." "Bittet sie herein."
"Willkommen. Setzt Euch. Es gibt einiges zu besprechen", sagte Baelon, als Emes und Lethos Mercutio eingetreten waren.
"Allerdings", murmelte der Bretonianer, während Mercutio lediglich nickte.
"Beginnen wir mit den Dokumenten", sagte Baelon, "sie scheinen ja ziemlich brisante Informationen zu beinhalten. Offenbar, so verkündet es der verschiedene Szarak Crenn, handelt es sich bei der Königin um eine illegitime Herrscherin. Er begründet dies mit verschiedenen Argumenten und Stammbäumen: Zuerst spielt er auf die unangenehme Wahrheit an, dass nicht König Lerhon der Vater und Erzeuger Theresias war, sondern ein tectarischer Bischof. Da müssen wir nicht nachforschen, um dies zu bestätigen. Königin Annieshe hat dies Zeugen gegenüber bestätigt, und auch Herrin Lariena, die sich Theresias annahm, nachdem man sie aus einer tectarischen Festung in Marjastika befreite, würde dies bejahen. Zweitens erwähnt Crenn, dass Theresia damit als Bastard gelte. Dies mag eine Tatsache sein, aber die Thronfolgen sind im bretonischen Recht nicht eindeutig. Somit wären diese Vorwürfe allein zwar wahr, aber haltlos. Niemand würde allein deshalb die Königin und ihre Macht anzweifeln. Beunruhigender sind die Stammbäume und deren Anmerkungen, nach denen erstens König Lerhon kein Breton war, sondern der illegitime Sohn eines namentlich nicht genannten Ritters, der vor seinem Tod in der Schlacht König Darius gebeten haben soll, sich seines Sohnes anzunehmen. Ein zweiter Stammbaum zeigt, dass Szarak Crenn entgegen der bisherigen Vermutungen nicht der Sohn des beim Angriff der Blodhord auf die Festung Nordstein verstorbenen Hetmans Rokil gewesen wäre, sondern tatsächlich leiblicher Sohn von König Darius, den er mit einer Zofe gezeugt haben soll. Ich möchte nicht nervös erscheinen, aber das scheint mir mehr zu sein als eine bloße Behauptung, wenn jemand sich eine solche Mühe macht. Zudem es erklären würde, weshalb Darius seinen leiblichen Sohn verleugnet und lieber einen bretonischen Jungen als seinen Sohn - ich meine also Lerhon - angegeben und anerkannt hat. Wie gesagt, das Thronfolgerecht ist hier nicht eindeutig. Man könnte also sagen, dass all das unerheblich ist. Nur haben alle Wilderlandlords, die Gilden und auch die Kirche Abschriften aller Dokumente erhalten. Außerdem bestünde - wenn dies alles stimmt - ein durch das Recht gültiges Interesse eines Nachkommens von Crenn, den Thron zu fordern. Das ist dann auch der springende Punkt: Nachdem sich herausstellte, dass Tysandra Aestrinor, Ziehtochter eines Mannes namens Jorgan Fausten, leibliche Tochter von Szarak Crenn, mitnichten tot ist, sondern sehr lebendig gesehen wurde, als das Lager von Priester Ascanio angegriffen wurde, handelt es sich bei ihr also um diesen Nachkommen. Emes, was habt Ihr erfahren?"
Emes trank einen Schluck Wasser, dann antwortete er. "Es darf als gesichert gelten, dass Crenn keine weiteren lebenden Nachkommen hat. Nachforschungen in Nordstein, sowie das Durchforsten der Bibliotheken, Stammbäume und aller Ahnentafeln aus dieser Zeit beweisen, dass es einen Ritter gab, dessen Sohn angeblich im Kindbett starb. Sir Markens Sohn wurde in derselben Zeit geboren wie Lerhon. Und zwar im Norden, genau wie Szarak Crenn. Über den Aufenthaltsort von Yphilia Crenn habe ich noch keine Informationen. Tysandra Aestrinor, wenn sie es denn ist, wurde an der Abtei gesehen. Abt Aldwyn verwehrte ihr den Eintritt. Sie bat um einen Krug Wasser, den sie auch bekommen hat und verließ den Ort. Eine Verfolgung ergab nichts: Hinter dem nächsten Hügel war sie verschwunden."
"Hat sie etwas gesagt? Was wollte sie dort?", fragte Baelon.
"Ihr Kind sehen, das sie im Sterben zur Welt gebracht hat. Nachdem sie von Nour angegriffen wurde, der Ehefrau Dakhil Al Khans."
Baelon nickte besorgt. "Das Kind, ja. Es ist nicht mehr sicher in der Abtei. Ich werde mich erkundigen, ob es einen Weg gibt, es seinem Vater zu übergeben. In Velas von Aestrinor habe ich mich vielleicht getäuscht. Werter Lethos, erleuchtet uns. Was gibt es zu wissen und zu erfahren?"
Mercutio nickte bedächtig, dann ergriff er endlich das Wort. "In der Tat war Tysandra an der Abtei. Abt Aldwyn hat mich umgehend informiert. Sie hat mit Absicht um einen Krug Wasser gebeten, nehme ich an. Denn ich habe ihn untersucht und die Rückstände mit der Asche der Verstorbenen vergleichen wollen: Die Asche ist fort. Niemand hat etwas gesehen, und die Grabstätte blieb unberührt. Ich habe schließlich alte Kleidungsstücke Tysandras zur Untersuchung benutzt. Es gibt keine schwarzmagischen Spuren, keine Rückstände irgendeiner Zauberei oder göttlichen Wirkens. Ich kann mit Sicherheit sagen - zu diesem Zeitpunkt - dass es sich bei der Auferstandenen um Tysandra Aestrinor handelt."
Baelon spürte noch größere Sorge. "Sie muss gefunden werden. Und in Gewahrsam gebracht werden. Damit steht und fällt alles andere. Wir sind ein gefundenes Fressen für die Malstromwesen, Söldner Crenns streifen noch umher, und Zhaerius von Maegranth ist immer noch frei. Dies alles könnte ein Emporkömmling wie Tysandra nutzen. Es spielt in ihre Hände. Ich werde die Wilderlandlords vorerst beruhigen können, aber man erwartet Erklärungen, langfristig."
Sie sprachen noch einige Stunden über weitere Maßnahmen. Dann, nachdem er Emes und den Lethos dankend entlassen hatte, nahm er sich für eine andere sehr wichtige Angelegenheit Zeit: Lariena war zurück. Er erwartete sie in seiner Stube und ließ eine Mahlzeit herrichten. Vielleicht hätte er heute mehr Mut, ihr zu sagen, wie es um sein Herz bestellt wäre.
Der Mann in Schwarz
In seinen wirren Träumen floh er immer wieder durch die Wüste, verfolgt von Dakhil, dem Fürsten aller Tierfürsten. Wenn er aufwachte, erinnerte sich der Mann in Schwarz an alles. Dann sang er wieder das Lied, um sich zu beruhigen. Selbst wenn er zu Caldorvan sprach, den er sich zu Diensten gemacht hatte, war es ihm, als würde er hinter sich die Skorpione ausmachen, die ihn an den Boden fesselten, damit der Panther ihn töten könnte. "Nichts kann mich töten, nichts", flüsterte der mit den vielen Namen immer wieder, wenn die letzte Zeile des Liedes gesungen war. "Nichts kann mich töten, nichts." Ja, Namen trug er viele. Man nannte ihn einst Zhaerius, aber in Wahrheit war er der Schwarzstern, den man auch Khaliq nannte, den Herrn der Plagen. Manchmal rief man ihn auch den Nachtfalter oder den Schwarzen Schmetterling. Herr der Siechen, Zerstörer des Erschaffenen. Es gab so viele Namen, dass er - wenn die Furcht ihn einholte wie ein Skorpion in der Wüste - manchmal nicht mehr wusste, wer er wirklich war. Erst das Lied von der Raupe Nimmersatt erinnerte ihn wieder daran. "Du bist Ricardus, dessen Herz vom Schwarzstern getrunken hat. Du bist Ricardus Schwarzstern, der Herr der Plagen. Dein Name ist Khaliq, vergiss das nicht", flüsterte er. Dann wieder: "Nichts kann mich töten, nichts."
Es gab so vieles, das noch zu tun war. Er hatte die Nachrichten aus Tectaria vernommen. Die Krieger des Winterkönigs und die Präfekten Nazarius, Varcus und Saphian hatten einen Pakt mit ihnen geschlossen. Der Mann in Schwarz verfluchte den Winterkönig und auch sich selbst: Wenn der Schwarzstern nicht vor langer Zeit Jorgans Frevel gefördert hätte, dann wäre Jorgans Rücken niemals von Ormur erobert und anschließend vom Winterkönig übernommen worden. Der Fluch von Mond und Nebel wäre nie über das Schelf in alle Winkel der Welt gelangt. Doch andererseits, das war die Ironie, hätte er nie durch die Finsternis und Hrabanus die Wesen des Malstroms, die Plage aller Plagen, rufen können. Das Schicksal aller Seiten war miteinander verknüpft. So, wie es das Sigillum Dei vor langer Zeit Pytharas geweissagt hatte.
Als der Mann in Schwarz vom Erwachen und der Ankunft der Krieger des Winterkönigs erfahren hatte, hatte er erkannt, dass er diese Möglichkeit nie in Betracht gezogen hatte. Die Legenden und Mythen waren so alt, dass selbst er sie als falsch und ungenau betrachtet hatte. Wie sehr er sich irrte! Also hatte er schnell gehandelt und einen anonymen Brief an Varcus, Nazarius und Saphian geschrieben, sie mögen das Sigillum Dei befragen, um einen Weg zu finden, die Plage zu bekämpfen. Es würde sie erstens ablenken von den Liedern und zweitens wäre es eine Einladung an den Winterkönig, seine Augen auf Tectaria zu richten. Warum den Pakt zwischen Tectaria und dem Thron des Winters nicht bestärken, anstatt sinnlos Krieger gegen sie zu schicken, wenn das Ergebnis schneller erreicht wäre?
Das Sigillum Dei war das lebendige Wort des tectarischen Gottes. Der Mathematiker Pytharas hatte es, bevor er vor der Kirche hatte fliehen müssen, für den ersten Heiligen Vater übersetzt. Seitdem lagen die Heptagramme ungenutzt in den Kerkern der Kirche. Aber der Mann in Schwarz war sich sicher, dass sie geborgen wurden, als Varcus und der Heilige Vater das Land verlassen hatten. Mit der Macht der Erschaffung, die ihm gegeben worden war durch Amurs Stab, hatte der Mann in Schwarz ein neues Sigillum erzeugt: Die Sprache des Herrn, die er zu den Engeln rief - selbst dies war ihm möglich zu tun! Und Varcus und Nazarius schienen seinen Worten zu glauben. Saphian, der daran gezweifelt hatte, hatten sie ermorden lassen. "Tötet den Heiligen Vater. Die Krieger des Winters stehen Euch zur Seite." Dies und noch andere Worte fanden sie also auf den Heptagrammen, die Sylthir ihnen übersetzt hatte - bevor auch er verwandelt worden war. Der Plan muste so gelingen, musste einfach!
Derweil er im Tal des Feuers weiter nach Zada suchen ließ, sprach er zu seinem Wirt Zhaerius. "Du hast mich sehr enttäuscht, als du mir geraten hast, die Insel mit der Quelle aufzusuchen. Dass sie mich für eine Weile unterdrücken kann, habe ich erst jetzt verstanden. Du darfst sprechen, Zhaerius."
"Ich werde immer wieder gegen dich kämpfen. Du brauchst diesen Körper, das solltest du nicht vergessen, wenn du mir drohst."
"Dann weißt du vielleicht nicht, dass ich langfristige Pläne habe. Ich werde bald nicht mehr auf diesen Leib angewiesen sein. Und dann solltest du zu Leban beten, dass dein Ende ohne Qualen ist. Erinnerst du dich, wie wir Freunde wurden, du und ich? Du warst ein Kind, unschuldig und schrecklich unbedeutend. Dank mir hast du Blyrtindur und seine Quelle gesehen, vergiss das nicht."
Zhaerius lachte. "Ich bin dir dankbar."
"Wie meinst du das nun?"
"Nun weiß ich, dass du gelogen hast. Du hast gesagt: Nichts kann mich töten, nichts. Wenn du also diesen Leib nicht mehr benötigst, irgendwann, sagt es mir, dass man dich töten kann."
"Das ist nur Geschwätz", sagte der Mann in Schwarz. Und doch war da etwas in Zhaerius Stimme, das ihn zunehmend beunruhigte.
"Dann höre nicht zu, Khaliq", antwortete Zhaerius.
"Wovon sprichst du, sag es mir!"
Aber Zhaerius antwortete nicht mehr. Panisch versuchte der Mann in Schwarz, sich zu erinnern, wovon Zhaerius auf der Insel gesprochen hatte, als er gemeinsam mit Maga Aethel und den anderen gegen die Krieger des Winterkönigs gekämpft hatte. Um Zhaerius abzulenken, sang er das Lied. Immer wieder. Er zeigte ihm die Bilder, wie aus der Raupe ein Schmetterling geworden war. Und da war es. Ein Bild, ein Gegenstand. Etwas, das Ricardus Schwarzstern fast vergessen hatte: die Lampe. "Nein, Zhaerius, ich bin dir dankbar!"
"Prophet", brummte eine Stimme aus dem Ecaloscop.
"Aran, was gibt es zu berichten?"
"Ich sage dir, wo das Kind Zada ist, wenn du mir eine Frage beantwortest."
"Seit wann muss der Prophet auf deine Befehle hören?", zischte der Mann in Schwarz.
"Seit sein Wort eine große Lüge ist."
Gwayan
Viele Tage waren sie schon durch den Reifwald gewandert und hatten die alte Hütte Jorgans hinter sich gelassen. Der Eindringling war keiner gewesen: Es war ein Valkyn, ein alter Jäger, mit einer überaus interessanten Geschichte. Als sie einander vorgestellt und jede Feindseligkeit begraben hatten, waren sie zusammen am Feuer gesessen:
"Wie konntest du Garsils Elementar überwinden?", fragte Gwayan.
Der Jäger schmunzelte und zeigte seine abgenutzten Zähne. "Es gibt Wege, wie man mit ihnen spricht. Ich bin kein Feind, und euer Freund hat dies gesehen. Gibst du dich damit zufrieden, Einohr?"
Er nickte. "Ja, das reicht uns vollkommen aus. Aber, sage mir, was verschlägt dich in diese eisigen Weiten? Und das in diesen schlimmen Zeiten?"
"Du möchtest wissen, ob ich mich fürchte vor den Kriegern des Winters, vor dem Winterkönig?", fragte der Jäger und schmunzelte wieder.
"Wenn du es so sagst: ja. Der Winterkönig ist erwacht, und immer mehr seiner Krieger gehen mir nicht ins Netz und ziehen südwärts."
"Ein klirrender Heerwurm bewegt sich nach Süden, ja. Und nicht nur in die Gefilde Midgards streben sie. Auch weiter im Süden werden sie eintreffen. Sie bewegen sich durch das Wasser und über die eisigen Straßen. Und die Wesen der schwarzen Quelle können ihnen nichts anhaben."
"Das beantwortet meine Frage nur ungenau, Freund..."
"Ich fürchte mich nicht. Ja, der Winterkönig mag grausam sein, und ihm sind Eis und Wind und Schnee zu Diensten, genau wie seine unheimlichen schwarzen Krieger aus dem gefallenen Geschlecht, deren Herzen so verbraucht und dunkel sind wie seines. Und doch ist er ein Emporkömmling!", erboste sich der Jäger und schlug mit der Faust auf den Tisch, dass die Alte Krähe kurz erschrak. "Ein Emporkömmling?", fragte sie.
Der Jäger nickte bekräftigend. "Er kam aus den Nebeln und griff meinen König an, den wahren Herrscher von Jorgans Rücken! Den Thron des Winters hat er ihm geraubt und daraus einen Hort der Finsternis gemacht, der Dunkelheit, die gegen jedes Licht strebt."
"Wer war dein König?", fragte Gwayan.
"Ist! Er lebt, und eines Tages mag er zurückkehren und sich nehmen, was sein ist. Heute nennt man ihn Ormur. Und er ist sicher schon dabei, seine Armee zu sammeln, um in einem letzten Bündnis den Thron des Winters, den Winterhain zu retten. Nun aber sage mir, warum seid ihr hier?"
Gwayan blickte prüfend zur Alten Krähe. Sie gab schweigend Zustimmung. "Wir wollen sehen, was die Pläne des Winterkönigs sind. Einen Weg finden, ihn zu vernichten. Und um die Krähen meines Freundes hier zu befreien. Denn sie wählten den Winterhain als einen Ort der Ruhe - ohne zu ahnen, was dort tatsächlich lauert."
"Deine Krähen sind in großer Gefahr, alter Mann", sagte der Jäger.
Die Alte Krähe senkte den Kopf. "Ich kann nicht sagen, wieso sie diesen Ort zur Erneuerung gewählt haben. Aber ich muss sie retten."
"Es ist der Weg, der euch verheißen wurde, sonst wäret ihr niemals hier und so weit gekommen. Der Winterkönig fürchtet sich, dass sein Nebel gestohlen wird. Darum schickt er seine Armeen, um jeden Widerstand gegen ihn zu ersticken, bevor er wachsen kann. Und zu deinen Krähen: Ich habe sie gesehen."
"Geht es ihnen gut?", fragte die Alte Krähe hastig.
"Der Winterkönig hat auch sie in seine Obhut genommen. Wie den Weißen Wolf. Alles steht auf Messers Schneide. Er erwartet mehr Macht, wenn er sie beherrschen kann. Macht über die Toten. Denn er kennt die Legenden über die Krähe Morrighan."
Gwayan nahm noch einen Schluck heissen Wein. "Woher weißt du das alles?", fragte er den Jäger. "Du sprichst, als würdest du den Winterkönig kennen."
Die Erinnerung an die Antwort des Jägers auf seine Frage ließ den alten Schamanen innerlich fast gefrieren, während sie die letzten Ausläufer des Waldes erreichten. In den letzten Stunden waren sie stetig nach oben gelaufen, sodass sie die Baumgrenze allmählich passiert hatten. Vor ihnen lag ein weites Tal, von Schluchten und alten Ruinen aus der altvorderen Zeit umsäumt. Unten sahen sie einen gefrorenen Fluss, an dessen Ufern Bäume wuchsen. Aber hier, so weit oben, wuchs nur noch die Kälte. Sie hatten sich von dem Valkyn verabschiedet, der angeboten hatte, den Eber der Alten Krähe nach Skjöldbur zu geleiten und waren wieder zu dritt. Garsils Elementar machte ein paar Schritte, um sicheren Stand für seine Begleiter zu finden, dass sie einen Pfad in das Tal finden würden. Denn auf den Anhöhen und Bergen waren sie leichte Ziele für die Diener des Winterkönigs.
Plötzlich - sie waren noch immer auf der Anhöhe - hörte Gwayan ein eisiges klirrendes Geräusch, gefolgt von einem Grollen. Ein zweiköpfiger Drache, so weiß wie der Schnee, spuckte seinen kalten Odem aus. Gwayan warf sich auf die Alte Krähe, und sie stürzten zurück zwischen die Bäume. Der Eisstrahl traf auf einen Stein. Gwayan versicherte sich, dass es dem alten Nordmann gut ging, nahm seine Keule und versteckte sich hinter einer dicken Tanne. Garsils Elementar nahm einen großen Brocken Gestein, zielte und traf den schwarzhäutigen Reiter des Drachen, der in die Tiefe fiel. Der Drache aber holte wieder tief Luft, machte eine große Wende in der Luft und wollte gerade seinen Odem gegen das Elementar hauchen, als Gwayan ein Wort sprach und Ranken, so dick wie der Baum selbst, aus dem unter dem Schnee verborgenen Erdreich kamen, nach den Flügeln des Ungeheuers griffen und es gegen die Seite des Berges schmetterten. "Das war knapp!", rief die Krähe.
Als Gwayan sich umsah, konnte er nur noch rufen: "Vorsicht, alter Mann!" Vier Krieger des Winterkönigs waren ihnen lautlos die ganze Zeit gefolgt. Garsils Elementar fuhr herum, sprang über einen Fels und nahm mit dem linken Bein etwas Geröll mit, das es gegen den ersten Krieger beförderte. Dieser fiel zu Boden. Die anderen zogen ihre Klingen und stürmten auf die Alte Krähe zu. Gwayan warf seine Keule, um dem vordersten Krieger den Weg abzuschneiden - es gelang, und der Krieger stolperte. Die Krähe murmelte einige Worte und ließ längst Vergangenes auferstehen - im Gegensatz zu Gwayan konnte er seine Zauberei in Gegenwart der Krieger ausüben. Ein durchscheinender Krieger, der Geist eines Nordmannes, tötete den nachfolgenden Krieger. Gwayan hatte Zeit, sich dem letzten zu nähern. Dieser aber wich geschickt seinem Angriff aus, und ein Schwertstreich des dunklen Kriegers traf Gwayans Bein. Der Oger sank auf ein Knie. Bevor der Krieger zum letzten Schlag ausholen konnte, traf ihn die riesige Faust des Elementars.
Zeit, sich um Verletzungen zu sorgen, hatten sie keine. Aus dem Wald, der auf die Anhöhe führte, hörten sie das Krächzen der Reitspinnen, und schon sahen sie erst vier, dann sechs und am Ende zehn Krieger, die sich schnell näherten. Die Krieger des Winterkönigs. Gwayan dachte wieder an die Antwort des Jägers: "Ich kenne den Winterkönig. Er ist der Stammvater aller Elaya."
Gwayan unterdrückte seine Furcht, indem er das Lied summte, das der Jäger ihnen vorgesungen hatte. "Es ist das Gegenstück zu dem Lied, das Zhaerius gehört hat", waren seine Worte gewesen.
Alea iacta est.
Die Würfel sind gefallen!
Die Würfel sind gefallen!
Re: Ein scharlachroter Tod
ZWISCHENSPIEL IX
Die klirrende Krone
Er hielt sein Schwert fest in der Hand, während er dem Bericht des Herolds lauschte. Aus dem Reifwald hatte man gehört, dass die Krieger des Fremden jede magische Barriere, welche die Winterwölfe errichtet hatten, ignorierten. Selbst die Runen konnten ihnen nichts anhaben. Der König hatte den Schamanen befohlen, jeden einzelnen Baum und Strauch, bis hinauf in die Berge, zu markieren. "Ich möchte, dass ein solcher Tumult und Krach im Wald ensteht, dass diese schwarzen Kreaturen glauben, der Wald selbst wäre lebendig geworden!", waren seine genauen Worte gewesen. Wie aber der Herold erklärte, dass die Krieger des Fremden unbeschadet auf ihren Spinnen durch die Wälder geritten wären und wie sie auf eisigen Wyrmern bis in die tiefen Täler geflogen wären, schlug er mit der Faust auf den eisernen Tisch, an dem seine Bärenkrieger Platz genommen hatten. "Sammelt alle Kämpfer. Wir werden sie am Tor empfangen müssen, wenn ihr Weg weiter unbeschadet und ohne Störung verläuft!"
"Herr, wir sind zu wenige", sagte der Herold leise und suchte mit seinen grauen Augen Zustimmung der anderen.
"Recht hat er", brummte Baegarn, der Anführer der Bärenkrieger.
"Und was sind die anderen Möglichkeiten? Ich sage, es gibt nur eine - auch wenn sie uns nicht gefallen wird", erwiderte Gylwar, und es entstand ein wildes Durcheinander von Gerede, Bellen und Knurren unter den Mitgliedern des Königsrates. Manche stimmten Gylwar zu, andere schienen auf einer Linie mit Baegarn zu sein; und wieder andere schwiegen nachdenklich wie der Herold. Der König spitzte die Ohren und lauschte eine Weile dem Geschrei. Dann war er auf einmal wieder ganz abwesend, so wie es häufig geschah in den vergangenen Monaten, seit der Krieg gegen den Fremden ausgebrochen war.
Die Debatten des Rates hörte er gar nicht mehr, als er sich an den Tag des Abschieds erinnerte. Wie sie ihm die Tiara gegeben hatte und ihn um das gebeten hatte, was ihre Vertrauten nicht vermocht hatten: Dholon töten, damit sein rastloses Herz schweigen würde. Dass sie in Wahrheit sich fürchtete und seinen Tod wollte, weil er eine Gefahr für alle geworden war, hatte sie nicht ausgesprochen. Und er war anständig genug gewesen, es nicht zu erwähnen, auch wenn er es in ihren Augen gesehen hatte; in diesen Augen, in die er sich so gern verloren hatte, all die Monate, die sie gemeinsam auf der Jagd gewesen waren. "Es ist nicht mehr sicher für dich, Mellwen. Du musst gehen." "Ja, ich weiß", hatte sie geantwortet, noch einmal auf das Schmuckstück geschaut und dann seine Stirn geküsst. "Wir sehen uns eines Tages wieder. Unter anderen Umständen", waren ihre letzten Worte gewesen. Die Zeit danach war er wie gelähmt gewesen, hatte die Geschäfte Baegarn überlassen müssen, denn der König hatte eine nie gekannte Sehnsucht und Traurigkeit gefühlt, nachdem Mellwen in den Süden gegangen war, zu ihrer eigenen Sicherheit. Jeden Tag war Baegarn zu ihm gekommen, um vom Geschehen auf Jorgans Rücken zu berichten. Aber der König war kaum in der Lage gewesen, zu lauschen. Eines Tages aber hatte er gespürt, dass er bereit war. Gemeinsam mit Baegarn, Gylwar und neun weiteren Kriegern war er auf den Schneebären gen Osten geritten, um den kranken Elaya, der kaum noch einen Schritt gehen konnte, ohne zu stürzen, zu vernichten. Dholons Macht war keine von dieser Welt gewesen, doch anstatt ihn auch körperlich zu stärken hatte sie nur seinen Geist nahezu unbesiegbar gemacht; niemals dürfte er Jorgans Rücken lebend verlassen - und das hatte er auch nicht getan: Sie hatten einen uralten Mann vorgefunden, der sich auf einen Stab stützen musste, um nicht zu Boden zu sinken. Aber seine Magie war zerstörerisch gewesen. Ganze Dörfer hatte er vernichtet mit nur einem Blick aus den fahlen alten Augen, die in einer entstellten Fratze eingebettet waren.
"Du. Sie hat dich geschickt? Wieso tut sie es nicht selbst? Sie hat Angst, nicht wahr? So viele Nachkommen haben wir, aber sie wagt es nicht, mir erneut in die Augen zu sehen", hatte Dholon gesagt, als er den König bemerkt hatte. "Vielleicht will sie nicht noch mehr enttäuscht sein. Du hast den Weg verlassen. Und jetzt wirst du sterben, so wie du deine Brüder und Schwestern getötet hast." Der Elaya kicherte. "Meine Brüder und Schwestern, die sich gegen mich gestellt haben? Wie konnte sie denken, dass elf Krieger es schaffen würden, mich zu töten? Und nun kommst du her, und ihr seid nur zwölf."
"Die Zwölf ist mächtig. Das hast du ihr selbst gesagt, Dholon."
"Dass er sich kaum gewehrt hat, damals...", murmelte der König in das Gewirr aus Stimmen. Obschon er leise gesprochen hatte, wurden sie alle ganz still. Der Herold nickte langsam, Gylwar und Baegarn sahen fragend zu ihrem König. "Er wusste, dass seine Zeit gekommen war", brummte Gylwar. "Ja, vielleicht..."
"Wir sollten uns nicht mit der dunklen Vergangenheit befassen. Es gibt einen Krieg zu führen. Ich sage immer noch: Wir sind zu wenige, um sie zu stellen. Sitzen wir es aus. Sie werden am Thron des Winters zerschellen, und dann jagen wir sie, wenn die Überlebenden das Weite suchen!", rief Baegarn.
"Was ist mit dem Eis?", fragte Gylwar und spielte auf seine vorherige Aussage an. Die anderen sahen schweigend zu ihm. Baegarn schüttelte nur den Kopf und blickte von Gylwar zurück zum König.
"Das Eis. Niemand kennt seine wahren Vorhaben und Pläne. Diese Wesen könnten uns ebenso verraten. Jorgan wollte nie, dass wir uns mit ihnen verbünden, denn sie sind so launisch wie die Elemente, aus denen sie gekommen sind", sprach der König und erntete viel Zustimmung. Nur bei Gylwar nicht: "Wenn wir uns selbst hier einsperren, dann sind wir leichte Beute. Unbeweglich. Sie haben Drachen. Was denkt ihr denn", sagte er in die Runde, "was sie mit den Türmen und dem Tor tun werden? Es gibt keine Rückzugsmöglichkeit, wenn wir hier verweilen. Schicken wir einen Boten zum Eis und fragen wir um Rat, vielleicht sogar Hilfe."
"Ich werde keinen Pakt mit jenen eingehen, die kein Herz haben. Für sie steht nichts auf dem Spiel. Sie werden Dinge einfordern, die wir nicht erfüllen können, Gylwar!", mahnte der König.
"Aber was, wenn wir uns ohne Hilfe dem Feind entgegenstellen? Der Fremde hat eine unbekannte Zahl von Kriegern, Spinnen, Echsen und Drachen - und wer weiß, was diesem Ungeheuer noch in den Sinn kommt?"
Baegarn knurrte. "Unsere Mauern sind stark. Weder brauchen wir das Eis noch sollten wir so gedankenlos sein und uns dieser Übermacht vor den Toren stellen. Wenn wir aufgerieben werden, dringen sie ein und dann ist alles vorbei. Es wäre ein Fehler, glaubt mir!"
"Es kann doch nicht schaden, Verbündete zu suchen! Und wenn sie ablehnen oder ihre Forderungen jenseits aller Vernunft sind, dann haben wir wenigstens alles versucht. Auf die Riesen können wir nicht hoffen, und die Haarlosen, die man Menschen nennt, sie sind kaum schlau genug, eine Schlachtreihe zu bilden. Wir haben beschlossen, niemanden sonst in diese Sache zu verwickeln - sie betrifft Jorgans Rücken. Und hier ist auch das Eis. Wieso sollten wir nicht nutzen, was uns gegeben ist?", fragte Gylwar.
Baegarn brummte und schüttelte erneut den Kopf. "Der König ist dagegen, also beharre nicht weiter darauf, Gylwar. Wir alle schätzen deine Meinung, aber es wäre töricht, einen Pakt mit unbekannten Bedingungen zu schließen. Das Eis gibt immer nur so viel preis, wie es muss. Und wir wissen auch, dass es heute ein Verbündeter sein kann und morgen ein Feind, wenn seine unbekannten Ziele es erfordern. Sie haben und sie suchen keine Freunde."
Der König schwieg und lauschte dem Disput. Manchmal kam etwas dabei heraus. Gylwar wog wohl ab, ob sein Herr etwas zu sagen hatte, aber als er sah, wie er lauschte, ergriff er wieder das Wort, während all die anderen Bärenkrieger zuhörten. "Und was ist, wenn wir nicht an morgen denken sollten, sondern an heute? Es ist gleich, ob wir sie vor den Toren erwarten oder hier innerhalb der Mauern. Der Thron des Winters wird in Nebel und Dunkelheit sinken, wenn wir keine starken Verbündeten finden. Und genau das wird geschehen, so wir nicht klug sind und Hilfe holen. Noch haben wir Zeit. Es ist noch ein weiter Weg bis sie das Wintertor erreicht haben. Es ist die letzte Bastion vor dem Thron und den Mauern. Sind wir schnell genug, dann können wir sie stellen, bevor sie das Tal durchquert haben. Von der Schlucht kann man sie schon sehen, die Zeit drängt. Und ich will alles versucht haben, versteht ihr nicht?"
"Ich verstehe sehr gut. Du bist feige und suchst Hilfe", lachte Baegarn.
"Wage es nicht!", knurrte Gylwar und zeigte Zähne.
"Ruhe! Der König will etwas sagen", rief der Herold, der wohl bemerkt hatte, wie sein Herr mit der Zunge geschnalzt und laut ausgeatmet hatte. Gylwar knurrte noch einmal leise und verengte die Augen, dann sahen er, Baegarn und die anderen zum König.
"Ich sehe ein, dass sie vor dem Tor zu stellen eine von mir unbedachte Idee war. Fallen wir dort, so ist es zu spät. Und wir können Frauen und Kinder nicht jenseits des Thrones bringen. Dort ist das Eis", erklärte er und sah Gylwar in die Augen, "und wir kennen seine Absichten nicht. Es ist die Leere. Sie gehören nicht zu uns. Sie haben keine erkennbaren Ziele. Es ist ein Risiko. Ein zu großes. Du sagst selbst, Gylwar, dass wir nutzen sollten, was uns gegeben ist. Was uns gegeben ist! Und das ist sehr viel. Wir sind die stolzen Herren von Jorgans Rücken! Wir haben das Land gegen die Riesen verteidigt, die von Jorgans Erbe besudelt worden sind und ihren Verstand aufgaben. Wir werden auch mit dieser Bedrohung durch den Fremden fertig. Wir wissen nicht, wer er ist, woher er kommt. Aber er wird verzweifeln, das sage ich euch. Uns sind Mut und Tapferkeit gegeben, meine Freunde."
Die Krieger stimmten zu und klopften auf die Tafel. Auch Gylwar und Baegarn stimmten ein. "Sichern wir das Tor, bringen wir die Frauen und Kinder aller Rudel in den tieferen Kern. So sind sie weit genug weg, sollte das Tor doch aufgebrochen werden", schlug Baegarn dann vor.
"Nein", entschied der König, "wir werden sie empfangen, aber nicht vor dem Tor oder im Tal - sondern darüber. Nutzen wir das, was wir kennen. Wir sind hier geboren, aufgewachsen. Hier haben wir geblutet und allen Fährnissen getrotzt. Baegarn, du gehst mit der Hälfte der Armee zur Schlucht. Dort stellt ihr euch in Ost und West auf und sorgt dafür, dass keiner der Krieger die Schlucht lebend verlassen kann. Gylwar, du wartest am Aufgang der Klamm mit einem Viertel unserer Armee. Der Rest sichert den Thron des Winters. Frauen und Kinder gehen in den Kern, wie Baegarn es vorgeschlagen hat."
Baegarn stimmte zu. Die anderen Krieger begannen umgehend, die Strategie zu besprechen. "Du sicherst mit den jüngeren Kriegern das Innerste", befahl der König dem Herold. "Ja, mein Herr", antwortete er, während Gylwar eine Weile schweigend den Plänen lauschte. Der König musterte ihn, nickte ihm zu, da er hoffte, auch ihn überzeugt zu haben. Zwar war er der König, aber Krieger machten ihre Sache besser, wenn sie daran glaubten. Das ersehnte Nicken folgte. Halbherzig, aber zustimmend. Es musste genügen.
Der König blieb mit nur wenigen Kriegern am Thron. Frauen und Kinder wanderten in die Tiefe, und der Herold begleitete sie. Baegarn ließ die Mannen am nächsten Tag bei Morgengrauen auf die Bären steigen, grüßte seinen König, und schon war die Heerschar auf dem Weg zur Schlucht, um den Feind aufzuhalten. Gylwars Mannen folgten ihnen nach, und der letzte Teil des Heeres besetzte die eisigen Zinnen.
Er wusste nicht, wie weise seine Entscheidung wirklich gewesen war. Aber Gylwars Aussage, dass sie nutzen sollten, was ihnen gegeben war, hatte den Anstoß gegeben. Wenn das Schicksal es wollte, dass der Feind zerschellte, dann würde es so kommen. Mut und Tapferkeit wurden belohnt.
Als der Fremde das erste Mal Erwähnung gefunden hatte, war es Gylwar gewesen, der von einem Erkundungsritt zurückgekehrt war und von ausgelöschten Siedlungen und drei getöteten Rudeln berichtet hatte. Erst hatte Baegarn die Riesen in Verdacht gezogen und war eine Woche danach zur Graufestung geritten, um sie zur Rede zu stellen. Aber alles war leer vorgefunden worden. Seltsamer Nebel war gesehen worden, Stimmen waren darin zu hören gewesen. Der König kannte den Nebel, aber dieser war anders. Es war, als wäre etwas Böses in ihm. Mond und Nebel hatten schon seit jeher ein Band, aber es wurde gestört durch etwas Fremdes - so hatte der Fremde seinen namenlosen Namen bekommen. Jorgan hatte dem König vor langer Zeit vom Schwarzstern berichtet, wie er seit Anbeginn der Zeit versucht hatte, seinen Einfluss zu erweitern und Plagen über das Land zu bringen. Von einer Sieche hatte Jorgan gesprochen, die eines Tages im Namen des Schwarzsterns kommen würde. Das Faulwasser. Aber die Krieger des Fremden waren keine Diener des Faulwassers und der schwarzen Quelle, die Jorgan am Ende selbst erschaffen hatte als der, vor dem er immer gewarnt hatte, der Schwarzstern, ihn verführt hatte. Nein, der Fremde war etwas anderes, unbekanntes. So unbekannt und fremd wie das Eis. Obschon das Eis auf Jorgans Rücken existierte und die Kälte regierte, war es weder gut noch böse, weder für den Thron des Winters noch gegen ihn - und das machte es unberechenbar. Eine Macht, die niemand erklären konnte, ging vom Eis aus. Manchmal stand es Leuten in Not bei, dann wieder ignorierte es jeden Hilferuf - was auch des Königs Grund gewesen war, sich nicht darauf einzulassen. Nein, der Fremde und seine Diener waren etwas ganz anderes.
Er hatte seine Krone abgelegt und neben sich auf den Beitisch gelegt - heute wäre er nur ein Krieger, wie alle anderen. So wartete er. Schweigend, wie die Wachen, die bei ihm geblieben waren. Gylwar und Baegarn mussten nun die Schlucht und die Klamm erreicht haben. Die Stunden der Entscheidung waren gekommen, und sie vergingen langsam. Immer wieder schaute er zur Pforte, ob sie sich öffnen mochte, damit ein Bote Sieg oder Niederlage verkünden würde. Auch seine Krieger blickten unruhig und knurrend hinaus. Dann, nach vielen Stunden, öffnete sie sich endlich. Aber es war kein Bote von der Klamm oder der Schlucht. Es war ein sehr junger Krieger, den der König mit den Frauen und Kindern in das Innerste entsandt hatte. "Mein König!"
"Was gibt es? Warum bist du nicht an deinem Platz, Junge?"
"Wir vermissen einige Frauen und Kinder. Ich kam nur her, um zu sehen, ob sie zurückgegangen sind."
"Hier wäre es viel zu gefährlich, wieso sollten sie so dumm sein?", knurrte der König.
Der junge Krieger antwortete nicht. Er hustete und spuckte Blut, und aus den vorderen Hallen hörte man Kampfeslärm, nachdem ein lautes Grollen vom Zerbersten des Außentores kündete. Eine Lanze aus geformtem Eis hatte den Jungen durchbohrt. "Das Eis...", zischte der König, "zu den Waffen!"
Dem Eis folgten die Krieger des Fremden, die den ersten und zweiten Hof und die folgenden Hallen schon eingenommen hatten. "Du bist kein König mehr", sprach die Stimme des Heermeisters des Fremden. Der groß gewachsene dunkle Krieger mit spitzen Ohren stellte sich neben das Wesen in den Saal. "Gib auf."
"Niemals!", brüllte der König und wollte sich dem Heermeister entgegenstellen. Das Eis wartete einfach. "Ihr habt uns verraten", knurrte eine Wache zu dem Wesen.
"Nein, das haben sie nicht. Es war einer von euch", spottete der Heermeister, als weitere Diener des Fremden eintraten, die Mondklingen an den Kehlen der Frauen und Kinder ruhend, die mit ihnen kamen.
"Nein...", resignierte der König.
"Gib uns deine Krone. Verlasse den Thron des Winters. Wir verschonen dich. Und wir verschonen die Frauen und Kinder. Sie werden dir nachfolgen, wenn du das zerstörte Tor durchschritten hast", sagte der Heermeister. Und das Eis schwieg einfach. Der König warf die Waffe auf den Boden, seine Krieger taten es ihm gleich. Langsam schritten sie hinaus. Überall lagen seine getöteten Krieger. Das Eis hatte dem Fremden beigestanden. Der König witterte den Verrat, von dem der Heermeister gesprochen hatte: Gylwar. Er war nicht zur Klamm geritten, sondern nach Jenseits des Thrones, um das Eis zu bitten, ihnen beizustehen. Dieser Narr. Er würde bezahlen.
Immer wieder sah der König sich um, ob die Frauen und Kinder ihm folgten. Als er das zerstörte Tor durchschritten hatte, gemeinsam mit den wenigen Getreuen, die noch am Leben waren, warfen die Krieger des Fremden die Köpfe der Frauen und Kinder über die Mauer. "Nein!", rief eine der Wachen. "Wir müssen wieder hinein, wir müssen kämpfen!", schrie ein anderer, mit Tränen der Wut in den Augen.
"Nein. Wir haben verloren. Gylwar hat uns verraten. Ihn werden wir töten - und dann erst kehren wir zurück."
Aber Gylwar kam mit den überlebenden Bärenkriegern zurück. "Mein König, Baegarn ist gefallen! Sie sind ihm mit den Drachen in den Rücken gefallen. Jemand hat all unsere Pläne an den Feind verraten!"
"Du warst es", zischte der König.
"Nein, das war ich nicht! Schau!", antwortete er und zeigte auf die Zinnen der gefallenen Festung.
Das Eis verließ schweigend die Mauern und kehrte in die Ewigkeit hinter dem Thron des Winters zurück. Es hatte wieder getan, was es wollte. Weder hatte es erobert noch einen anderen Gewinn daraus gezogen. Es ging einfach fort. Die Krieger des Fremden aber hissten das Banner aus Frost, und sie blickten schweigend auf die kleine Schar des Königs. Der Heermeister hob die Hand, um einen spöttischen Gruß zu machen. Neben ihm stand der Herold. In seinen Augen, obschon so weit weg, las der König Worte, die um Vergebung baten. Er würde seine Vergebung bekommen - wenn er tot vor ihm im Schnee läge und sein Blut sich mit dem Reif von Jorgans Rücken mischen würde.
"Wir ziehen in den Süden. Jorgans Rücken ist keine Heimat mehr für uns. Aber sie wird es eines Tages wieder sein. Jetzt müssen wir lernen. Wir müssen erfahren, wer der Fremde ist, woher er gekommen ist und wie man ihn vernichten kann", sagte der König und kehrte der Festung den Rücken zu. Seine Getreuen folgten. Gylwar ritt von da an an des Königs Seite. Nimmer mehr würde er ein Wort gegen ihn verlieren. Als sie ein paar Schritte von der Festung entfernt waren, vernahm der König ein Klirren in seinen Ohren - obwohl sie so weit weg waren, wusste er, was geschehen war: Der Heermeister hatte die Klirrende Winterkrone zerbrochen. Sein Herr bräuchte sie nicht. Der Nebel schloss mit den Jahren den Thron des Winters in ein Zwielicht ein, dass selbst die besten Augen seiner besten Späher die Himmelsspitze nicht mehr erkennen konnten. Einmal im Jahr entsandte der verstoßene König ein paar seiner Männer, um zu sehen, ob sich etwas verändert hatte. Und als er eines Tages von der Sieche hörte, dem Faulwasser, dem Schwarzstern und einem Geheimnis, das ihm den Thron wiedergeben würde, führten ihn seine Gedanken an den Anfang zurück: An Dholon, vor allem an Mellwen. Und daran, dass die Seelen der elf Elaya, die Dholon getötet hatte, irgendwo in der Welt warteten, damit der Kreis sich schließen mochte. Der König hielt sein Schwert fest in der Hand. Seinen Namen hatte er abgelegt. Ormur nannte man ihn nun.
Die klirrende Krone
Er hielt sein Schwert fest in der Hand, während er dem Bericht des Herolds lauschte. Aus dem Reifwald hatte man gehört, dass die Krieger des Fremden jede magische Barriere, welche die Winterwölfe errichtet hatten, ignorierten. Selbst die Runen konnten ihnen nichts anhaben. Der König hatte den Schamanen befohlen, jeden einzelnen Baum und Strauch, bis hinauf in die Berge, zu markieren. "Ich möchte, dass ein solcher Tumult und Krach im Wald ensteht, dass diese schwarzen Kreaturen glauben, der Wald selbst wäre lebendig geworden!", waren seine genauen Worte gewesen. Wie aber der Herold erklärte, dass die Krieger des Fremden unbeschadet auf ihren Spinnen durch die Wälder geritten wären und wie sie auf eisigen Wyrmern bis in die tiefen Täler geflogen wären, schlug er mit der Faust auf den eisernen Tisch, an dem seine Bärenkrieger Platz genommen hatten. "Sammelt alle Kämpfer. Wir werden sie am Tor empfangen müssen, wenn ihr Weg weiter unbeschadet und ohne Störung verläuft!"
"Herr, wir sind zu wenige", sagte der Herold leise und suchte mit seinen grauen Augen Zustimmung der anderen.
"Recht hat er", brummte Baegarn, der Anführer der Bärenkrieger.
"Und was sind die anderen Möglichkeiten? Ich sage, es gibt nur eine - auch wenn sie uns nicht gefallen wird", erwiderte Gylwar, und es entstand ein wildes Durcheinander von Gerede, Bellen und Knurren unter den Mitgliedern des Königsrates. Manche stimmten Gylwar zu, andere schienen auf einer Linie mit Baegarn zu sein; und wieder andere schwiegen nachdenklich wie der Herold. Der König spitzte die Ohren und lauschte eine Weile dem Geschrei. Dann war er auf einmal wieder ganz abwesend, so wie es häufig geschah in den vergangenen Monaten, seit der Krieg gegen den Fremden ausgebrochen war.
Die Debatten des Rates hörte er gar nicht mehr, als er sich an den Tag des Abschieds erinnerte. Wie sie ihm die Tiara gegeben hatte und ihn um das gebeten hatte, was ihre Vertrauten nicht vermocht hatten: Dholon töten, damit sein rastloses Herz schweigen würde. Dass sie in Wahrheit sich fürchtete und seinen Tod wollte, weil er eine Gefahr für alle geworden war, hatte sie nicht ausgesprochen. Und er war anständig genug gewesen, es nicht zu erwähnen, auch wenn er es in ihren Augen gesehen hatte; in diesen Augen, in die er sich so gern verloren hatte, all die Monate, die sie gemeinsam auf der Jagd gewesen waren. "Es ist nicht mehr sicher für dich, Mellwen. Du musst gehen." "Ja, ich weiß", hatte sie geantwortet, noch einmal auf das Schmuckstück geschaut und dann seine Stirn geküsst. "Wir sehen uns eines Tages wieder. Unter anderen Umständen", waren ihre letzten Worte gewesen. Die Zeit danach war er wie gelähmt gewesen, hatte die Geschäfte Baegarn überlassen müssen, denn der König hatte eine nie gekannte Sehnsucht und Traurigkeit gefühlt, nachdem Mellwen in den Süden gegangen war, zu ihrer eigenen Sicherheit. Jeden Tag war Baegarn zu ihm gekommen, um vom Geschehen auf Jorgans Rücken zu berichten. Aber der König war kaum in der Lage gewesen, zu lauschen. Eines Tages aber hatte er gespürt, dass er bereit war. Gemeinsam mit Baegarn, Gylwar und neun weiteren Kriegern war er auf den Schneebären gen Osten geritten, um den kranken Elaya, der kaum noch einen Schritt gehen konnte, ohne zu stürzen, zu vernichten. Dholons Macht war keine von dieser Welt gewesen, doch anstatt ihn auch körperlich zu stärken hatte sie nur seinen Geist nahezu unbesiegbar gemacht; niemals dürfte er Jorgans Rücken lebend verlassen - und das hatte er auch nicht getan: Sie hatten einen uralten Mann vorgefunden, der sich auf einen Stab stützen musste, um nicht zu Boden zu sinken. Aber seine Magie war zerstörerisch gewesen. Ganze Dörfer hatte er vernichtet mit nur einem Blick aus den fahlen alten Augen, die in einer entstellten Fratze eingebettet waren.
"Du. Sie hat dich geschickt? Wieso tut sie es nicht selbst? Sie hat Angst, nicht wahr? So viele Nachkommen haben wir, aber sie wagt es nicht, mir erneut in die Augen zu sehen", hatte Dholon gesagt, als er den König bemerkt hatte. "Vielleicht will sie nicht noch mehr enttäuscht sein. Du hast den Weg verlassen. Und jetzt wirst du sterben, so wie du deine Brüder und Schwestern getötet hast." Der Elaya kicherte. "Meine Brüder und Schwestern, die sich gegen mich gestellt haben? Wie konnte sie denken, dass elf Krieger es schaffen würden, mich zu töten? Und nun kommst du her, und ihr seid nur zwölf."
"Die Zwölf ist mächtig. Das hast du ihr selbst gesagt, Dholon."
"Dass er sich kaum gewehrt hat, damals...", murmelte der König in das Gewirr aus Stimmen. Obschon er leise gesprochen hatte, wurden sie alle ganz still. Der Herold nickte langsam, Gylwar und Baegarn sahen fragend zu ihrem König. "Er wusste, dass seine Zeit gekommen war", brummte Gylwar. "Ja, vielleicht..."
"Wir sollten uns nicht mit der dunklen Vergangenheit befassen. Es gibt einen Krieg zu führen. Ich sage immer noch: Wir sind zu wenige, um sie zu stellen. Sitzen wir es aus. Sie werden am Thron des Winters zerschellen, und dann jagen wir sie, wenn die Überlebenden das Weite suchen!", rief Baegarn.
"Was ist mit dem Eis?", fragte Gylwar und spielte auf seine vorherige Aussage an. Die anderen sahen schweigend zu ihm. Baegarn schüttelte nur den Kopf und blickte von Gylwar zurück zum König.
"Das Eis. Niemand kennt seine wahren Vorhaben und Pläne. Diese Wesen könnten uns ebenso verraten. Jorgan wollte nie, dass wir uns mit ihnen verbünden, denn sie sind so launisch wie die Elemente, aus denen sie gekommen sind", sprach der König und erntete viel Zustimmung. Nur bei Gylwar nicht: "Wenn wir uns selbst hier einsperren, dann sind wir leichte Beute. Unbeweglich. Sie haben Drachen. Was denkt ihr denn", sagte er in die Runde, "was sie mit den Türmen und dem Tor tun werden? Es gibt keine Rückzugsmöglichkeit, wenn wir hier verweilen. Schicken wir einen Boten zum Eis und fragen wir um Rat, vielleicht sogar Hilfe."
"Ich werde keinen Pakt mit jenen eingehen, die kein Herz haben. Für sie steht nichts auf dem Spiel. Sie werden Dinge einfordern, die wir nicht erfüllen können, Gylwar!", mahnte der König.
"Aber was, wenn wir uns ohne Hilfe dem Feind entgegenstellen? Der Fremde hat eine unbekannte Zahl von Kriegern, Spinnen, Echsen und Drachen - und wer weiß, was diesem Ungeheuer noch in den Sinn kommt?"
Baegarn knurrte. "Unsere Mauern sind stark. Weder brauchen wir das Eis noch sollten wir so gedankenlos sein und uns dieser Übermacht vor den Toren stellen. Wenn wir aufgerieben werden, dringen sie ein und dann ist alles vorbei. Es wäre ein Fehler, glaubt mir!"
"Es kann doch nicht schaden, Verbündete zu suchen! Und wenn sie ablehnen oder ihre Forderungen jenseits aller Vernunft sind, dann haben wir wenigstens alles versucht. Auf die Riesen können wir nicht hoffen, und die Haarlosen, die man Menschen nennt, sie sind kaum schlau genug, eine Schlachtreihe zu bilden. Wir haben beschlossen, niemanden sonst in diese Sache zu verwickeln - sie betrifft Jorgans Rücken. Und hier ist auch das Eis. Wieso sollten wir nicht nutzen, was uns gegeben ist?", fragte Gylwar.
Baegarn brummte und schüttelte erneut den Kopf. "Der König ist dagegen, also beharre nicht weiter darauf, Gylwar. Wir alle schätzen deine Meinung, aber es wäre töricht, einen Pakt mit unbekannten Bedingungen zu schließen. Das Eis gibt immer nur so viel preis, wie es muss. Und wir wissen auch, dass es heute ein Verbündeter sein kann und morgen ein Feind, wenn seine unbekannten Ziele es erfordern. Sie haben und sie suchen keine Freunde."
Der König schwieg und lauschte dem Disput. Manchmal kam etwas dabei heraus. Gylwar wog wohl ab, ob sein Herr etwas zu sagen hatte, aber als er sah, wie er lauschte, ergriff er wieder das Wort, während all die anderen Bärenkrieger zuhörten. "Und was ist, wenn wir nicht an morgen denken sollten, sondern an heute? Es ist gleich, ob wir sie vor den Toren erwarten oder hier innerhalb der Mauern. Der Thron des Winters wird in Nebel und Dunkelheit sinken, wenn wir keine starken Verbündeten finden. Und genau das wird geschehen, so wir nicht klug sind und Hilfe holen. Noch haben wir Zeit. Es ist noch ein weiter Weg bis sie das Wintertor erreicht haben. Es ist die letzte Bastion vor dem Thron und den Mauern. Sind wir schnell genug, dann können wir sie stellen, bevor sie das Tal durchquert haben. Von der Schlucht kann man sie schon sehen, die Zeit drängt. Und ich will alles versucht haben, versteht ihr nicht?"
"Ich verstehe sehr gut. Du bist feige und suchst Hilfe", lachte Baegarn.
"Wage es nicht!", knurrte Gylwar und zeigte Zähne.
"Ruhe! Der König will etwas sagen", rief der Herold, der wohl bemerkt hatte, wie sein Herr mit der Zunge geschnalzt und laut ausgeatmet hatte. Gylwar knurrte noch einmal leise und verengte die Augen, dann sahen er, Baegarn und die anderen zum König.
"Ich sehe ein, dass sie vor dem Tor zu stellen eine von mir unbedachte Idee war. Fallen wir dort, so ist es zu spät. Und wir können Frauen und Kinder nicht jenseits des Thrones bringen. Dort ist das Eis", erklärte er und sah Gylwar in die Augen, "und wir kennen seine Absichten nicht. Es ist die Leere. Sie gehören nicht zu uns. Sie haben keine erkennbaren Ziele. Es ist ein Risiko. Ein zu großes. Du sagst selbst, Gylwar, dass wir nutzen sollten, was uns gegeben ist. Was uns gegeben ist! Und das ist sehr viel. Wir sind die stolzen Herren von Jorgans Rücken! Wir haben das Land gegen die Riesen verteidigt, die von Jorgans Erbe besudelt worden sind und ihren Verstand aufgaben. Wir werden auch mit dieser Bedrohung durch den Fremden fertig. Wir wissen nicht, wer er ist, woher er kommt. Aber er wird verzweifeln, das sage ich euch. Uns sind Mut und Tapferkeit gegeben, meine Freunde."
Die Krieger stimmten zu und klopften auf die Tafel. Auch Gylwar und Baegarn stimmten ein. "Sichern wir das Tor, bringen wir die Frauen und Kinder aller Rudel in den tieferen Kern. So sind sie weit genug weg, sollte das Tor doch aufgebrochen werden", schlug Baegarn dann vor.
"Nein", entschied der König, "wir werden sie empfangen, aber nicht vor dem Tor oder im Tal - sondern darüber. Nutzen wir das, was wir kennen. Wir sind hier geboren, aufgewachsen. Hier haben wir geblutet und allen Fährnissen getrotzt. Baegarn, du gehst mit der Hälfte der Armee zur Schlucht. Dort stellt ihr euch in Ost und West auf und sorgt dafür, dass keiner der Krieger die Schlucht lebend verlassen kann. Gylwar, du wartest am Aufgang der Klamm mit einem Viertel unserer Armee. Der Rest sichert den Thron des Winters. Frauen und Kinder gehen in den Kern, wie Baegarn es vorgeschlagen hat."
Baegarn stimmte zu. Die anderen Krieger begannen umgehend, die Strategie zu besprechen. "Du sicherst mit den jüngeren Kriegern das Innerste", befahl der König dem Herold. "Ja, mein Herr", antwortete er, während Gylwar eine Weile schweigend den Plänen lauschte. Der König musterte ihn, nickte ihm zu, da er hoffte, auch ihn überzeugt zu haben. Zwar war er der König, aber Krieger machten ihre Sache besser, wenn sie daran glaubten. Das ersehnte Nicken folgte. Halbherzig, aber zustimmend. Es musste genügen.
Der König blieb mit nur wenigen Kriegern am Thron. Frauen und Kinder wanderten in die Tiefe, und der Herold begleitete sie. Baegarn ließ die Mannen am nächsten Tag bei Morgengrauen auf die Bären steigen, grüßte seinen König, und schon war die Heerschar auf dem Weg zur Schlucht, um den Feind aufzuhalten. Gylwars Mannen folgten ihnen nach, und der letzte Teil des Heeres besetzte die eisigen Zinnen.
Er wusste nicht, wie weise seine Entscheidung wirklich gewesen war. Aber Gylwars Aussage, dass sie nutzen sollten, was ihnen gegeben war, hatte den Anstoß gegeben. Wenn das Schicksal es wollte, dass der Feind zerschellte, dann würde es so kommen. Mut und Tapferkeit wurden belohnt.
Als der Fremde das erste Mal Erwähnung gefunden hatte, war es Gylwar gewesen, der von einem Erkundungsritt zurückgekehrt war und von ausgelöschten Siedlungen und drei getöteten Rudeln berichtet hatte. Erst hatte Baegarn die Riesen in Verdacht gezogen und war eine Woche danach zur Graufestung geritten, um sie zur Rede zu stellen. Aber alles war leer vorgefunden worden. Seltsamer Nebel war gesehen worden, Stimmen waren darin zu hören gewesen. Der König kannte den Nebel, aber dieser war anders. Es war, als wäre etwas Böses in ihm. Mond und Nebel hatten schon seit jeher ein Band, aber es wurde gestört durch etwas Fremdes - so hatte der Fremde seinen namenlosen Namen bekommen. Jorgan hatte dem König vor langer Zeit vom Schwarzstern berichtet, wie er seit Anbeginn der Zeit versucht hatte, seinen Einfluss zu erweitern und Plagen über das Land zu bringen. Von einer Sieche hatte Jorgan gesprochen, die eines Tages im Namen des Schwarzsterns kommen würde. Das Faulwasser. Aber die Krieger des Fremden waren keine Diener des Faulwassers und der schwarzen Quelle, die Jorgan am Ende selbst erschaffen hatte als der, vor dem er immer gewarnt hatte, der Schwarzstern, ihn verführt hatte. Nein, der Fremde war etwas anderes, unbekanntes. So unbekannt und fremd wie das Eis. Obschon das Eis auf Jorgans Rücken existierte und die Kälte regierte, war es weder gut noch böse, weder für den Thron des Winters noch gegen ihn - und das machte es unberechenbar. Eine Macht, die niemand erklären konnte, ging vom Eis aus. Manchmal stand es Leuten in Not bei, dann wieder ignorierte es jeden Hilferuf - was auch des Königs Grund gewesen war, sich nicht darauf einzulassen. Nein, der Fremde und seine Diener waren etwas ganz anderes.
Er hatte seine Krone abgelegt und neben sich auf den Beitisch gelegt - heute wäre er nur ein Krieger, wie alle anderen. So wartete er. Schweigend, wie die Wachen, die bei ihm geblieben waren. Gylwar und Baegarn mussten nun die Schlucht und die Klamm erreicht haben. Die Stunden der Entscheidung waren gekommen, und sie vergingen langsam. Immer wieder schaute er zur Pforte, ob sie sich öffnen mochte, damit ein Bote Sieg oder Niederlage verkünden würde. Auch seine Krieger blickten unruhig und knurrend hinaus. Dann, nach vielen Stunden, öffnete sie sich endlich. Aber es war kein Bote von der Klamm oder der Schlucht. Es war ein sehr junger Krieger, den der König mit den Frauen und Kindern in das Innerste entsandt hatte. "Mein König!"
"Was gibt es? Warum bist du nicht an deinem Platz, Junge?"
"Wir vermissen einige Frauen und Kinder. Ich kam nur her, um zu sehen, ob sie zurückgegangen sind."
"Hier wäre es viel zu gefährlich, wieso sollten sie so dumm sein?", knurrte der König.
Der junge Krieger antwortete nicht. Er hustete und spuckte Blut, und aus den vorderen Hallen hörte man Kampfeslärm, nachdem ein lautes Grollen vom Zerbersten des Außentores kündete. Eine Lanze aus geformtem Eis hatte den Jungen durchbohrt. "Das Eis...", zischte der König, "zu den Waffen!"
Dem Eis folgten die Krieger des Fremden, die den ersten und zweiten Hof und die folgenden Hallen schon eingenommen hatten. "Du bist kein König mehr", sprach die Stimme des Heermeisters des Fremden. Der groß gewachsene dunkle Krieger mit spitzen Ohren stellte sich neben das Wesen in den Saal. "Gib auf."
"Niemals!", brüllte der König und wollte sich dem Heermeister entgegenstellen. Das Eis wartete einfach. "Ihr habt uns verraten", knurrte eine Wache zu dem Wesen.
"Nein, das haben sie nicht. Es war einer von euch", spottete der Heermeister, als weitere Diener des Fremden eintraten, die Mondklingen an den Kehlen der Frauen und Kinder ruhend, die mit ihnen kamen.
"Nein...", resignierte der König.
"Gib uns deine Krone. Verlasse den Thron des Winters. Wir verschonen dich. Und wir verschonen die Frauen und Kinder. Sie werden dir nachfolgen, wenn du das zerstörte Tor durchschritten hast", sagte der Heermeister. Und das Eis schwieg einfach. Der König warf die Waffe auf den Boden, seine Krieger taten es ihm gleich. Langsam schritten sie hinaus. Überall lagen seine getöteten Krieger. Das Eis hatte dem Fremden beigestanden. Der König witterte den Verrat, von dem der Heermeister gesprochen hatte: Gylwar. Er war nicht zur Klamm geritten, sondern nach Jenseits des Thrones, um das Eis zu bitten, ihnen beizustehen. Dieser Narr. Er würde bezahlen.
Immer wieder sah der König sich um, ob die Frauen und Kinder ihm folgten. Als er das zerstörte Tor durchschritten hatte, gemeinsam mit den wenigen Getreuen, die noch am Leben waren, warfen die Krieger des Fremden die Köpfe der Frauen und Kinder über die Mauer. "Nein!", rief eine der Wachen. "Wir müssen wieder hinein, wir müssen kämpfen!", schrie ein anderer, mit Tränen der Wut in den Augen.
"Nein. Wir haben verloren. Gylwar hat uns verraten. Ihn werden wir töten - und dann erst kehren wir zurück."
Aber Gylwar kam mit den überlebenden Bärenkriegern zurück. "Mein König, Baegarn ist gefallen! Sie sind ihm mit den Drachen in den Rücken gefallen. Jemand hat all unsere Pläne an den Feind verraten!"
"Du warst es", zischte der König.
"Nein, das war ich nicht! Schau!", antwortete er und zeigte auf die Zinnen der gefallenen Festung.
Das Eis verließ schweigend die Mauern und kehrte in die Ewigkeit hinter dem Thron des Winters zurück. Es hatte wieder getan, was es wollte. Weder hatte es erobert noch einen anderen Gewinn daraus gezogen. Es ging einfach fort. Die Krieger des Fremden aber hissten das Banner aus Frost, und sie blickten schweigend auf die kleine Schar des Königs. Der Heermeister hob die Hand, um einen spöttischen Gruß zu machen. Neben ihm stand der Herold. In seinen Augen, obschon so weit weg, las der König Worte, die um Vergebung baten. Er würde seine Vergebung bekommen - wenn er tot vor ihm im Schnee läge und sein Blut sich mit dem Reif von Jorgans Rücken mischen würde.
"Wir ziehen in den Süden. Jorgans Rücken ist keine Heimat mehr für uns. Aber sie wird es eines Tages wieder sein. Jetzt müssen wir lernen. Wir müssen erfahren, wer der Fremde ist, woher er gekommen ist und wie man ihn vernichten kann", sagte der König und kehrte der Festung den Rücken zu. Seine Getreuen folgten. Gylwar ritt von da an an des Königs Seite. Nimmer mehr würde er ein Wort gegen ihn verlieren. Als sie ein paar Schritte von der Festung entfernt waren, vernahm der König ein Klirren in seinen Ohren - obwohl sie so weit weg waren, wusste er, was geschehen war: Der Heermeister hatte die Klirrende Winterkrone zerbrochen. Sein Herr bräuchte sie nicht. Der Nebel schloss mit den Jahren den Thron des Winters in ein Zwielicht ein, dass selbst die besten Augen seiner besten Späher die Himmelsspitze nicht mehr erkennen konnten. Einmal im Jahr entsandte der verstoßene König ein paar seiner Männer, um zu sehen, ob sich etwas verändert hatte. Und als er eines Tages von der Sieche hörte, dem Faulwasser, dem Schwarzstern und einem Geheimnis, das ihm den Thron wiedergeben würde, führten ihn seine Gedanken an den Anfang zurück: An Dholon, vor allem an Mellwen. Und daran, dass die Seelen der elf Elaya, die Dholon getötet hatte, irgendwo in der Welt warteten, damit der Kreis sich schließen mochte. Der König hielt sein Schwert fest in der Hand. Seinen Namen hatte er abgelegt. Ormur nannte man ihn nun.
Alea iacta est.
Die Würfel sind gefallen!
Die Würfel sind gefallen!
Re: Ein scharlachroter Tod
2
Über die weißen Bären
Die Schneebären, man nennt sie auch Eisbären oder - in den Regionen des sogenannten Jorganschelfes - auch als Odinsbären bekannt, zeichnen sich durch im Tierreich zwar häufig vorkommene Eigenschaften aus, jedoch ist es diesen Riesen aus den Landen von Eis und Schnee gelungen, diese zu erheben in eine Meisterschaft, bei der selbst die in den Savannen lebenden Löwen und ihre Verwandten, die Berglöwen, vor Neid so sehr erblassten, dass sie wenigstens das weiße Fell der Schneebären überträfen - wobei dies das einzige Stück wäre, in dem sie den Herren der eisigen Steppe etwas voraus hätten. Eine Gefahr für Mensch und Tier gleichermaßen, sollte sich ein Jäger - selbst wenn er erfahren und tapfer - wohl eher nicht den ausgewachsenen männlichen Vertretern ohne besonderen Schutz nähern, gelten sie doch als besonders stark und übellaunig. So manch Jägersmann, der sich für einen Experten in seiner Passion hielt, musste hier eines besseren belehrt werden; dass er dies erst am Ende seines Lebens tat, war für ihn tragisch, für den Bären aber ein besonderer Leckerbissen.
Bretonische Gelehrte gaben diesen Giganten den altbretonischen namen Ursus maritimus, und dies ist denn auch die richtige Bezeichnung für eine ihrer besonderen Eigenschaften, auf die wir im späteren Verlauf nochmals eingehen werden. So sind sie ausgezeichnete Schwimmer, die ihre Beute bis in das Meer verfolgen und jagen. Die meisten Schneebären halten sich im Jorganschelf, der endlosen Weite am Ende der Welt, auf. Dort und in den Regionen östlich, westlich, südlich davon leben sie und streifen sie umher. Sie wandern über Schnee und Eis, verheeren die Bewohner der Küsten ebenso wie die des Inlandes. Die Einzelgänger rauben meist am Tag, und zu ihrer Beute zählen nicht nur Schneehasen, Wölfe, andere kleinere Bären oder Schneehirsche. Auch Robben und kleine Wale landen auf ihrem Mittagstisch. Wie schon erwähnt, darf sich auch der Mensch zu seiner Beute zählen, so er den Riesen bedroht oder der Bär den simplen - aber für den Menschen meist tödlichen - Eindruck erhält, man betrete sein Revier mit einer hinterlistigen Absicht. Sollte der Eindruck entstanden sein, einzig die Männchen wären eine Gefahr für Leib und Leben, so sei gesagt, dass trächtige Weibchen ihre Geburtshöhle nicht selten (eigentlich ausnahmslos) bis auf den Tod verteidigen würden, sollte ein Jäger es wagen, einzudringen und die Geburt zu stören.
Der geneigte Leser dürfte spätestens jetzt vermuten, bei dem Schneebären möge es sich um eine äußerst blutrünstige Bestie handeln. Bei einer Leibeslänge zwischen zwei und dreieinhalb Schritt, einer Schulterhöhe von mehr als eineinhalb Schritt, zweiundvierzig scharfen Zähnen und einem Gewicht vom Drittel einer Tonne ist dies wohl auch naheliegend, betrachtet man zudem die Fähigkeiten der Schneebären, was die Jagd auf ihre Beute betrifft und ihre allgemein schlechte Laune. Gleichfalls soll aber hier Erwähnung finden, dass schon die ersten Menschen den Schneebär als äußerst edel, legendär und Zeichen für eine besondere Weisheit betrachtet haben. Es sind uns Aufzeichnungen erhalten, wonach die ersten Bewohner des Schelfes einen 'Herrn der Eisbären' vermuteten, welcher über alle anderen Schneebären herrsche und die Geschicke seines Volkes lenke. Wieder in anderen uralten Aberglauben trug der Schneebär die Krone des Winters und saß auf einem Thron am Ende der Welt, wo Metall sich eigenartig benimmt. Natürlich handelt es sich lediglich um Legenden, aber wer weiß schon, woher sie ihren Kern haben. Alles in allem haben wir es also mit einem gefährlichen und gleichsam anmutigen Räuber der eisigen Regionen zu tun!
Angenommen, ein Vertreter dieser Art wäre so hungrig und so versessen auf eine bestimmte Beute, dass er ihr an jeden Ort folgen würde. Seine Schwimmfähigkeiten bringen ihn schnell voran, bis er bald schon das Ende der Welt passiert hätte, wo eine ewige Dunkelheit herrscht. Dort angekommen, würde er die Beute in der Nacht verloren haben, aber etwas anderes hätte seine Aufmerksamkeit gewonnen: Eine Krone aus Eis, in der Mitte zerbrochen, klirrend wartend im ewigen Winter. Angenommen, den König der Schneebären gäbe es tatsächlich, würde einer seiner Vasallen ihm nicht sofort seine Krone reichen, dass der König wieder herrschen könnte?
Kapitän Smorren begegnet einem Mann im Anzug
Jetzt waren sie schon Stunden unterwegs, und das zuvor lausige Wetter verwandelte sich in einen echten Sturm. Letzteres war Smorren, dem Kapitän der 'Wallenden Dirne', lieber. Zwar hatten er und seine Dirne schon beide bessere Tage gesehen, aber ebenso waren beide groß und zäh und hatten schon vielen Gefahren getrotzt. Und wenn dieser blitzende Sturm ihnen in die fetten Ärsche treten wollte, dann sollte er es nur versuchen! Die Wellen schlugen wütend über Deck, und der Wind peitschte den Regen durch die Segel, aber die Dirne stieß den Bug durch den sich aufbäumenden Zorn der See und riss ihr dickes Heck, das von hinten aussah wie der beleibte Hintern der dicken Bertha, einer Hure aus Bretonia, gekonnt herum, sobald Wind und Wellen von einer anderen Seite angriffen. So war es schon immer gewesen: Nichts und niemand konnte der Dirne etwas anhaben - eine weitere Eigenschaft, die sie mit der dicken Bertha gemein hatte.
Smorren erinnerte sich an die endlosen Stunden, die er im Bordell seine Gewinne aus dem Handel mit Salz und Gewürzen eintauschte gegen eine exotische Jungfrau - die keine war, aber damit wurde geworben, und Bertha gelang es jeden Abend, einen wirklich davon zu überzeugen, dass dem Mädchen über Nacht ein neues Häutchen über die Blume gewachsen wäre - oder gegen die Lustige Laurinia, einer frechen bretonischen Göre von gerade siebzehn Jahren, die aber ficken konnte wie eine alteingesessene Hure, von der es so einige gab in Berthas Bordell. Ja, dort hatte er seine zweitbesten Tage verbracht. Die besten Tage aber waren hier auf See, in den Stürmen der endlosen Weite, zwischen den langweiligen Brocken aus Erde und Stein, die man Bretonia und Midgard nannte. Smorren pendelte schon seit fast fünfzehn Jahren umher, nachdem er sein Schiff bei einer Wette gewonnen hatte - und gleich umgetauft hatte. Der erste Name der 'Wallenden Dirne' war weniger blumig gewesen. Die 'Seeschwalbe' war vorher im Besitz eines Händlers gewesen, dessen Geschäfte kein Schiff mehr erfordert hatten, denn Fausten hatte nunmehr eine Holzwerkstatt in der Stadt und war sesshaft geworden - etwas, das für Smorren niemals in Frage käme. Vorher war er ein Tagelöhner mit einem Händchen für gute Nebengeschäfte gewesen, nun respektierte man ihn als zuverlässigen Händler und Lieferanten für alles, was irgendwie irgendwem irgendwann durch irgendwen Geld bringen würde. Ob das auch bei der gegenwärtigen Fracht der Fall war, da war sich Smorren nicht sicher. Nun, Thoralf aus Tilhold hatte ihn gut für die Überfahrt bezahlt, und bei der Gelegenheit würde Smorren auch mal wieder in der Ostfold vorbeischauen und einen dieser leckeren Schinken erstehen, die Bertha so sehr mochte - ein Termin mit der Lustigen Laurinia oder der vollbusigen Ranbella wäre ihm dann sicher, wie er zufrieden feststellte, den letzten Donner verabschiedete und nach dem Ende des Sturmes die Segel prüfen ließ.
"Geht es dem Jungen und der Amme gut? Keine schlechten Nachrichten: Thoralf hat gesagt, das Kind soll sicher in Skjöldbur angekommen", knurrte er.
Ivar nickte. "Beide sind wohlauf. Das Mädchen hat sich das Essen durch den Kopf gehen lassen, der Junge schien recht freudig den nächsten Wellenstoß gar nicht abwarten zu können."
"Bestens. Sonst noch was Neues? Würde mich ein Weilchen hinhauen."
"Es ist ein Rabe angekommen. Man fragt uns nach der Fracht", sagte Ivar.
"Wer fragt danach? Ist eine Geheimfracht, verstehst du? Das bedeutet, wir sprechen nicht darüber. Und um ehrlich zu sein, viel weiß ich auch nicht. Nur dass Thoralf mir gesagt hat, er würde mir die Knochen brechen, wenn das Kind nicht sicher in Skjöldbur bei seiner Tante ankommen würde."
"Ist eine Nachricht von Hrafna."
"Oh. Na, dann schicken wir ihm genau das, was ich sagte. Als unsere Antwort."
Ivar nickte und kümmerte sich darum. Smorren verzog sich in seine Kajüte, warf noch einen Blick auf seine Karten, dann ging er zum Schrank und nahm eine Flasche vom Ertrinkenden Elaya, den er vor einigen Wochen Peterik von den Zwergen abgekauft hatte. Ein Teufelszeug, von dem man gar nicht so sehr wanken konnte wie man gleichzeitig pissen und würgen musste, von den Blähungen ganz zu schweigen. Smorren hatte einmal gesehen, wie der Zwerg Mobo davon getrunken hatte und ein Sohn Alikirs daraufhin eine Fackel an dessen Arsch gehalten hatte - so eine Stichflamme hatte man nicht kommen sehen! Aber das Zeug vertrieb einem auch die Zeit, und wenn der erste Schock überstanden war, konnte man gut und gern ein paar Stunden schlafen, ohne gestört oder geweckt zu werden. Und genau das war Smorrens Plan.
Ob das Zeug nun gewirkt hatte oder ob er wirklich wach war, wusste er nicht zu sagen, als er die Augen öffnete und an seinem Fußende ein Mann im Anzug stand. Nun, es war eigentlich kein Mann. Es war ein Vogel, etwas plump und fett. Der Bauch war weiß, genau wie die Unterseiten der Stummelflügel, während die Oberseiten und der Rücken schwarz waren. Das war einer dieser komischen Vögel, die eigentlich am südlichen Ende der Welt vorkamen und nicht fliegen konnten. "Da schau her. Und nun?", fragte sich Smorren laut.
Der Mann im Anzug gähnte. Moment. Er gähnte? Ja, er gähnte. "Du gähnst. Müde?", fragte er nochmals laut.
"Ach, es geht. Mir ist nur so fürchterlich langweilig", antwortete der Mann im Anzug und fiepste.
"Du fiepst. Ich meine, du sprichst ja!"
"Ja. Das ist der Grund für meine Langeweile. Keiner mag sich mit mir unterhalten. Mir ist unfassbar fad. Da dachte ich, ich komme mal vorbei."
"Das ist sehr klug von dir. Ich habe auch nichts gegen ein gutes Gespräch", sagte Smorren.
"Worüber wollen wir reden?"
"Wie kommst du hierher?"
"Da ich nicht fliegen kann, bin ich wohl geschwommen", antwortete der Mann im Anzug.
"Und was fiepst du so?"
"Das ist die Art, wie ich uriniere."
"Du hast also gerade auf meine Koje gepisst?", fragte Smorren ungläubig.
"Um ehrlich zu sein: ja. Entschuldige."
"Ach, schon gut. Ich nehme mal an, ich bin betrunken und du bist gar nicht wirklich da. Also hast du auch nicht auf meine Koje gepinkelt."
Der Mann im Anzug schüttelte den Kopf. "Angenommen, ich wäre nicht da. Wie können wir uns dann unterhalten?"
"Na ja, ich habe zu viel getrunken und du bist das Ergebnis eines Traumes. Also unterhalten wir uns."
"Das bedeutet, dieses Gespräch findet statt, aber findet gleichzeitig auch nicht statt?", fragte der Mann im Anzug.
"Ja, so stelle ich mir das vor."
"Entschuldige", begann der Mann im Anzug, "aber das ist Blödsinn. Du musst dich schon entscheiden. Unterhalten wir uns oder nicht?"
"Na gut, wenn du es so willst: Ja, das tun wir. Aber nur im Traum."
"Willst du damit sagen, dass du träumst, und im Traum ist dir ein Mann im Anzug erschienen, der auf deine Koje uriniert und sich mit dir darüber streitet, ob das Gespräch stattfindet oder nicht? Das ist so ziemlich das Merkwürdigste, das mir je passiert ist. Wie wahrscheinlich ist es, dass du von einem Mann im Anzug träumst, der auf deine Koje uriniert und mit dir diskutiert?"
Smorren seufzte. "Ich streite mich nicht."
"Nun veranstalte keine Erbsenzählerei. Von mir aus ist es kein Streit. Nehmen wir an, du träumst. Nehmen wir weiter an, der unwahrscheinliche Fall tritt ein, dass dir ein Mann im Anzug erscheint, auf deine Koje uriniert und mit dir über Schein und Sein debattiert. Hältst du das für realistisch?"
"Nein", gab Smorren zu.
"Siehst du."
"Soll das heißen, dass ich nicht träume?", fragte Smorren.
"Das habe ich nicht gesagt. Ich sage nur, es ist nicht sehr wahrscheinlich. Ist doch Unfug. Wie soll das funktionieren? Ich will dir sagen, dass es nur eine Möglichkeit gibt."
"Und die wäre?"
"Dass auch ich träume. Es ist sonst gar nicht möglich, dass wir uns unterhalten."
"Träumen welche wie du denn?"
Der Mann im Anzug nickte entschieden. "Aber ja doch. Jeder träumt. Ein Mümmeldickel träumt ebenso wie ein Graser, ein Schaf oder ein Schneebär. Wieso denken Menschen eigentlich dauernd, wir Tiere wären zu blöd, einen Traum zu haben? Das finde ich nicht sehr nett. Gehörst du auch zu diesen Leuten, Smorren?"
"Auf keinen Fall. Du hast es mir ja nun erklärt."
"Ja, genau. Und weißt du was? Mir ist nicht mehr fad. Danke für die Ablenkung."
Kaum dass der Mann im Anzug verschwunden war, hörte Smorren Geschrei. "Geentert, wir werden geentert!"
Der Kapitän sprang auf, nahm Schwert und Beil und lief an Deck, vom Rausch keine Spur. Schwarze Gestalten, deren blaue Rüstungen im Mondlicht schimmerten, schlitzten seinen Mannen die Kehlen auf. Die Gegner hatten kein Schiff, sie schienen einfach aus dem Meer gekommen zu sein, und es waren keine Malstromwesen. "Beschützt die Amme und das Kind!", rief Smorren. Aber es war zu spät. Zwei der schier unbezwingbaren Krieger schnitten gerade den Bauch der Amme auf und warfen sie ins Meer. Ein anderer trug das Kind auf dem Arm. Smorren warf sein Beil auf einen der anderen Krieger, damit sein Weg frei wäre. Gemeinsam mit Ivar näherte er sich dem Entführer, der einfach in die Tiefen sprang, nachdem er die Stirn des Kindes berührt hatte. "Ihm nach!", rief Ivar. Er und Smorren zögerten nicht und sprangen in die kalte See. Aber die Angreifer waren schon verschwunden, das Meer blutgetränkt von der Mannschaft der 'Wallenden Dirne'. "Verflucht nochmal! Los, an Deck, sucht alles ab!"
Aber es war nichts mehr zu finden. "Hrafna dreht mir den Hals um, dann hat Thoralf keine Arbeit mehr", knurrte Smorren, der seine abgeschlachteten Mannen betrachtete. "Wieviele haben überlebt?"
Zum Zählen kamen sie nicht mehr, als sich der Tentakel eines namenlosen und nicht erkennbaren Ungeheuers durch das Deck bohrte, den Mast wie ein Zündholz umknickte und Smorren, Ivar, die anderen Überlebenden mit dem ganzen Schiff in die schwarze kalte Tiefe zog. Smorren sah noch, wie seine Dirne entzwei brach und auf ewig den Grund des Meeres als ihren Friedhof bezeichnen würde. Ihr fetter Arsch und ihre Zähigkeit hatten sie am Ende im Stich gelassen. So erging es auch Smorren, der vor dem Ertrinken seinen letzten Gedanken der dicken Bertha und ihrem Hurenhaus widmete.
Gwendor
Der Goldlord und Schatzmeister der Wilderlandbundes, der losen Vereinigung aller bretonischen Lords im Wilderland, Gwendor von Brylod, schloss das zweite Rechnungsbuch und verstaute es im sicheren Versteck. All die Jahre war es wohl keinem der anderen aufgefallen, dass er ein Viertel der Kriegskasse - für die Verteidigung Bretonias gegen mögliche Invasoren und Störenfriede aus dem Wilderland - für persönliche Zwecke abzweigte. Nun, immerhin erforderte seine Aufgabe viel Zeit und Mühe, für die er ja auch entschädigt werden musste. Und mit dem Ausscheiden Maegranths aus dem Bund, der persönlichen Wandlung von Harilos in einen Ordensbruder und dem fraglichen Status der Häuser Aestrinor und Roglund war die Kasse eben schmächtiger geworden. Umso schwieriger war es, eine ausreichende Menge in der Kasse zu behalten, sodass jeder mehr einzahlen musste. Alle bis auf Garrilton waren dem Aufruf gefolgt. Zwar mit Protest, aber durchaus motiviert. Nicht auszudenken, so erklärte Gwendor es gern, eine fremde Macht würde tatsächlich einfallen, so wie es damals die Blodhord getan hatte. Vielleicht die Drow. Oder, momentan wahrscheinlicher, die Malstromwesen. Dass er sich selbst zu einer fremden Macht zählen würde, hätte er vor einigen Wochen noch nicht gedacht. Aber Veränderungen und Anpassungen waren eben notwendig.
"Werter Lord Garrilton. Was für eine Freude, Euch zu sehen", sagte Gwendor und bot ihm einen Krug Wein an.
"Lord Brylod. Wie ich sehe, geht es Euch hervorragend. Habt Ihr den Wein aus der Kriegskasse bezahlt oder wie darf ich es verstehen?", fragte Garrilton ohne Umschweife.
"Ich bitte Euch, mein Freund, wir haben alle unsere persönlichen Vorräte. Ich bin ein Kenner guten Weins und biete Euch etwas davon an. Darf ich?", fragte er und gab ihm den gefüllten Krug.
"Persönliche Vorräte kann ich mir derzeit wohl kaum erlauben. Ich habe mehr brennende Scheiterhaufen mit Infizierten als ich Zwiebeln in meinen Vorratskammern besitze."
"Das ist natürlich bedauerlich. Seid versichert, ich fühle mit Euch. Auch wir hatten viele Kranke zu beklagen. Die Sieche aus dem Malstrom, sie ist furchtbar."
Garrilton sah sich um. "Es ist mir bereits aufgefallen. Ich sehe weder Scheiterhaufen noch sind mir in der Umgebung räuberische Malstromwesen oder Plünderer aufgefallen. Ihr seid wohl entweder gesegnet von den Göttern oder habt einen Weg gefunden, das Problem zu beheben. Wenn letzteres der Fall ist, sollte man das nicht Kanzler Baelon und der Königin berichten?"
"Nun, werter Garrilton, ich möchte mich gern als gesegnet betrachten. Wünschen wir uns dies nicht alle? Wie sonst sollten wir das Reich schützen vor seinen äußeren und inneren Feinden? Ich will Euch etwas sagen: Eure Zahlung an den Bund für die Kriegskasse sei Euch erlassen. Wie findet Ihr das?", fragte Gwendor und schmunzelte.
"Und weshalb habt Ihr mich hierher bestellt? Damit wir Wein trinken? Ich weiß, dass auch Dagharn und Falkenfels Mühe hatten, die Kasse zu füllen. Ihnen gegenüber habt Ihr Euch weniger verständnisvoll gezeigt."
Gwendor lachte. "Wie ich sehe, seid Ihr mit einem weitblickenden Verstand ausgezeichnet. Wie steht es um Eure Ambitionen, hm?"
"Wenn Ihr auf die Dokumente Crenns anspielt, die auch mir vorgelegt wurden, kann ich Euch antworten: Das Haus Breton, die Königin, sie weiß sicher zu schätzen, dass wir in den Sommern von Hitze geplagt unseren Dienst verrichten, Riesen und Dunkelelfen davon abhalten, Wilderberg oder Nordstein zu erstürmen, und dass wir in den Wintern dasselbe tun, nur wenig geschützt vor der Kälte, die aus dem Schelf zu uns getrieben wird. Und doch, ich erlaube es mir zu sagen, wünsche ich mir, sie möge einen Tag und eine Nacht selbst durch die Wildnis streifen. Gerade jetzt, in diesen Zeiten. Man hat Dunkelelfen gesehen, die ganz anders sind als die, die wir kennen. Sie scheinen auch einem ganz anderen Herrn zu dienen. Dies könnte eine Bedrohung sein, gegen die wir das erste Schwert in der ersten Reihe sind. Darum bin ich gekommen, um entgegen meiner Ankündigung meinen Teil beizusteuern, denn wir werden ihn brauchen. Auch wenn ich langsam vermute, dass Ihr Euch ein gutes Leben damit macht."
"Gut gesprochen",antwortete Gwendor, "aber ich möchte Euch sagen, dass es andere Wege gibt, diesen Dingen, zu denen diese Krieger wie auch die Malstromwesen gehören, zu begegnen. Es gibt einen Weg, sie zu bekriegen. Jedoch hat alles seinen Preis. Ich habe ein Geschäft abgeschlossen, das beides umfasst: Einen Sieg gegen die Kreaturen, die uns bedrohen und einen Preis. Dazu eine verbesserte Position, wenn alles vorbei ist. Raus aus diesem Dreckloch, weg vom Wilderland, hinein in die sicheren Mauern der Stadt. Und mehr Gold als wir beide zählen können. Dieser Wein wäre lächerlich im Vergleich zu dem, was wir bekommen."
"Ich bin interessiert", sagte Garrilton und ließ sich den Krug nachfüllen.
"Ich werde es Euch zeigen", sagte Gwendor und ließ sich von einem Diener einen Käfig bringen. Darin eingesperrt war eine Krähe.
Varcus
Wie er zum Diener Tysandras geworden war, das wusste er nicht. Woran er sich erinnerte, das waren Wortfetzen, ein Panther, der ihn angesprungen hatte und zu Boden gerungen, ohne große Mühe. Dabei hatte Varcus sich einen Augenblick zuvor noch dazu durchgerungen, seine langjährige Tarnung, sein persönliches Geheimnis aufzugeben. Nachdem er vor vielen Jahren begriffen hatte, dass er selbst verantwortlich gewesen war für die gerissenen Schafe seines Vaters Herde, für die Toten in Adelnio und nach der Frühmesse in der Caprianischen Basilika zu Mero, hatte er darüber nachgedacht, sich das Leben zu nehmen. Denn er war das geworden, was er verabscheut hatte. Eine Widernatürlichkeit, eine Hexerei, das Ergebnis böser Mächte, die am Werke waren, um die Menschen zu versuchen, dass sie in die Niederhöllen oder in das Purgatorium gesperrt würden, für immer weit weg von Gottes Licht.
War er nicht immer ein treuer Diener des Herrn gewesen? Hatte er nicht das Böse und Widergöttliche ausgelöscht, wo immer es ihm begegnet war? Varcus konnte sich kaum erinnern, wieviele Leiber er dem reinigenden Feuer übergeben hatte, wieviele Hexen er ausgepeitscht hatte, ihre Brüste abgeschnitten und ihre Fotzen zum Ausbluten gebracht. Alles im Namen des Herrn und seines Zornes, der ebenso stark war wie seine Güte. Denn die, die gestanden, hatte Varcus schnell getötet. Nur die Ketzer, die ihre häretischen Taten geleugnet hatten, waren das Opfer von Varcus Gerichtsbarkeit geworden, die zwar nicht über Gottes Gericht stand, aber ihr vorausgehen musste.
Nun war er geworden, was er hasste. Als junger Bursche hatte er sein geweihtes Messer genommen, es in Feuer getaucht und seinen Leib gebrandmarkt, sich jeden Tag selbst gepeitscht und Nägel in seine Stiefel gelegt, um die reinigende Pein zu spüren. Aber anstatt ihn zu erlösen, hatten diese Schmerzen den Wolf erwachen lassen. Es hatte Monate gedauert, die Verwandlungen zu kontrollieren, sie zu beherrschen, damit das Tier nicht regierte, sondern der gläubige Mensch, der immer auf dem Pfad der Gerechten gewandert war. Sich das Leben zu nehmen, war die einzige Möglichkeit gewesen. Aber Selbstmord war eine Todsünde, es war einem Gläubigen verboten, oder das Purgatorium wäre seine Heimat. Es war Gregorianus gewesen, der ihm einen Ausweg gezeigt hatte. Er hatte ihm beigebracht, durch Gebete dem Hunger und Durst nach Fleisch und Blut zu widerstehen. Derselbe Mann, dessen Ermordung er geplant hatte.
Varcus spürte keine Reue, denn Nazarius hatte recht, wenn er schrieb, dass die Worte des Sigillum Dei eindeutig waren. Nur wenn der Heilige Vater sterben würde, würden die Mondkrieger mit ihren blauen Rüstungen ihnen gegen die Pestilenz beistehen und Tectaria retten. Wieder hatte Varcus alles für Gott und die Heimat getan. Und weil er nichts mehr von Nazarius gehört hatte, war er nach Midgard aufgebrochen. Innerlich sprach er einen Fluch gegen den Wolf, denn seine Sinne hatten ihn auf die Insel der Regentin gelockt. Ja, erinnerte er sich, so haben Nour und Tysandra mich gefangen und meine Männer abgeschlachtet. Nun war er der Diener der Herrin der Krähen. Und ausgerechnet Nour hielt seine Kette, die sie ihm in den Rücken genagelt hatten. Losreissen konnte er sich nicht, es würde ihn umbringen, so tief hatten sie die Wunden geschlagen. Doch selbst wenn er es könnte, er würde es nicht tun. Immer wenn er einen Gedanken fasste, zu entkommen, Nour die Kehle aufzuschneiden und Tysandra das Genick zu brechen, hielt ihn eine Krähe, die sich an die Innenseite seines Schädels eingenistet hatte, davon ab, indem sie in sein Hirn pickte und immer mehr klare Gedanken auffraß. Manchmal legte sie den Schnabel nur an eine Stelle der grauen Masse und Varcus sah die vielen Ketzer, die er auf den Scheiterhaufen gebracht hatte. Sie lachten ihn aus, warfen brennendes Holz nach ihm und nannten ihn einen Schlächter. Aber er war kein Schlächter, er hatte doch alles für den Herrn getan. Er hätte sogar sich selbst verbrannt, wenn er auch nur einen ketzerischen Gedanken gehabt hätte.
Wenn er daran dachte, sich das Schwert eines Söldners zu packen und Yphilia abzustechen, pickte die Krähe. Als er die Gefangenen sah, Maga Aethel und ihre Begleiter, wollte er die Gelegenheit nutzen, sie aufwecken und retten, dass sie gemeinsam entkommen würden. Die Krähe pickte. Natürlich pickte sie nicht wirklich. In Wahrheit waren es die Schrauben, die sie an ein Gestell befestigt hatten, das seinerseits an seinen Kopf gebunden war. Wenn Nour an den Schrauben drehte, bohrten sie sich tiefer in den Schädel. Manchmal sah Varcus nicht die Ketzer, sondern etwas anderes. Da war eine Tür und sein Name stand darauf geschrieben. Eine nie gehörte Melodie schien ihn einzuladen, sodass er beinahe darum gebeten hätte, die Schrauben tiefer zu drehen. "Wer bist du?", fragte eine Stimme. "Varcus." "Mein Name ist Erec, und ich erwarte dich."
Dakhil
Er und seine Panther waren zurückgekehrt. Sie waren in Hrafnas Auftrag aufgebrochen, ein Lager dieser Winterkrieger zu finden, wie sie die merkwürdigen Dunkelelfen, die vielleicht gar keine waren, nunmehr nannten. Diese Kreaturen dienten dem Winterkönig, einem Emporkömmling, der den Thron - wie Dakhil gehört hatte - einem Herrscher namens Ormur gestohlen hatte. Der Winterkönig und seine Diener regierten in den Weiten des Jorganschelfes - und sie beherrschten Mond und Nebel, wie es schien. Dakhil verdankte dem Fluch von Mond und Nebel mehr als nur seine Freiheit. Crenn mochte ihn aus den Ketten Tectarias befreit haben, aber erstens hatte Crenn seinen Weg verlassen und war zu einer Gefahr geworden und zweitens war Crenn tot. Mond und Nebel aber waren lebendig. Ihnen beiden dankte Dakhil jeden Tag, so wie er zu Amur seine Gebete sprach, denn erst durch sie hatte er den Pfad entdeckt, der ihn am Ende hierher gebracht hatte, nach Skjöldbur. War er zuerst besessen davon gewesen, die Finsternis zu besiegen und Amurs Stab der Erschaffung zu retten, so hatte er dank Kelar seine wahre Bestimmung entdeckt. Er würde eines Tages die Tiere der Welt, genau wie die Wandler und Tierfürsten, gegen die Wesen des Faulwassers, den Dienern Khaliqs, führen. Aber wenn der Winterkönig den Nebel, den Mond und auch den Weißen Wolf, das Zeichen für den Widerstand, beherrschte, wie sollte er seine Aufgabe erfüllen, oder vielmehr: Wie sollte er beginnen?
Das Lager der Winterkrieger hatten sie nach einigen Stunden im Tal von Mularn entdeckt. Zwar waren die Diener des Winterkönigs durch Magie nicht aufzuspüren, und auch sie selbst schienen keinen Geruch zu haben, aber jedes Wesen hinterließ Spuren. Und genau diesen Spuren in Schnee und Schlamm waren die Panther gefolgt, bis sie eine kleine Siedlung, geschützt durch eine schwache Palisade, ausgemacht hatten. Eine Weile hatten sie die Krieger beobachtet, um weitere Entwicklungen zu bemerken, dann hatten sie eine Nachricht nach Skjöldbur geschickt und waren selbst - wie abgesprochen - umgekehrt. Als sie die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten, war es einer der Falken gewesen, der einen einzelnen Reiter bemerkt hatte, dessen Ziel wohl eben dieses Lager zu sein schien. Dakhil hatte dann befohlen, den Reiter zu ignorieren und nach weiteren Ausschau zu halten. Sollte es eine Falle für die Skjöldburer sein, würden sie es herausfinden, aber ein einzelner Reiter war keine Bedrohung. Sie waren schon nahe der Wegenge gewesen, die nach Süden wieder in das Jütland führte, als eine furchtbare Kälte zu spüren gewesen war:
"Was ist das?", fragte Hassan leise. Der Truppführer verwandelte sich ungewollt in seine menschliche Form. So geschah es auch mit Dakhil und den anderen.
"Es weiß, dass wir da sind. Diese Kälte ist selbst für diese Gegend nicht alltäglich", sagte Dakhil. "Zu den Waffen."
"Vielleicht noch mehr Winterkrieger", flüsterte ein anderer.
"Ja, möglich", knurrte Dakhil, auch wenn sein Gefühl ihm sagte, dass es etwas anderes war. Aber er wollte seine Männer nicht unruhiger machen als sie es ohnehin waren. Was immer es war, es war in der Lage, Wandler zu zwingen, ihre menschliche Form anzunehmen. Und so sehr Dakhil und die anderen sich auch bemühten, sie konnten sich nicht verwandeln.
Hinter einer Anhöhe entdeckten er und die seinen einen Kreis aus Fackeln. Aber die Fackeln leuchteten blau, und ihr Feuer war so kalt wie es die Umgebung geworden war. Winterkrieger hielten außerhalb des Kreises Wache und kehrten Dakhils Mannen den Rücken zu. Wenn sie sie wirklich bemerkt hatten, dann ignorierten sie den Khagan und seine Horde. Dakhil gab ein Zeichen, und sie krochen weiter auf die Anhöhe, um zu sehen, was im Kreis war. Wesen standen darin, eisblau, vielleicht gar nicht körperlich, und es schien, als wären die Rüstungen und Helme gleichzeitig der teilweise durchlässige Leib. Eisige Kälte ging von den Wesen aus, die über die Winterkrieger zu gebieten schienen. Die Wesen sangen. Ihre Stimmen klirrten wie Frost. Die Leichen von zwei Nordmannen lagen bei ihnen. Es waren keine Skjöldburer, und auch in der Ostfold hatte er diese Krieger nicht gesehen. Wahrscheinlich waren es Alanen. Als der Gesang verstummte, hatte sich eine dicke Schicht aus Eis über die Toten gelegt. Das Eis zerbrach, und sie erhoben sich. Aber sie waren nicht bei Sinnen, sondern handelten und bewegten sich wie Untote. So wie die Malstromwesen jeden Toten in einen der ihren wandelten, veränderten diese Eiswesen, die wohl über die Winterkrieger herrschten, Gefallene in willenlose Diener, deren Haut und Kleidung nun dieselben kalten Farben hatte wie die Wesen selbst sie trugen. "Greifen wir an?", fragte Hassan leise. "Nein. Zurück nach Skjöldbur. Wir stecken in großen Schwierigkeiten. Ich will wissen, was das für Wesen sind."
Sie waren zurück. Zuerst fragte Dakhil nach Hrafna, der aber schon aufgebrochen war. "Dann informiert Rewulf und Gruschka. Am besten spreche ich mit Theralia darüber."
Die Zauberin erzählte ihm vom Eis, wie es in den letzten Thronfolgekriegen erschienen war und dass es vermutlich älter war als alles, was auf der Welt lebte. "Wenn das Eis über die Winterkrieger gebietet, dann vielleicht auch über den Winterkönig. Das stellt alles in ein ganz anderes Licht. Ich wünschte, wir würden Jorgan finden. Oder wenigstens Ormur. Er müsste doch wissen, was es damit auf sich hat."
Brutus
Lord Dagharn war nach Absprache mit seinem Bruder in die Stadt aufgebrochen. Die vermaledeiten Dokumente, die Tysandra von Aestrinor - oder die Betrügerin, denn Tysandra war zweifelsfrei gestorben - als Thronerbin auswiesen, bereiteten dem Hause Dagharn Kopfschmerzen. Brutus wusste, dass die Erbfolge Bretonias einige Schwachstellen hatte, was in der Vergangenheit zu einigen Problemen geführt hatte, und er wusste ebenfalls, dass man unter gewissen Umständen Königin Theresia als Bastard betrachten musste. Aber ihm war eine kluge und tapfere Bastardin auf dem Thron lieber als irgendeine Schurkin, mochten deren Ansprüche auch gerecht sein. Sollte das alles stimmen, dann wäre Lerhon kein Sohn von Darius dem Ersten gewesen. Was bedeutete, dass Darius der Zweite bereits ohne Recht den Thron bestiegen hätte. Was wiederum zur Folge hätte, dass die Ansprüche Theresias geringer wären als sie es ohnehin waren. Als Tochter Königin Annieshes war sie eine Prinzessin geworden, aber wenn Annieshe einen Illegitimen geheiratet hatte, dann wäre Theresia nichts weiter als irgendjemand sonst. Ein Bauer aus dem Breland könnte dann den gleichen Anspruch erheben wie sie. Dies wäre Futter für all die, die von Tysandra wussten und überzeugt wären, die Behauptungen Crenns, er wäre der wahre Erbe von Darius gewesen, für wahr hielten. Häuser, die ohnehin nicht zufrieden waren. Häuser wie Brylod oder Garrilton. Wie Torbrin. Und das, obwohl sie am Ende in der gleichen Lage wie zuvor wären: Eine andere Königin würde herrschen, aber ihre Häuser wären vermutlich noch immer dort wo sie jetzt waren. Der Unterschied würde nur greifen, wenn es Zusicherungen und Versprechungen seitens Tysandras gäbe. Sie müsste ihnen etwas bieten, das sie von Theresia niemals bekämen. "Ein Herrscher, ob gut oder nicht, vergisst nie die, die ihm beistanden", murmelte Brutus, während er auf Einlass in die Stube wartete.
"Denn die, die ihm beistanden, vergessen auch nicht", sprach Phaeron von Yren, der gerade die Amtsstube verließ.
"Ihr seht mich überrascht."
"So? Das kann man auch von mir sagen. Ich wusste nicht, dass Ihr bereits zurück seid, Lord Dagharn."
"Schon eine ganze Weile. Seit Midgard von den Malstromwesen überrannt wurde. Auch wenn ich den Nordleuten gern beistehen würde, ich habe hier wichtige Dinge zu erledigen, Lord Yren."
"Warum sind wir so förmlich, Brutus? Nennt mich Phaeron. Wir hatten nie Gelegenheit zu sprechen, und jetzt treffen wir uns unter diesen nebulösen Umständen."
Brutus knurrte leicht. Das Geschwafel der hohen Herren war nie seine Art. Zwar war er selbst in Adel geboren worden, aber sein Vater hatte ihm beigebracht, das Gerede meist nicht sehr zielführend war. Und meist nur genutzt wurde, um von den wesentlichen Dingen abzulenken. Die Schnösel bei Hofe sagten ohnehin niemals das, was sie wirklich bewegte. "Spart euch das, Phaeron. Welche nebulösen Umstände werden es wohl sein? Ihr seid aus denselben Gründen wie ich hier, da bin ich mir sicher. Ich hoffe nur, wir sehen das mit den gleichen Augen."
"Und wenn nicht?", fragte Lord Yren mit einem Lächeln auf den Lippen.
"Ihr erinnert mich an Maegranth. Der hat den Verstand verloren. Ist es Euch auch so ergangen?", brummte Brutus.
"Er ist eine verlorene Seele. Ich hingegen sorge mich um die Sicherheit des Reiches."
"Mit verlorenen Seelen sollte sich der Hohepriester Lebans ja auskennen. Aber ich muss zugeben, lieber unterhalte ich mich mit Ascanio. Auch wenn viele in den Schlachten unter meiner Klinge starben, so weiß ich Liras sehr zu schätzen."
Yren nickte. "Aber ja doch. Ihr müsst es so sehen, Brutus: Leban muss sich nicht um seine Schäflein sorgen. Eines Tages kommen sie alle."
"Da stimme ich zu. Man munkelt, ein Schäflein hat er entlassen und ins Leben zurückgeschickt", sagte Brutus.
"Ein solches Wunder fiele doch eher Liras zu. Habt Ihr Euren lieben Ascanio schon gefragt? Vielleicht hat er etwas damit zu tun."
"Ganz sicher hat er das nicht. Ich schwöre, Phaeron, Euch habe ich im Auge. Wenn es keine Teufelei Maegranths war, dann eine von Euch!"
Yren lächelte nicht mehr. "Vorsicht, Lord Dagharn. Das sind schwere Anschuldigungen. Ich kam her, um mit Emes über die Sicherheit meiner Brüder und Schwestern zu diskutieren. Genau deshalb. Weil stets die heilige Kirche des Mondes verdächtigt wird, sobald irgendein Verrückter wiederkehrt oder Unnatürliches im Reich geschieht. Ich bin mir sehr mit Euch einig, Brutus, ob Ihr es glaubt oder nicht: Etwas stimmt nicht. Das war weder ein Wunder von Liras noch von Leban. Lethos Mercutio hat es überprüft. Es gab keinerlei göttliches Wirken. Nun, jedenfalls keine Gottheit, die wir gut kennen..."
"Ihr habt einen Verdacht? Gibt es Hinweise?"
"Vielleicht. Es bedarf langer und ausführlicher Untersuchungen, um etwas zu bestätigen oder zu leugnen. Aber Leban ist unruhig dieser Tage, und der Mond hat nicht nur in unserem Glauben eine hohe Bedeutung. Aus diesen Gründen muss ich nun weiter. Ihr entschuldigt mich?"
"Ich erwarte Nachricht von Euch", befahl Brutus regelrecht.
"Aber ja. So wie jeder."
Der Mann in Schwarz
Gemeinhin nannte man wohl das, was geschehen war, eine Verkettung unglücklicher Umstände, eine unerwartete Entwicklung - oder einfach Pech. Die Verkettung bestand darin, dass es Zhaerius gelungen war, ihn auf eine Insel zu locken, wo er nicht nur Maga Aethel und ihren Begleitern gegen die Krieger des Winterkönigs beigestanden hatte, sondern wo es eine Quelle gab, die Zhaerius die Gelegenheit gegeben hatte, in einem Moment der Klarheit das Geheimnis der Öllampe auszuplaudern. Im gleichen Augenblick hatte er Szynric befohlen, den Skjöldburern einen von Jorgans Golems zu überlassen. Dazu war es auch gekommen. Dieser Vorgang war Aran zu Ohren gekommen, und die unliebsame und geradezu penetrant pedantische Persönlichkeit des ehemaligen Dieners Lebans war hervorgekrochen gekommen und hatte es gewagt, die Befehle Khaliqs zu missachten. War er nicht die Plage selbst, der Herrscher aller Plagen, mit einer Macht, die jede andere in den Schatten stellte, der Macht der Erschaffung? Hrabanus war nur eine Marionette gewesen, sogar die Finsternis, die er so lange schon besitzen wollte, hatte sich in ihrer Sicherheit, ihre volle Macht am Kreis der Zendavesta zu erhalten, getäuscht und es zugelassen, dass alle Kraft an Zhaerius, an den Mann in Schwarz, an Khaliq, dem Schwarzstern, übergegangen war. Und seine Kinder, denn er und nicht Hrabanus hatte sie geschaffen, stellten sich nun gegen ihn und missachteten die Worte des Mannes, den sie vor zweihundert Jahren Prophet genannt hatten.
"Prophet", brummte eine Stimme aus dem Ecaloscop.
"Aran, was gibt es zu berichten?"
"Ich sage dir, wo das Kind Zada ist, wenn du mir eine Frage beantwortest."
"Seit wann muss der Prophet auf deine Befehle hören?", zischte der Mann in Schwarz.
"Seit sein Wort eine große Lüge ist."
"Eine Lüge?", fragte er.
"Eine Lüge. Dein Wort ist nicht das Wort des Propheten, so wie mein Volk es immer angenommen hatte. Du sprichst nicht für den Weinenden Gott, sondern nur für dich selbst. Ich habe gehört, dass du Szynric befohlen hast, die Skjöldburer ziehen zu lassen. Und zwar mit dem Golem, der so wichtig war. Oder war auch das eine Lüge gewesen? Du hast gesagt, der Golem würde uns zu Jorgan und er in das Mysterium bringen, wo wir erfahren, wer wir sind. Du hast uns Seelen versprochen. Und nun muss ich hören, dass der Winterkönig dem Mysterium ebenfalls nachjagt. Du hast uns nicht gewarnt", klagte Aran ihn an.
"Der Winterkönig ist schwach. Ein Emporkömmling ohne Einfluss. Seine Krieger haben magische Rüstungen, das ist alles", log der Mann in Schwarz.
"Sie haben unseren Stützpunkt südlich von Skjöldbur überrannt. Ihre Drachen sind tödlich, genau wie sie selbst. Und merkwürdige Gestalten sind mit ihnen. Sie sind wie das Eis aus dem Jorganschelf, wie die Kristalle, die wir fürchten."
"Das Eis?", fragte der Mann in Schwarz. Er spürte das Feuer, das einst Ricardus verbrannt hatte, aber diesmal war es schrecklich kalt.
"Du kennst diesen Feind also. Hast du auch ihn in deinem großen Plan berücksichtigt, oder ist das alles neu für dich, wie die Tatsache, dass wir dir widersprechen?", fragte Aran.
"Es ist ein altes Volk. Es kommt von einem Ort, an dem ewige Dunkelheit herrscht. Jenseits des Thrones des Winters. Niemand kann dort leben", antwortete er und sagte die Wahrheit.
"Aus deiner Stimme höre ich Furcht. Lass dir gesagt sein, Mann in Schwarz, dies ist ein Feind, den du selbst bekämpfen wirst. Wir gehen unseren Weg nun allein, ohne deine Lügen!"
"Aran, höre mich an. Nicht Hrabanus hat euch geschaffen, ich war es. Ich habe die Macht der Erschaffung."
Der Sohn Caldorvans lachte. "Das ist lächerlich. Liranus selbst hat mit dem Weinenden Gott gesprochen, der uns schuf."
"Liranus war bei ihm?", fragte der Mann in Schwarz, in großer Sorge.
"Interessant, nicht wahr? Und bald wird der Weinende Gott frei sein, denn die Krieger des Winterkönigs sind immun gegen die Hexerei der Insel der Finsternis. Sorgst du dich, Lügner?"
"Wo ist Zada?"
"Du wirst es niemals erfahren. Ich wünsche dir Erfolg bei deinen Lügen, die du nun anderen erzählen kannst, um sie zu umschmeicheln", sprach Aran und brach die Verbindung ab.
Der Mann in Schwarz zitterte. Schnell sang er sein Lied, aber selbst das konnte den Herrn der Plagen nicht beruhigen. Es war noch zu früh, und ohne Zada wäre sein Vorhaben in Gefahr. Er durfte noch nicht gehen, er brauchte Zhaerius noch. Zhaerius, der ihn verraten hatte. Wenn er schon verlieren musste, dann würde er ihn mitnehmen. So hob er die Hand und erschuf den Baum, an dem er das erste Mal das Lied gesungen hatte. Dort, wo aus der Raupe ein Schmetterling geworden war. Schon spürte er das Feuer und den Rauch, worin er sich entflammen wollte.
Im letzten Augenblick hielt ihn etwas davon ab. Eine Krähe landete auf seiner Schulter. "Ich lade dich ein, Mann in Schwarz. Denn ich habe ein Angebot."
Der Mann in Schwarz zuckte zusammen. Die Verkettung unglücklicher Umstände setzte sich fort, denn die Herrin der Krähen war zu ihm gekommen.
Über die weißen Bären
Die Schneebären, man nennt sie auch Eisbären oder - in den Regionen des sogenannten Jorganschelfes - auch als Odinsbären bekannt, zeichnen sich durch im Tierreich zwar häufig vorkommene Eigenschaften aus, jedoch ist es diesen Riesen aus den Landen von Eis und Schnee gelungen, diese zu erheben in eine Meisterschaft, bei der selbst die in den Savannen lebenden Löwen und ihre Verwandten, die Berglöwen, vor Neid so sehr erblassten, dass sie wenigstens das weiße Fell der Schneebären überträfen - wobei dies das einzige Stück wäre, in dem sie den Herren der eisigen Steppe etwas voraus hätten. Eine Gefahr für Mensch und Tier gleichermaßen, sollte sich ein Jäger - selbst wenn er erfahren und tapfer - wohl eher nicht den ausgewachsenen männlichen Vertretern ohne besonderen Schutz nähern, gelten sie doch als besonders stark und übellaunig. So manch Jägersmann, der sich für einen Experten in seiner Passion hielt, musste hier eines besseren belehrt werden; dass er dies erst am Ende seines Lebens tat, war für ihn tragisch, für den Bären aber ein besonderer Leckerbissen.
Bretonische Gelehrte gaben diesen Giganten den altbretonischen namen Ursus maritimus, und dies ist denn auch die richtige Bezeichnung für eine ihrer besonderen Eigenschaften, auf die wir im späteren Verlauf nochmals eingehen werden. So sind sie ausgezeichnete Schwimmer, die ihre Beute bis in das Meer verfolgen und jagen. Die meisten Schneebären halten sich im Jorganschelf, der endlosen Weite am Ende der Welt, auf. Dort und in den Regionen östlich, westlich, südlich davon leben sie und streifen sie umher. Sie wandern über Schnee und Eis, verheeren die Bewohner der Küsten ebenso wie die des Inlandes. Die Einzelgänger rauben meist am Tag, und zu ihrer Beute zählen nicht nur Schneehasen, Wölfe, andere kleinere Bären oder Schneehirsche. Auch Robben und kleine Wale landen auf ihrem Mittagstisch. Wie schon erwähnt, darf sich auch der Mensch zu seiner Beute zählen, so er den Riesen bedroht oder der Bär den simplen - aber für den Menschen meist tödlichen - Eindruck erhält, man betrete sein Revier mit einer hinterlistigen Absicht. Sollte der Eindruck entstanden sein, einzig die Männchen wären eine Gefahr für Leib und Leben, so sei gesagt, dass trächtige Weibchen ihre Geburtshöhle nicht selten (eigentlich ausnahmslos) bis auf den Tod verteidigen würden, sollte ein Jäger es wagen, einzudringen und die Geburt zu stören.
Der geneigte Leser dürfte spätestens jetzt vermuten, bei dem Schneebären möge es sich um eine äußerst blutrünstige Bestie handeln. Bei einer Leibeslänge zwischen zwei und dreieinhalb Schritt, einer Schulterhöhe von mehr als eineinhalb Schritt, zweiundvierzig scharfen Zähnen und einem Gewicht vom Drittel einer Tonne ist dies wohl auch naheliegend, betrachtet man zudem die Fähigkeiten der Schneebären, was die Jagd auf ihre Beute betrifft und ihre allgemein schlechte Laune. Gleichfalls soll aber hier Erwähnung finden, dass schon die ersten Menschen den Schneebär als äußerst edel, legendär und Zeichen für eine besondere Weisheit betrachtet haben. Es sind uns Aufzeichnungen erhalten, wonach die ersten Bewohner des Schelfes einen 'Herrn der Eisbären' vermuteten, welcher über alle anderen Schneebären herrsche und die Geschicke seines Volkes lenke. Wieder in anderen uralten Aberglauben trug der Schneebär die Krone des Winters und saß auf einem Thron am Ende der Welt, wo Metall sich eigenartig benimmt. Natürlich handelt es sich lediglich um Legenden, aber wer weiß schon, woher sie ihren Kern haben. Alles in allem haben wir es also mit einem gefährlichen und gleichsam anmutigen Räuber der eisigen Regionen zu tun!
Angenommen, ein Vertreter dieser Art wäre so hungrig und so versessen auf eine bestimmte Beute, dass er ihr an jeden Ort folgen würde. Seine Schwimmfähigkeiten bringen ihn schnell voran, bis er bald schon das Ende der Welt passiert hätte, wo eine ewige Dunkelheit herrscht. Dort angekommen, würde er die Beute in der Nacht verloren haben, aber etwas anderes hätte seine Aufmerksamkeit gewonnen: Eine Krone aus Eis, in der Mitte zerbrochen, klirrend wartend im ewigen Winter. Angenommen, den König der Schneebären gäbe es tatsächlich, würde einer seiner Vasallen ihm nicht sofort seine Krone reichen, dass der König wieder herrschen könnte?
Kapitän Smorren begegnet einem Mann im Anzug
Jetzt waren sie schon Stunden unterwegs, und das zuvor lausige Wetter verwandelte sich in einen echten Sturm. Letzteres war Smorren, dem Kapitän der 'Wallenden Dirne', lieber. Zwar hatten er und seine Dirne schon beide bessere Tage gesehen, aber ebenso waren beide groß und zäh und hatten schon vielen Gefahren getrotzt. Und wenn dieser blitzende Sturm ihnen in die fetten Ärsche treten wollte, dann sollte er es nur versuchen! Die Wellen schlugen wütend über Deck, und der Wind peitschte den Regen durch die Segel, aber die Dirne stieß den Bug durch den sich aufbäumenden Zorn der See und riss ihr dickes Heck, das von hinten aussah wie der beleibte Hintern der dicken Bertha, einer Hure aus Bretonia, gekonnt herum, sobald Wind und Wellen von einer anderen Seite angriffen. So war es schon immer gewesen: Nichts und niemand konnte der Dirne etwas anhaben - eine weitere Eigenschaft, die sie mit der dicken Bertha gemein hatte.
Smorren erinnerte sich an die endlosen Stunden, die er im Bordell seine Gewinne aus dem Handel mit Salz und Gewürzen eintauschte gegen eine exotische Jungfrau - die keine war, aber damit wurde geworben, und Bertha gelang es jeden Abend, einen wirklich davon zu überzeugen, dass dem Mädchen über Nacht ein neues Häutchen über die Blume gewachsen wäre - oder gegen die Lustige Laurinia, einer frechen bretonischen Göre von gerade siebzehn Jahren, die aber ficken konnte wie eine alteingesessene Hure, von der es so einige gab in Berthas Bordell. Ja, dort hatte er seine zweitbesten Tage verbracht. Die besten Tage aber waren hier auf See, in den Stürmen der endlosen Weite, zwischen den langweiligen Brocken aus Erde und Stein, die man Bretonia und Midgard nannte. Smorren pendelte schon seit fast fünfzehn Jahren umher, nachdem er sein Schiff bei einer Wette gewonnen hatte - und gleich umgetauft hatte. Der erste Name der 'Wallenden Dirne' war weniger blumig gewesen. Die 'Seeschwalbe' war vorher im Besitz eines Händlers gewesen, dessen Geschäfte kein Schiff mehr erfordert hatten, denn Fausten hatte nunmehr eine Holzwerkstatt in der Stadt und war sesshaft geworden - etwas, das für Smorren niemals in Frage käme. Vorher war er ein Tagelöhner mit einem Händchen für gute Nebengeschäfte gewesen, nun respektierte man ihn als zuverlässigen Händler und Lieferanten für alles, was irgendwie irgendwem irgendwann durch irgendwen Geld bringen würde. Ob das auch bei der gegenwärtigen Fracht der Fall war, da war sich Smorren nicht sicher. Nun, Thoralf aus Tilhold hatte ihn gut für die Überfahrt bezahlt, und bei der Gelegenheit würde Smorren auch mal wieder in der Ostfold vorbeischauen und einen dieser leckeren Schinken erstehen, die Bertha so sehr mochte - ein Termin mit der Lustigen Laurinia oder der vollbusigen Ranbella wäre ihm dann sicher, wie er zufrieden feststellte, den letzten Donner verabschiedete und nach dem Ende des Sturmes die Segel prüfen ließ.
"Geht es dem Jungen und der Amme gut? Keine schlechten Nachrichten: Thoralf hat gesagt, das Kind soll sicher in Skjöldbur angekommen", knurrte er.
Ivar nickte. "Beide sind wohlauf. Das Mädchen hat sich das Essen durch den Kopf gehen lassen, der Junge schien recht freudig den nächsten Wellenstoß gar nicht abwarten zu können."
"Bestens. Sonst noch was Neues? Würde mich ein Weilchen hinhauen."
"Es ist ein Rabe angekommen. Man fragt uns nach der Fracht", sagte Ivar.
"Wer fragt danach? Ist eine Geheimfracht, verstehst du? Das bedeutet, wir sprechen nicht darüber. Und um ehrlich zu sein, viel weiß ich auch nicht. Nur dass Thoralf mir gesagt hat, er würde mir die Knochen brechen, wenn das Kind nicht sicher in Skjöldbur bei seiner Tante ankommen würde."
"Ist eine Nachricht von Hrafna."
"Oh. Na, dann schicken wir ihm genau das, was ich sagte. Als unsere Antwort."
Ivar nickte und kümmerte sich darum. Smorren verzog sich in seine Kajüte, warf noch einen Blick auf seine Karten, dann ging er zum Schrank und nahm eine Flasche vom Ertrinkenden Elaya, den er vor einigen Wochen Peterik von den Zwergen abgekauft hatte. Ein Teufelszeug, von dem man gar nicht so sehr wanken konnte wie man gleichzeitig pissen und würgen musste, von den Blähungen ganz zu schweigen. Smorren hatte einmal gesehen, wie der Zwerg Mobo davon getrunken hatte und ein Sohn Alikirs daraufhin eine Fackel an dessen Arsch gehalten hatte - so eine Stichflamme hatte man nicht kommen sehen! Aber das Zeug vertrieb einem auch die Zeit, und wenn der erste Schock überstanden war, konnte man gut und gern ein paar Stunden schlafen, ohne gestört oder geweckt zu werden. Und genau das war Smorrens Plan.
Ob das Zeug nun gewirkt hatte oder ob er wirklich wach war, wusste er nicht zu sagen, als er die Augen öffnete und an seinem Fußende ein Mann im Anzug stand. Nun, es war eigentlich kein Mann. Es war ein Vogel, etwas plump und fett. Der Bauch war weiß, genau wie die Unterseiten der Stummelflügel, während die Oberseiten und der Rücken schwarz waren. Das war einer dieser komischen Vögel, die eigentlich am südlichen Ende der Welt vorkamen und nicht fliegen konnten. "Da schau her. Und nun?", fragte sich Smorren laut.
Der Mann im Anzug gähnte. Moment. Er gähnte? Ja, er gähnte. "Du gähnst. Müde?", fragte er nochmals laut.
"Ach, es geht. Mir ist nur so fürchterlich langweilig", antwortete der Mann im Anzug und fiepste.
"Du fiepst. Ich meine, du sprichst ja!"
"Ja. Das ist der Grund für meine Langeweile. Keiner mag sich mit mir unterhalten. Mir ist unfassbar fad. Da dachte ich, ich komme mal vorbei."
"Das ist sehr klug von dir. Ich habe auch nichts gegen ein gutes Gespräch", sagte Smorren.
"Worüber wollen wir reden?"
"Wie kommst du hierher?"
"Da ich nicht fliegen kann, bin ich wohl geschwommen", antwortete der Mann im Anzug.
"Und was fiepst du so?"
"Das ist die Art, wie ich uriniere."
"Du hast also gerade auf meine Koje gepisst?", fragte Smorren ungläubig.
"Um ehrlich zu sein: ja. Entschuldige."
"Ach, schon gut. Ich nehme mal an, ich bin betrunken und du bist gar nicht wirklich da. Also hast du auch nicht auf meine Koje gepinkelt."
Der Mann im Anzug schüttelte den Kopf. "Angenommen, ich wäre nicht da. Wie können wir uns dann unterhalten?"
"Na ja, ich habe zu viel getrunken und du bist das Ergebnis eines Traumes. Also unterhalten wir uns."
"Das bedeutet, dieses Gespräch findet statt, aber findet gleichzeitig auch nicht statt?", fragte der Mann im Anzug.
"Ja, so stelle ich mir das vor."
"Entschuldige", begann der Mann im Anzug, "aber das ist Blödsinn. Du musst dich schon entscheiden. Unterhalten wir uns oder nicht?"
"Na gut, wenn du es so willst: Ja, das tun wir. Aber nur im Traum."
"Willst du damit sagen, dass du träumst, und im Traum ist dir ein Mann im Anzug erschienen, der auf deine Koje uriniert und sich mit dir darüber streitet, ob das Gespräch stattfindet oder nicht? Das ist so ziemlich das Merkwürdigste, das mir je passiert ist. Wie wahrscheinlich ist es, dass du von einem Mann im Anzug träumst, der auf deine Koje uriniert und mit dir diskutiert?"
Smorren seufzte. "Ich streite mich nicht."
"Nun veranstalte keine Erbsenzählerei. Von mir aus ist es kein Streit. Nehmen wir an, du träumst. Nehmen wir weiter an, der unwahrscheinliche Fall tritt ein, dass dir ein Mann im Anzug erscheint, auf deine Koje uriniert und mit dir über Schein und Sein debattiert. Hältst du das für realistisch?"
"Nein", gab Smorren zu.
"Siehst du."
"Soll das heißen, dass ich nicht träume?", fragte Smorren.
"Das habe ich nicht gesagt. Ich sage nur, es ist nicht sehr wahrscheinlich. Ist doch Unfug. Wie soll das funktionieren? Ich will dir sagen, dass es nur eine Möglichkeit gibt."
"Und die wäre?"
"Dass auch ich träume. Es ist sonst gar nicht möglich, dass wir uns unterhalten."
"Träumen welche wie du denn?"
Der Mann im Anzug nickte entschieden. "Aber ja doch. Jeder träumt. Ein Mümmeldickel träumt ebenso wie ein Graser, ein Schaf oder ein Schneebär. Wieso denken Menschen eigentlich dauernd, wir Tiere wären zu blöd, einen Traum zu haben? Das finde ich nicht sehr nett. Gehörst du auch zu diesen Leuten, Smorren?"
"Auf keinen Fall. Du hast es mir ja nun erklärt."
"Ja, genau. Und weißt du was? Mir ist nicht mehr fad. Danke für die Ablenkung."
Kaum dass der Mann im Anzug verschwunden war, hörte Smorren Geschrei. "Geentert, wir werden geentert!"
Der Kapitän sprang auf, nahm Schwert und Beil und lief an Deck, vom Rausch keine Spur. Schwarze Gestalten, deren blaue Rüstungen im Mondlicht schimmerten, schlitzten seinen Mannen die Kehlen auf. Die Gegner hatten kein Schiff, sie schienen einfach aus dem Meer gekommen zu sein, und es waren keine Malstromwesen. "Beschützt die Amme und das Kind!", rief Smorren. Aber es war zu spät. Zwei der schier unbezwingbaren Krieger schnitten gerade den Bauch der Amme auf und warfen sie ins Meer. Ein anderer trug das Kind auf dem Arm. Smorren warf sein Beil auf einen der anderen Krieger, damit sein Weg frei wäre. Gemeinsam mit Ivar näherte er sich dem Entführer, der einfach in die Tiefen sprang, nachdem er die Stirn des Kindes berührt hatte. "Ihm nach!", rief Ivar. Er und Smorren zögerten nicht und sprangen in die kalte See. Aber die Angreifer waren schon verschwunden, das Meer blutgetränkt von der Mannschaft der 'Wallenden Dirne'. "Verflucht nochmal! Los, an Deck, sucht alles ab!"
Aber es war nichts mehr zu finden. "Hrafna dreht mir den Hals um, dann hat Thoralf keine Arbeit mehr", knurrte Smorren, der seine abgeschlachteten Mannen betrachtete. "Wieviele haben überlebt?"
Zum Zählen kamen sie nicht mehr, als sich der Tentakel eines namenlosen und nicht erkennbaren Ungeheuers durch das Deck bohrte, den Mast wie ein Zündholz umknickte und Smorren, Ivar, die anderen Überlebenden mit dem ganzen Schiff in die schwarze kalte Tiefe zog. Smorren sah noch, wie seine Dirne entzwei brach und auf ewig den Grund des Meeres als ihren Friedhof bezeichnen würde. Ihr fetter Arsch und ihre Zähigkeit hatten sie am Ende im Stich gelassen. So erging es auch Smorren, der vor dem Ertrinken seinen letzten Gedanken der dicken Bertha und ihrem Hurenhaus widmete.
Gwendor
Der Goldlord und Schatzmeister der Wilderlandbundes, der losen Vereinigung aller bretonischen Lords im Wilderland, Gwendor von Brylod, schloss das zweite Rechnungsbuch und verstaute es im sicheren Versteck. All die Jahre war es wohl keinem der anderen aufgefallen, dass er ein Viertel der Kriegskasse - für die Verteidigung Bretonias gegen mögliche Invasoren und Störenfriede aus dem Wilderland - für persönliche Zwecke abzweigte. Nun, immerhin erforderte seine Aufgabe viel Zeit und Mühe, für die er ja auch entschädigt werden musste. Und mit dem Ausscheiden Maegranths aus dem Bund, der persönlichen Wandlung von Harilos in einen Ordensbruder und dem fraglichen Status der Häuser Aestrinor und Roglund war die Kasse eben schmächtiger geworden. Umso schwieriger war es, eine ausreichende Menge in der Kasse zu behalten, sodass jeder mehr einzahlen musste. Alle bis auf Garrilton waren dem Aufruf gefolgt. Zwar mit Protest, aber durchaus motiviert. Nicht auszudenken, so erklärte Gwendor es gern, eine fremde Macht würde tatsächlich einfallen, so wie es damals die Blodhord getan hatte. Vielleicht die Drow. Oder, momentan wahrscheinlicher, die Malstromwesen. Dass er sich selbst zu einer fremden Macht zählen würde, hätte er vor einigen Wochen noch nicht gedacht. Aber Veränderungen und Anpassungen waren eben notwendig.
"Werter Lord Garrilton. Was für eine Freude, Euch zu sehen", sagte Gwendor und bot ihm einen Krug Wein an.
"Lord Brylod. Wie ich sehe, geht es Euch hervorragend. Habt Ihr den Wein aus der Kriegskasse bezahlt oder wie darf ich es verstehen?", fragte Garrilton ohne Umschweife.
"Ich bitte Euch, mein Freund, wir haben alle unsere persönlichen Vorräte. Ich bin ein Kenner guten Weins und biete Euch etwas davon an. Darf ich?", fragte er und gab ihm den gefüllten Krug.
"Persönliche Vorräte kann ich mir derzeit wohl kaum erlauben. Ich habe mehr brennende Scheiterhaufen mit Infizierten als ich Zwiebeln in meinen Vorratskammern besitze."
"Das ist natürlich bedauerlich. Seid versichert, ich fühle mit Euch. Auch wir hatten viele Kranke zu beklagen. Die Sieche aus dem Malstrom, sie ist furchtbar."
Garrilton sah sich um. "Es ist mir bereits aufgefallen. Ich sehe weder Scheiterhaufen noch sind mir in der Umgebung räuberische Malstromwesen oder Plünderer aufgefallen. Ihr seid wohl entweder gesegnet von den Göttern oder habt einen Weg gefunden, das Problem zu beheben. Wenn letzteres der Fall ist, sollte man das nicht Kanzler Baelon und der Königin berichten?"
"Nun, werter Garrilton, ich möchte mich gern als gesegnet betrachten. Wünschen wir uns dies nicht alle? Wie sonst sollten wir das Reich schützen vor seinen äußeren und inneren Feinden? Ich will Euch etwas sagen: Eure Zahlung an den Bund für die Kriegskasse sei Euch erlassen. Wie findet Ihr das?", fragte Gwendor und schmunzelte.
"Und weshalb habt Ihr mich hierher bestellt? Damit wir Wein trinken? Ich weiß, dass auch Dagharn und Falkenfels Mühe hatten, die Kasse zu füllen. Ihnen gegenüber habt Ihr Euch weniger verständnisvoll gezeigt."
Gwendor lachte. "Wie ich sehe, seid Ihr mit einem weitblickenden Verstand ausgezeichnet. Wie steht es um Eure Ambitionen, hm?"
"Wenn Ihr auf die Dokumente Crenns anspielt, die auch mir vorgelegt wurden, kann ich Euch antworten: Das Haus Breton, die Königin, sie weiß sicher zu schätzen, dass wir in den Sommern von Hitze geplagt unseren Dienst verrichten, Riesen und Dunkelelfen davon abhalten, Wilderberg oder Nordstein zu erstürmen, und dass wir in den Wintern dasselbe tun, nur wenig geschützt vor der Kälte, die aus dem Schelf zu uns getrieben wird. Und doch, ich erlaube es mir zu sagen, wünsche ich mir, sie möge einen Tag und eine Nacht selbst durch die Wildnis streifen. Gerade jetzt, in diesen Zeiten. Man hat Dunkelelfen gesehen, die ganz anders sind als die, die wir kennen. Sie scheinen auch einem ganz anderen Herrn zu dienen. Dies könnte eine Bedrohung sein, gegen die wir das erste Schwert in der ersten Reihe sind. Darum bin ich gekommen, um entgegen meiner Ankündigung meinen Teil beizusteuern, denn wir werden ihn brauchen. Auch wenn ich langsam vermute, dass Ihr Euch ein gutes Leben damit macht."
"Gut gesprochen",antwortete Gwendor, "aber ich möchte Euch sagen, dass es andere Wege gibt, diesen Dingen, zu denen diese Krieger wie auch die Malstromwesen gehören, zu begegnen. Es gibt einen Weg, sie zu bekriegen. Jedoch hat alles seinen Preis. Ich habe ein Geschäft abgeschlossen, das beides umfasst: Einen Sieg gegen die Kreaturen, die uns bedrohen und einen Preis. Dazu eine verbesserte Position, wenn alles vorbei ist. Raus aus diesem Dreckloch, weg vom Wilderland, hinein in die sicheren Mauern der Stadt. Und mehr Gold als wir beide zählen können. Dieser Wein wäre lächerlich im Vergleich zu dem, was wir bekommen."
"Ich bin interessiert", sagte Garrilton und ließ sich den Krug nachfüllen.
"Ich werde es Euch zeigen", sagte Gwendor und ließ sich von einem Diener einen Käfig bringen. Darin eingesperrt war eine Krähe.
Varcus
Wie er zum Diener Tysandras geworden war, das wusste er nicht. Woran er sich erinnerte, das waren Wortfetzen, ein Panther, der ihn angesprungen hatte und zu Boden gerungen, ohne große Mühe. Dabei hatte Varcus sich einen Augenblick zuvor noch dazu durchgerungen, seine langjährige Tarnung, sein persönliches Geheimnis aufzugeben. Nachdem er vor vielen Jahren begriffen hatte, dass er selbst verantwortlich gewesen war für die gerissenen Schafe seines Vaters Herde, für die Toten in Adelnio und nach der Frühmesse in der Caprianischen Basilika zu Mero, hatte er darüber nachgedacht, sich das Leben zu nehmen. Denn er war das geworden, was er verabscheut hatte. Eine Widernatürlichkeit, eine Hexerei, das Ergebnis böser Mächte, die am Werke waren, um die Menschen zu versuchen, dass sie in die Niederhöllen oder in das Purgatorium gesperrt würden, für immer weit weg von Gottes Licht.
War er nicht immer ein treuer Diener des Herrn gewesen? Hatte er nicht das Böse und Widergöttliche ausgelöscht, wo immer es ihm begegnet war? Varcus konnte sich kaum erinnern, wieviele Leiber er dem reinigenden Feuer übergeben hatte, wieviele Hexen er ausgepeitscht hatte, ihre Brüste abgeschnitten und ihre Fotzen zum Ausbluten gebracht. Alles im Namen des Herrn und seines Zornes, der ebenso stark war wie seine Güte. Denn die, die gestanden, hatte Varcus schnell getötet. Nur die Ketzer, die ihre häretischen Taten geleugnet hatten, waren das Opfer von Varcus Gerichtsbarkeit geworden, die zwar nicht über Gottes Gericht stand, aber ihr vorausgehen musste.
Nun war er geworden, was er hasste. Als junger Bursche hatte er sein geweihtes Messer genommen, es in Feuer getaucht und seinen Leib gebrandmarkt, sich jeden Tag selbst gepeitscht und Nägel in seine Stiefel gelegt, um die reinigende Pein zu spüren. Aber anstatt ihn zu erlösen, hatten diese Schmerzen den Wolf erwachen lassen. Es hatte Monate gedauert, die Verwandlungen zu kontrollieren, sie zu beherrschen, damit das Tier nicht regierte, sondern der gläubige Mensch, der immer auf dem Pfad der Gerechten gewandert war. Sich das Leben zu nehmen, war die einzige Möglichkeit gewesen. Aber Selbstmord war eine Todsünde, es war einem Gläubigen verboten, oder das Purgatorium wäre seine Heimat. Es war Gregorianus gewesen, der ihm einen Ausweg gezeigt hatte. Er hatte ihm beigebracht, durch Gebete dem Hunger und Durst nach Fleisch und Blut zu widerstehen. Derselbe Mann, dessen Ermordung er geplant hatte.
Varcus spürte keine Reue, denn Nazarius hatte recht, wenn er schrieb, dass die Worte des Sigillum Dei eindeutig waren. Nur wenn der Heilige Vater sterben würde, würden die Mondkrieger mit ihren blauen Rüstungen ihnen gegen die Pestilenz beistehen und Tectaria retten. Wieder hatte Varcus alles für Gott und die Heimat getan. Und weil er nichts mehr von Nazarius gehört hatte, war er nach Midgard aufgebrochen. Innerlich sprach er einen Fluch gegen den Wolf, denn seine Sinne hatten ihn auf die Insel der Regentin gelockt. Ja, erinnerte er sich, so haben Nour und Tysandra mich gefangen und meine Männer abgeschlachtet. Nun war er der Diener der Herrin der Krähen. Und ausgerechnet Nour hielt seine Kette, die sie ihm in den Rücken genagelt hatten. Losreissen konnte er sich nicht, es würde ihn umbringen, so tief hatten sie die Wunden geschlagen. Doch selbst wenn er es könnte, er würde es nicht tun. Immer wenn er einen Gedanken fasste, zu entkommen, Nour die Kehle aufzuschneiden und Tysandra das Genick zu brechen, hielt ihn eine Krähe, die sich an die Innenseite seines Schädels eingenistet hatte, davon ab, indem sie in sein Hirn pickte und immer mehr klare Gedanken auffraß. Manchmal legte sie den Schnabel nur an eine Stelle der grauen Masse und Varcus sah die vielen Ketzer, die er auf den Scheiterhaufen gebracht hatte. Sie lachten ihn aus, warfen brennendes Holz nach ihm und nannten ihn einen Schlächter. Aber er war kein Schlächter, er hatte doch alles für den Herrn getan. Er hätte sogar sich selbst verbrannt, wenn er auch nur einen ketzerischen Gedanken gehabt hätte.
Wenn er daran dachte, sich das Schwert eines Söldners zu packen und Yphilia abzustechen, pickte die Krähe. Als er die Gefangenen sah, Maga Aethel und ihre Begleiter, wollte er die Gelegenheit nutzen, sie aufwecken und retten, dass sie gemeinsam entkommen würden. Die Krähe pickte. Natürlich pickte sie nicht wirklich. In Wahrheit waren es die Schrauben, die sie an ein Gestell befestigt hatten, das seinerseits an seinen Kopf gebunden war. Wenn Nour an den Schrauben drehte, bohrten sie sich tiefer in den Schädel. Manchmal sah Varcus nicht die Ketzer, sondern etwas anderes. Da war eine Tür und sein Name stand darauf geschrieben. Eine nie gehörte Melodie schien ihn einzuladen, sodass er beinahe darum gebeten hätte, die Schrauben tiefer zu drehen. "Wer bist du?", fragte eine Stimme. "Varcus." "Mein Name ist Erec, und ich erwarte dich."
Dakhil
Er und seine Panther waren zurückgekehrt. Sie waren in Hrafnas Auftrag aufgebrochen, ein Lager dieser Winterkrieger zu finden, wie sie die merkwürdigen Dunkelelfen, die vielleicht gar keine waren, nunmehr nannten. Diese Kreaturen dienten dem Winterkönig, einem Emporkömmling, der den Thron - wie Dakhil gehört hatte - einem Herrscher namens Ormur gestohlen hatte. Der Winterkönig und seine Diener regierten in den Weiten des Jorganschelfes - und sie beherrschten Mond und Nebel, wie es schien. Dakhil verdankte dem Fluch von Mond und Nebel mehr als nur seine Freiheit. Crenn mochte ihn aus den Ketten Tectarias befreit haben, aber erstens hatte Crenn seinen Weg verlassen und war zu einer Gefahr geworden und zweitens war Crenn tot. Mond und Nebel aber waren lebendig. Ihnen beiden dankte Dakhil jeden Tag, so wie er zu Amur seine Gebete sprach, denn erst durch sie hatte er den Pfad entdeckt, der ihn am Ende hierher gebracht hatte, nach Skjöldbur. War er zuerst besessen davon gewesen, die Finsternis zu besiegen und Amurs Stab der Erschaffung zu retten, so hatte er dank Kelar seine wahre Bestimmung entdeckt. Er würde eines Tages die Tiere der Welt, genau wie die Wandler und Tierfürsten, gegen die Wesen des Faulwassers, den Dienern Khaliqs, führen. Aber wenn der Winterkönig den Nebel, den Mond und auch den Weißen Wolf, das Zeichen für den Widerstand, beherrschte, wie sollte er seine Aufgabe erfüllen, oder vielmehr: Wie sollte er beginnen?
Das Lager der Winterkrieger hatten sie nach einigen Stunden im Tal von Mularn entdeckt. Zwar waren die Diener des Winterkönigs durch Magie nicht aufzuspüren, und auch sie selbst schienen keinen Geruch zu haben, aber jedes Wesen hinterließ Spuren. Und genau diesen Spuren in Schnee und Schlamm waren die Panther gefolgt, bis sie eine kleine Siedlung, geschützt durch eine schwache Palisade, ausgemacht hatten. Eine Weile hatten sie die Krieger beobachtet, um weitere Entwicklungen zu bemerken, dann hatten sie eine Nachricht nach Skjöldbur geschickt und waren selbst - wie abgesprochen - umgekehrt. Als sie die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten, war es einer der Falken gewesen, der einen einzelnen Reiter bemerkt hatte, dessen Ziel wohl eben dieses Lager zu sein schien. Dakhil hatte dann befohlen, den Reiter zu ignorieren und nach weiteren Ausschau zu halten. Sollte es eine Falle für die Skjöldburer sein, würden sie es herausfinden, aber ein einzelner Reiter war keine Bedrohung. Sie waren schon nahe der Wegenge gewesen, die nach Süden wieder in das Jütland führte, als eine furchtbare Kälte zu spüren gewesen war:
"Was ist das?", fragte Hassan leise. Der Truppführer verwandelte sich ungewollt in seine menschliche Form. So geschah es auch mit Dakhil und den anderen.
"Es weiß, dass wir da sind. Diese Kälte ist selbst für diese Gegend nicht alltäglich", sagte Dakhil. "Zu den Waffen."
"Vielleicht noch mehr Winterkrieger", flüsterte ein anderer.
"Ja, möglich", knurrte Dakhil, auch wenn sein Gefühl ihm sagte, dass es etwas anderes war. Aber er wollte seine Männer nicht unruhiger machen als sie es ohnehin waren. Was immer es war, es war in der Lage, Wandler zu zwingen, ihre menschliche Form anzunehmen. Und so sehr Dakhil und die anderen sich auch bemühten, sie konnten sich nicht verwandeln.
Hinter einer Anhöhe entdeckten er und die seinen einen Kreis aus Fackeln. Aber die Fackeln leuchteten blau, und ihr Feuer war so kalt wie es die Umgebung geworden war. Winterkrieger hielten außerhalb des Kreises Wache und kehrten Dakhils Mannen den Rücken zu. Wenn sie sie wirklich bemerkt hatten, dann ignorierten sie den Khagan und seine Horde. Dakhil gab ein Zeichen, und sie krochen weiter auf die Anhöhe, um zu sehen, was im Kreis war. Wesen standen darin, eisblau, vielleicht gar nicht körperlich, und es schien, als wären die Rüstungen und Helme gleichzeitig der teilweise durchlässige Leib. Eisige Kälte ging von den Wesen aus, die über die Winterkrieger zu gebieten schienen. Die Wesen sangen. Ihre Stimmen klirrten wie Frost. Die Leichen von zwei Nordmannen lagen bei ihnen. Es waren keine Skjöldburer, und auch in der Ostfold hatte er diese Krieger nicht gesehen. Wahrscheinlich waren es Alanen. Als der Gesang verstummte, hatte sich eine dicke Schicht aus Eis über die Toten gelegt. Das Eis zerbrach, und sie erhoben sich. Aber sie waren nicht bei Sinnen, sondern handelten und bewegten sich wie Untote. So wie die Malstromwesen jeden Toten in einen der ihren wandelten, veränderten diese Eiswesen, die wohl über die Winterkrieger herrschten, Gefallene in willenlose Diener, deren Haut und Kleidung nun dieselben kalten Farben hatte wie die Wesen selbst sie trugen. "Greifen wir an?", fragte Hassan leise. "Nein. Zurück nach Skjöldbur. Wir stecken in großen Schwierigkeiten. Ich will wissen, was das für Wesen sind."
Sie waren zurück. Zuerst fragte Dakhil nach Hrafna, der aber schon aufgebrochen war. "Dann informiert Rewulf und Gruschka. Am besten spreche ich mit Theralia darüber."
Die Zauberin erzählte ihm vom Eis, wie es in den letzten Thronfolgekriegen erschienen war und dass es vermutlich älter war als alles, was auf der Welt lebte. "Wenn das Eis über die Winterkrieger gebietet, dann vielleicht auch über den Winterkönig. Das stellt alles in ein ganz anderes Licht. Ich wünschte, wir würden Jorgan finden. Oder wenigstens Ormur. Er müsste doch wissen, was es damit auf sich hat."
Brutus
Lord Dagharn war nach Absprache mit seinem Bruder in die Stadt aufgebrochen. Die vermaledeiten Dokumente, die Tysandra von Aestrinor - oder die Betrügerin, denn Tysandra war zweifelsfrei gestorben - als Thronerbin auswiesen, bereiteten dem Hause Dagharn Kopfschmerzen. Brutus wusste, dass die Erbfolge Bretonias einige Schwachstellen hatte, was in der Vergangenheit zu einigen Problemen geführt hatte, und er wusste ebenfalls, dass man unter gewissen Umständen Königin Theresia als Bastard betrachten musste. Aber ihm war eine kluge und tapfere Bastardin auf dem Thron lieber als irgendeine Schurkin, mochten deren Ansprüche auch gerecht sein. Sollte das alles stimmen, dann wäre Lerhon kein Sohn von Darius dem Ersten gewesen. Was bedeutete, dass Darius der Zweite bereits ohne Recht den Thron bestiegen hätte. Was wiederum zur Folge hätte, dass die Ansprüche Theresias geringer wären als sie es ohnehin waren. Als Tochter Königin Annieshes war sie eine Prinzessin geworden, aber wenn Annieshe einen Illegitimen geheiratet hatte, dann wäre Theresia nichts weiter als irgendjemand sonst. Ein Bauer aus dem Breland könnte dann den gleichen Anspruch erheben wie sie. Dies wäre Futter für all die, die von Tysandra wussten und überzeugt wären, die Behauptungen Crenns, er wäre der wahre Erbe von Darius gewesen, für wahr hielten. Häuser, die ohnehin nicht zufrieden waren. Häuser wie Brylod oder Garrilton. Wie Torbrin. Und das, obwohl sie am Ende in der gleichen Lage wie zuvor wären: Eine andere Königin würde herrschen, aber ihre Häuser wären vermutlich noch immer dort wo sie jetzt waren. Der Unterschied würde nur greifen, wenn es Zusicherungen und Versprechungen seitens Tysandras gäbe. Sie müsste ihnen etwas bieten, das sie von Theresia niemals bekämen. "Ein Herrscher, ob gut oder nicht, vergisst nie die, die ihm beistanden", murmelte Brutus, während er auf Einlass in die Stube wartete.
"Denn die, die ihm beistanden, vergessen auch nicht", sprach Phaeron von Yren, der gerade die Amtsstube verließ.
"Ihr seht mich überrascht."
"So? Das kann man auch von mir sagen. Ich wusste nicht, dass Ihr bereits zurück seid, Lord Dagharn."
"Schon eine ganze Weile. Seit Midgard von den Malstromwesen überrannt wurde. Auch wenn ich den Nordleuten gern beistehen würde, ich habe hier wichtige Dinge zu erledigen, Lord Yren."
"Warum sind wir so förmlich, Brutus? Nennt mich Phaeron. Wir hatten nie Gelegenheit zu sprechen, und jetzt treffen wir uns unter diesen nebulösen Umständen."
Brutus knurrte leicht. Das Geschwafel der hohen Herren war nie seine Art. Zwar war er selbst in Adel geboren worden, aber sein Vater hatte ihm beigebracht, das Gerede meist nicht sehr zielführend war. Und meist nur genutzt wurde, um von den wesentlichen Dingen abzulenken. Die Schnösel bei Hofe sagten ohnehin niemals das, was sie wirklich bewegte. "Spart euch das, Phaeron. Welche nebulösen Umstände werden es wohl sein? Ihr seid aus denselben Gründen wie ich hier, da bin ich mir sicher. Ich hoffe nur, wir sehen das mit den gleichen Augen."
"Und wenn nicht?", fragte Lord Yren mit einem Lächeln auf den Lippen.
"Ihr erinnert mich an Maegranth. Der hat den Verstand verloren. Ist es Euch auch so ergangen?", brummte Brutus.
"Er ist eine verlorene Seele. Ich hingegen sorge mich um die Sicherheit des Reiches."
"Mit verlorenen Seelen sollte sich der Hohepriester Lebans ja auskennen. Aber ich muss zugeben, lieber unterhalte ich mich mit Ascanio. Auch wenn viele in den Schlachten unter meiner Klinge starben, so weiß ich Liras sehr zu schätzen."
Yren nickte. "Aber ja doch. Ihr müsst es so sehen, Brutus: Leban muss sich nicht um seine Schäflein sorgen. Eines Tages kommen sie alle."
"Da stimme ich zu. Man munkelt, ein Schäflein hat er entlassen und ins Leben zurückgeschickt", sagte Brutus.
"Ein solches Wunder fiele doch eher Liras zu. Habt Ihr Euren lieben Ascanio schon gefragt? Vielleicht hat er etwas damit zu tun."
"Ganz sicher hat er das nicht. Ich schwöre, Phaeron, Euch habe ich im Auge. Wenn es keine Teufelei Maegranths war, dann eine von Euch!"
Yren lächelte nicht mehr. "Vorsicht, Lord Dagharn. Das sind schwere Anschuldigungen. Ich kam her, um mit Emes über die Sicherheit meiner Brüder und Schwestern zu diskutieren. Genau deshalb. Weil stets die heilige Kirche des Mondes verdächtigt wird, sobald irgendein Verrückter wiederkehrt oder Unnatürliches im Reich geschieht. Ich bin mir sehr mit Euch einig, Brutus, ob Ihr es glaubt oder nicht: Etwas stimmt nicht. Das war weder ein Wunder von Liras noch von Leban. Lethos Mercutio hat es überprüft. Es gab keinerlei göttliches Wirken. Nun, jedenfalls keine Gottheit, die wir gut kennen..."
"Ihr habt einen Verdacht? Gibt es Hinweise?"
"Vielleicht. Es bedarf langer und ausführlicher Untersuchungen, um etwas zu bestätigen oder zu leugnen. Aber Leban ist unruhig dieser Tage, und der Mond hat nicht nur in unserem Glauben eine hohe Bedeutung. Aus diesen Gründen muss ich nun weiter. Ihr entschuldigt mich?"
"Ich erwarte Nachricht von Euch", befahl Brutus regelrecht.
"Aber ja. So wie jeder."
Der Mann in Schwarz
Gemeinhin nannte man wohl das, was geschehen war, eine Verkettung unglücklicher Umstände, eine unerwartete Entwicklung - oder einfach Pech. Die Verkettung bestand darin, dass es Zhaerius gelungen war, ihn auf eine Insel zu locken, wo er nicht nur Maga Aethel und ihren Begleitern gegen die Krieger des Winterkönigs beigestanden hatte, sondern wo es eine Quelle gab, die Zhaerius die Gelegenheit gegeben hatte, in einem Moment der Klarheit das Geheimnis der Öllampe auszuplaudern. Im gleichen Augenblick hatte er Szynric befohlen, den Skjöldburern einen von Jorgans Golems zu überlassen. Dazu war es auch gekommen. Dieser Vorgang war Aran zu Ohren gekommen, und die unliebsame und geradezu penetrant pedantische Persönlichkeit des ehemaligen Dieners Lebans war hervorgekrochen gekommen und hatte es gewagt, die Befehle Khaliqs zu missachten. War er nicht die Plage selbst, der Herrscher aller Plagen, mit einer Macht, die jede andere in den Schatten stellte, der Macht der Erschaffung? Hrabanus war nur eine Marionette gewesen, sogar die Finsternis, die er so lange schon besitzen wollte, hatte sich in ihrer Sicherheit, ihre volle Macht am Kreis der Zendavesta zu erhalten, getäuscht und es zugelassen, dass alle Kraft an Zhaerius, an den Mann in Schwarz, an Khaliq, dem Schwarzstern, übergegangen war. Und seine Kinder, denn er und nicht Hrabanus hatte sie geschaffen, stellten sich nun gegen ihn und missachteten die Worte des Mannes, den sie vor zweihundert Jahren Prophet genannt hatten.
"Prophet", brummte eine Stimme aus dem Ecaloscop.
"Aran, was gibt es zu berichten?"
"Ich sage dir, wo das Kind Zada ist, wenn du mir eine Frage beantwortest."
"Seit wann muss der Prophet auf deine Befehle hören?", zischte der Mann in Schwarz.
"Seit sein Wort eine große Lüge ist."
"Eine Lüge?", fragte er.
"Eine Lüge. Dein Wort ist nicht das Wort des Propheten, so wie mein Volk es immer angenommen hatte. Du sprichst nicht für den Weinenden Gott, sondern nur für dich selbst. Ich habe gehört, dass du Szynric befohlen hast, die Skjöldburer ziehen zu lassen. Und zwar mit dem Golem, der so wichtig war. Oder war auch das eine Lüge gewesen? Du hast gesagt, der Golem würde uns zu Jorgan und er in das Mysterium bringen, wo wir erfahren, wer wir sind. Du hast uns Seelen versprochen. Und nun muss ich hören, dass der Winterkönig dem Mysterium ebenfalls nachjagt. Du hast uns nicht gewarnt", klagte Aran ihn an.
"Der Winterkönig ist schwach. Ein Emporkömmling ohne Einfluss. Seine Krieger haben magische Rüstungen, das ist alles", log der Mann in Schwarz.
"Sie haben unseren Stützpunkt südlich von Skjöldbur überrannt. Ihre Drachen sind tödlich, genau wie sie selbst. Und merkwürdige Gestalten sind mit ihnen. Sie sind wie das Eis aus dem Jorganschelf, wie die Kristalle, die wir fürchten."
"Das Eis?", fragte der Mann in Schwarz. Er spürte das Feuer, das einst Ricardus verbrannt hatte, aber diesmal war es schrecklich kalt.
"Du kennst diesen Feind also. Hast du auch ihn in deinem großen Plan berücksichtigt, oder ist das alles neu für dich, wie die Tatsache, dass wir dir widersprechen?", fragte Aran.
"Es ist ein altes Volk. Es kommt von einem Ort, an dem ewige Dunkelheit herrscht. Jenseits des Thrones des Winters. Niemand kann dort leben", antwortete er und sagte die Wahrheit.
"Aus deiner Stimme höre ich Furcht. Lass dir gesagt sein, Mann in Schwarz, dies ist ein Feind, den du selbst bekämpfen wirst. Wir gehen unseren Weg nun allein, ohne deine Lügen!"
"Aran, höre mich an. Nicht Hrabanus hat euch geschaffen, ich war es. Ich habe die Macht der Erschaffung."
Der Sohn Caldorvans lachte. "Das ist lächerlich. Liranus selbst hat mit dem Weinenden Gott gesprochen, der uns schuf."
"Liranus war bei ihm?", fragte der Mann in Schwarz, in großer Sorge.
"Interessant, nicht wahr? Und bald wird der Weinende Gott frei sein, denn die Krieger des Winterkönigs sind immun gegen die Hexerei der Insel der Finsternis. Sorgst du dich, Lügner?"
"Wo ist Zada?"
"Du wirst es niemals erfahren. Ich wünsche dir Erfolg bei deinen Lügen, die du nun anderen erzählen kannst, um sie zu umschmeicheln", sprach Aran und brach die Verbindung ab.
Der Mann in Schwarz zitterte. Schnell sang er sein Lied, aber selbst das konnte den Herrn der Plagen nicht beruhigen. Es war noch zu früh, und ohne Zada wäre sein Vorhaben in Gefahr. Er durfte noch nicht gehen, er brauchte Zhaerius noch. Zhaerius, der ihn verraten hatte. Wenn er schon verlieren musste, dann würde er ihn mitnehmen. So hob er die Hand und erschuf den Baum, an dem er das erste Mal das Lied gesungen hatte. Dort, wo aus der Raupe ein Schmetterling geworden war. Schon spürte er das Feuer und den Rauch, worin er sich entflammen wollte.
Im letzten Augenblick hielt ihn etwas davon ab. Eine Krähe landete auf seiner Schulter. "Ich lade dich ein, Mann in Schwarz. Denn ich habe ein Angebot."
Der Mann in Schwarz zuckte zusammen. Die Verkettung unglücklicher Umstände setzte sich fort, denn die Herrin der Krähen war zu ihm gekommen.
Alea iacta est.
Die Würfel sind gefallen!
Die Würfel sind gefallen!
Re: Ein scharlachroter Tod
3
Der Weinende Gott, der die Sterne sieht
Liranus hatte ihn wieder verlassen. Hrabanus war allein mit der Finsternis. Ein paar Stunden würde sie ihm noch geben. Liranus hatte ihm versichert, dass sie bald einen Weg finden würden, den Schild zu umgehen und auch das Eisen der Insel zu beeinflussen, damit er diesen Ort endlich verlassen könnte. Denn Hrabanus wollte nichts mehr, als bei seinen Kindern sein und sie in eine neue Zeit führen. Die Kräfte der Krieger des Winterkönigs und woher sie kamen, sie wären der Schlüssel, gemeinsam mit der Fähigkeit von Liranus, den Schild überwinden zu können. Hrabanus spürte großen Zorn, wenn er an Zhaerius dachte, der sich als sein Prophet ausgegeben hatte. Ihn würde er richten und dann würde er sich seinen Platz unter den Göttern erstreiten! An seinen Bruder Erec dachte er immer wieder. Ob er ihm vergeben würde? Manchmal malte er sich aus, wie es sein könnte. Erec als seine rechte Hand, und zusammen würden sie den Wesen des Malstroms nicht nur eine Heimat, sondern auch ihre Seelen schenken.
Wieder sprach er zu den Sternen. "Nehmt mich auf, bitte. Ich will mich fügen und anständig sein", bettelte er wie ein kleines Kind. Aber sie hörten nicht.
Oder etwa doch? Aus dem Meer erhob sich eine Nebelgestalt. Er sah Lebans Augen darin. "Leban, du hast mich gehört."
"Nicht ganz", sprach eine Stimme. Hrabanus fühlte, um wen es sich handelte. Der Nebel stieg in sein schwarzes Herz, dann spürte Hrabanus ein Stechen, als wäre es lebendig. Als würde ein Dolch in sein Herz gestoßen werden. Ein Licht verließ ihn. Es war das Licht, das ihm der Stab der Erschaffung gegeben hatte. Die Gestalt lachte und stieg wieder ins Meer.
"Nein, nein! Das darf nicht sein! Hast du gesehen, was passiert ist?", weinte er und sah zur gebannten Finsternis, die sich nicht mehr rühren konnte, seit sie auf diese Insel gekommen waren. Wenn die Wolke ihn einschloss, sah Hrabanus, dass die Finsternis schon längst vergessen hatte, was sie war. Sie existierte nur noch in sich selbst, in einer eigenen Welt aus Irrsinn und Fehlglauben. Einer der Tentakel griff Hrabanus und sperrte ihn wieder ein in das Haus des Wahnsinns. Nun hatte er alles verloren.
Ormur
Bevor Ofeigurs Rabe ihn gerufen hatte, da hatte der verstoßene König noch gezweifelt. War es richtig gewesen, Mellwen die Tiara zu geben? Jenes Schmuckstück, das er einst von ihr selbst bekommen hatte, von der ersten Elaya? Der Schlüssel darin führte keineswegs zu einem Versteck Mellwens, sondern zu Dholons Versteck auf Blyrtindur. Und nicht wegen Mellwen hatte Ormur Zweifel, sondern wegen ihres Begleiters. Jenem Elaya, der nun Dholons Seele trug und den gleichen Namen. Was, wenn Erinnerungen ihn umfangen würden, die seinen Verstand verwirrten und den alten Dholon erwachen ließen? Ormur war sich sicher, dass Dholon der Winterkönig geworden war. Was, wenn er Einfluss auf den gegenwärtigen Dholon nehmen könnte?
Während sie durch das Gewölbe schlichen, behielt er den Elaya stets im Auge. Als sie die Truhe fanden und Dholon sie öffnete, legte Ormur einen Arm nach hinten, um schnell seine Waffe ziehen zu können, falls der Elaya etwas Unerwartetes tun würde, etwas, das er selbst nicht tun wollen würde. Aber das geschah nicht. Zu Ormurs Erleichterung. Er kannte zwar die Hintergründe zwischen Mellwen und Dholon nicht, aber sie würde es ihm wohl kaum verzeihen, wenn er nur aufgrund seiner Instinkte ihren Begleiter erschlagen würde. Außerdem wäre es das Letzte, was er wollte: Mellwen zu verletzen. Vor langer Zeit hatte er eine tiefe Liebe zu der Elaya empfunden, die sie zwar nicht auf diese Weise erwiderte, aber es war Ormur stets genug gewesen, in ihre Augen zu sehen und zu wissen, dass es ein Band zwischen ihnen gab, das die Zeiten, das alle Zeiten überwinden könnte. Als sie ihn damals gebeten hatte, Dholons Leben zu beenden, nachdem er die elf Elaya geopfert hatte für Morrighan, hatte er gezögert und gewartet, damit sie die Bitte wiederholen würde. Er hatte sicher sein müssen, denn es hatte ebenso ein Band zwischen Mellwen und Dholon gegeben. Aber er, der immer mehr gewollt hatte, er hatte es selbst zerstört. So war Ormur zurück in das Schelf gegangen, auf Jorgans Rücken, um ihn zu vernichten. Dass er sich dadurch schuldig gemacht hatte, bei der Erschaffung des Winterkönigs geholfen zu haben, plagte ihn noch heute. Und es hatte ihn ebenso geplagt, als er alle Nachkommen Dholons, die er hatte finden können, getötet hatte, damit seine Saat niemals aufgehen mochte.
Aber als sie nun am Ende des Gewölbes den Namen dessen entdeckt hatten, der Ormurs Jagd entkommen war, fühlte der verstoßene König, dass sein Versagen und seine Taten bis heute Folgen hatten. Durch ihn war Dholon gestorben und in den Winterkönig verwandelt worden, und ebenfalls durch ihn war ein Nachkomme namens Esthelion entkommen. Den Namen kannte er nicht, aber Ormur hatte eine Vorstellung davon, wie er hätte überleben können. Er dachte daran, wie sein Herold ihn verraten hatte und wie dadurch der Thron des Winters in die Hände des Winterkönigs und seiner Krieger gefallen war, die bis heute den Thron beherrschten und Mond und Nebel vergifteten. Es war die unbekannte Kraft gewesen, deren Ziele sich stets änderten. Es war das Eis gewesen. Ormur kannte die Legenden. Er wusste vom Orden von Eis und Feuer, wie er versucht hatte, die Elemente in Einklang zu bringen, getrennt durch das Grün. In den Thronfolgekriegen der Menschen auf Ghundras Rücken war das Eis erschienen und hatte das Mädchen Theresia auf den Thron führen wollen - ebenso mit unbekannten Gründen und Absichten. So wie sein Thron geraubt worden war, hatte sie ihren gewonnen. Ormur hatte von Jorgan gehört, dass das Eis jenseits des Winterthrones existierte und dass dort eine ewige Nacht herrschte, die kein Licht durchdringen konnte. Das Eis war vor einer Ewigkeit gekommen, als es noch kein Leben gegeben hatte. Weder die großen Insekten der Tiefe, noch die Drachen der Lüfte. So gesehen war es schon immer hier gewesen. Und wenn es dem Winterkönig und Theresia geholfen hatte, während es Ormur geschadet hatte, war deutlich, dass seine Absichten vollkommen unbekannt waren oder seine Freunde und Feinde sie fehlgedeutet hatten, wie sein Herold es getan hatte. Vielleicht hatte das Eis auch Esthelion beschützt.
Wieder legte Ormur eine Hand an den Rücken und beobachtete Dholon genau, als der Name Esthelion gefallen war. Hoffentlich irrte er sich. Mellwen dürfte ihm niemals vergeben.
Gwayan
Er hörte auf, das Lied zu summen. Gesang half hier nicht, sondern nur rohe Gewalt. "Was du eben gemacht hast, das machst du noch einmal!", rief Gwayan der Alten Krähe zu. Der alte Nordmann beschwor hastig einen weiteren Einherjar, der ihnen im Kampf beistehen sollte. "Nimm dir so viele Felsen wie du kannst", befahl der Oger dann dem Elementar. Er beschaute nur kurz seine Wunde, biss die Zähne zusammen und rief alles an Wissen hervor, was Tepoks harte Schule ihm beigebracht hatte.
Die Krieger rückten näher. Es waren je drei an den Flanken und zwei in der Mitte. Ein größerer blieb etwas zurück. Die Krähe befahl den Geist in den Kampf und schickte ihn in die Mitte. Die zwei Krieger hatten alle Hände voll zu tun und waren abgelenkt. Gwayan packte die Alte Krähe und ging mit ihr an die linke Seite, und das Elementar warf einen großen Steinbrocken gegen die rechts anstürmenden Krieger. Einen hatte es von seiner Reitspinne gerissen und begraben, aber die Spinne und die übrigen zwei Reiter stürmten unbeirrt auf Gwayan zu, verließen ihre Flanke. Gwayan schleuderte die Keule von unten durch den Schnee und traf den Kopf der vordersten Spinne, deren Reiter rechtzeitig absprang und hinter den Oger gelang, während sein Reittier das Bewusstsein verlor. Er sah schnell zur anderen Seite, wo das Elementar zwei Krieger gepackt hatte und mit den Köpfen gegeneinander schlug. Die Spinnen aber hatten es gepackt. Gwayan konnte nicht eingreifen, sondern musste schnell zur Seite springen, bevor die Klinge des Kriegers ihn von hinten treffen würde. Es gelang. Er schlug die Keule tief gegen den Winterkrieger, dessen Beine brachen.
Laut schreiend lag er im Schnee, aber Gwayan hatte keine Zeit, sein Leben zu beenden, als eine Klinge seine Schulter traf und er die Keule fallenließ. Zwei Krieger standen vor ihm und holten zum letzten Schlag aus. Da sah Gwayan nur einen Stab, der blitzschnell den Kopf des ersten Kriegers traf und ihn schlafen legte. Die Alte Krähe krächzte: "So viel Freude hatte ich zuletzt in meiner Jugend!" Gwayan antwortete nicht, sondern griff mit beiden Händen das Schwert des anderen Kriegers, zog ihn damit herum und rammte sie in den Kopf einer weiteren Spinne. Der Einherjar hatte einen Krieger getötet und war in den Zweikampf gegen den anderen gegangen, während der hintere Krieger immer noch wartete. Gwayans Ellbogen schlug dann rückwärts gegen den Krieger, dessen Schwert er nahm und es in die zweite Spinne warf, bevor sie ihn erreichte. Das Elementar hatte indes die erste Spinne abgeschüttelt und in die Schlucht geschleudert, aber die andere klammerte sich mit den Beinen am Rücken fest. Als der Einherjar sich auflöste rannte die Alte Krähe mit aller Kraft, die ihr noch geblieben war auf den Krieger zu, der nun seinen Anführer schützte. Gwayan zog das Schwert aus der Spinne heraus, hob seine Keule auf und rief zum Elementar: "Fang!" Dann warf er ihm die Klinge zu, aber hatte keine Gelegenheit, das Ergebnis abzuwarten, als der vordere Krieger einen Schwertstreich gegen die anstürmende Krähe ausführte. Der Nordmann stolperte, was sein Glück war, und sein Beutelchen, worin er Runen und Knochen aufbewahrte, wurde vom Gürtel abgeschnitten. Die Alte Krähe trug eine Schnittwunde am Bauch davon und fiel zu Boden. Gwayan traf den Kopf des Kriegers, der wie ein Zündholz nach hinten abbrach, so heftig waren Gwayans Anlauf und sein Zorn gewesen. Bevor er den Anführer erreichen konnte, hatte dieser die Namensrune der Krähe an sich genommen und ritt auf seiner Spinne davon. Gwayan fuhr herum. Das Elementar hatte die Spinne abgestochen und näherte sich dem Oger und dem Nordmann. Gwayan kniete nieder, um die Wunden der Krähe zu versorgen, bevor er sich um seine eigene kümmerte. Für einen Augenblick dachte er, man würde sie immer noch beobachten. Er hörte ein seltsames Flötenspiel im Wind. "Sieh nach, ob noch jemand hier ist", sprach er zum Elementar. Dann nahm er ein paar Bandagen und Kräuter und pflegte die Alte Krähe. "Wird es gehen, Krähe?" "Ja, es muss gehen."
"Hier ischt niemand schonscht", brummte das Elementar. "Gut. Wir müssen aber hier weg."
Die kleine Schar fand einen Pfad, der in die Schlucht führte. Im Tal zwischen den hohen Bergen liefen sie wachsam bis zum Abend. Es wurde kälter und dunkler. Bald war es immer Nacht. In einer Felswand entdeckte das Elementar eine kleine Höhle. Gwayan untersuchte die Spuren. "Hier hat mal eine Bärin gelagert, aber das ist lange her. Wir bleiben ein paar Stunden hier."
Die Alte Krähe war schnell eingeschlafen, und das Elementar war mit dem Eingang verschmolzen und hatte die Farbe des Gesteins angenommen, damit niemand sie finden würde. Gwayan nahm etwas Schnaps, reinigte die eigenen Wunden und holte Nadel und Faden hervor, um die tiefere Wunde zu nähen. Mutter Erde hatte ihn auf diesen Pfad geführt, und er würde ihn zu Ende gehen. Aber nicht mehr heute. Er warf einen letzten Blick auf das Elementar und schloss die Augen.
Wieviele Stunden waren vergangen? Hastig sah Gwayan sich um. Ein Geräusch hatte ihn geweckt. Sofort sah er zum Elementar. Der Eingang war verschlossen, aber die steinerne Haut war gefroren. Eine tödliche Kälte war zu spüren. Die Krähe war betäubt vom Schnaps und bemerkte nichts. Aber Gwayan sah etwas. Ein blauer Schlitz, der zu dem Visier eines Helmes gehörte, der keiner war. In der Dunkelheit der Höhle war nicht mehr zu sehen als das. Es war das Eis. Lange sah es ihn an, während Gwayans Hand schon längst die Keule gegriffen hatte. Dann sah er eisige Klauen, die sich ausstreckten. "Verschwinde, hier gibt es nichts für dich!", rief er. Die Krähe wachte auf und packte ihren Stab. "Oh nein!", rief sie.
Aber bevor das Eis sich nähern konnte, rührte sich das Elementar und gab den Eingang frei. Zwielicht schien hinein. Es waren Fackeln. Das Eis war verschwunden. Vorsichtig erhob sich Gwayan. "Bleib hier, Krähe."
Das Elementar trat hinaus, Gwayan folgte ihm. Eine Schar Krieger. Sie trugen die Fackeln, und ihre Gesichter waren unter Helmen aus Leder verborgen. Es waren keine Krieger des Winterkönigs. Als einer von ihnen den Helm abnahm, erkannte er einen Valkyn. "Gwayan Einohr. Wir haben dich gesucht."
"Wer bist du?"
"Mein Name ist Wyreg, Gylwars Sohn."
Esthelion
Er schob es auf seine Besessenheit, mehr über Jorgan, sein Puppenspiel und seine Geheimnisse zu erfahren. Die Schlaflosigkeit hatte ihn umfangen. Als Ledharthien benötigte er nur selten Schlaf, und eine Trance hatte immer ausgereicht, seinen Körper und Geist zu regenerieren. Aber in den letzten Wochen war das nie genug gewesen. Und seit er durch sein Studium erfahren hatte, dass Pytharas und Jorgan vermutlich derselbe waren - oder dass Jorgans Geist sich mit Pytharas vereint haben könnte - war es schlimmer geworden. Er hatte bereits Aenthalas um ein Mittelchen gebeten, aber der Rote Narr, Priester des Feuers, hatte keine wirksamen Dinge. Esthelion hätte auch die Turmherrin oder Davinicol gefragt, aber Mithraniel galt wie Aethel als vermisst, seit sie mit Taynos Hilfe in das Grabmal der Drachenritter aufgebrochen waren, um herauszufinden, wer die Nebelessenz manipuliert hatte. Es war von einer einigermaßen sicheren Gewissheit, dass die drei Nebelessenzen in der Lage wären, den Weißen Wolf zu rufen, ihn aus den Klauen des Winterkönigs zu befreien. Davinicol konnte er nicht fragen, da dieser vor kurzer Zeit nach Skjöldbur aufgebrochen war. Er war auf sich gestellt. Diskretion war schon immer seine Stärke gewesen, sodass er keinen anderen um Hilfe fragen würde. Wenn ihm überhaupt jemand helfen wollen würde.
Denn die Vergangenheit, das wusste Esthelion, hatte niemand vergessen. Wie er dem Eis gedient hatte und dem Hause Dryr, um letztlich ein zwar gutes Ziel zu erreichen - Theresia zur Königin zu machen, weil es der Wille vom Eis gewesen war - aber mit bedenklichen Mitteln. Esthelion hatte alle manipuliert. Begonnen bei Bathir und Elyarn von Dryr, ebenso bei Lucius von Trar, der sich nach dem Krieg in den Weißen Wolf verwandelt hatte und auch bei Glorianna, Hlifa und allen anderen. Er wusste, dass er immer auf der richtigen Seite gestanden hatte, aber den Grund kannte er nicht. Seit er als Ledharthien die Elaya der Glasinsel beriet, versuchte er, seine Missetaten zu korrigieren. Es war leicht, sein Handeln auf seine damaligen Meister zu schieben, dem Eis. Aber war es nicht die Wahrheit? Schon immer hatte Esthelion die Elemente erforscht, und als er auf Argans Orden von Eis und Feuer gestoßen war und weiter geforscht hatte, im Mathricodon und auch im Schelf, war er dem Eis eines Tages begegnet. Heute wusste er mit Sicherheit, dass er weder beherrscht noch bezaubert worden war. Aber es beunruhigte ihn. Warum war er so weit gegangen für eine Macht, die sich nicht erklärte und deren Motive so dunkel waren wie der Ort, woher sie vermutlich gekommen war? War es dasselbe unerklärliche Etwas, das ihn nun nicht mehr loslassen wollte? War es Pytharas selbst, der ihn nun zu sich rief, so wie das Eis ihn damals gerufen hatte und seinen Willen erklärte, ohne von sich etwas preiszugeben?
Das Geheimnis vermutete Esthelion in seiner eigenen Herkunft. Er war ein Ledharthien, aber über seine Vorväter wusste er nichts. Aus dem Nichts, wie die ersten Elaya Mellwen und Dholon, konnte er nicht erschaffen sein. Aber auch seine Eltern kannte er nicht. Wer waren sie, lebten sie vielleicht noch? Hier würde er nichts erfahren. Seine Suche nach Pytharas war erfolglos geblieben. Die Dokumente zur Berechnung der gleichzeitigen Aktivierung der Spiegel hatte er nach Brulund senden lassen. Taynos war dabei, Mithraniel und die anderen aufzuspüren. Hier gab es nichts mehr für Esthelion zu tun. Er schrieb einen Brief und gab ihn Elyrio zur Hand. "Für Mithraniel."
Auf der Glasinsel sah er ein letztes Mal in alle Stammbäume und Aufzeichnungen. Da sah er einen seltsamen Namen. "Ist das ein Ledharthien, ein Elaya?", fragte er und zeigte auf den Namen. "Es ist kein Name unserer Völker", erklärte Thulien, "soll ich mich umhören?" "Nein, schon gut. Ich denke, ich weiß, wen ich fragen muss", antwortete er und ging, wie er immer ging. Ohne einen großen Abschied. Mit dem Stab in der Hand wanderte er zur nördlichen Werft. Dort begegnete er Thoralf, dem Wirt aus Tilhold, der sich gerade nach einem Schiff erkundigte. Die 'Wallende Dirne'. Esthelion hatte den menschlichen Hang zu den blumigsten Namen nie verstanden. In Tilhold könnte man ihm auch antworten, aber er war sich sicher, dass sein Weg ein anderes Ziel hatte. Dieser Name hatte eine spezielle Bedeutung und er wollte sie wissen. Warum sollte eine Ledharthien einen nordischen Namen annehmen?
"Wohin geht deine Reise, Spitzohr?", fragte der Hafenmeister.
"Midgard. Ich benötige eine Mitfahrgelegenheit."
"Geht's auch genauer?"
"Skjöldbur."
Erec
Er hatte die Öllampe nach Brulund gebracht. Die Waffe gegen den Mann in Schwarz, mit dem Namen Ricardus Schwarzstern darauf und den Zahlen, die so viel Unheil auszulösen schienen und gleichfalls so viel Gutes meinten. Es war zumindest Erecs Gefühl, denn wenn er die Zahlen vor dem inneren Auge sah und danach den Drudenfuß, den sie in den Himmel malten, fühlte er die Nähe seiner Mutter, die sein Herz in den kalten Nächten Alt-Blyrtindurs wärmte. Die Zahlen meinten den Drudenfuß, aber ebenso ließen sie sich umschreiben in das Lied von der Raupe Nimmersatt; jenes Lied, das Zhaerius empfänglich für den Schwarzstern gemacht hatte.
Genau dies war schon einmal geschehen, als der Hexer Ricardus in Tectaria verbrannt worden war. Er hatte sich Ricardus Schwarzstern genannt. Erec ließ sich nieder, nahm einige Pergamente und malte den Drudenfuß mit den Sternbildern darin. Den Schwarzstern markierte er und schrieb die Zahl 11 daneben. Dann zeichnete er eine Krähe auf die andere Seite. Die Zahl und die Krähe waren die Zeichen des Schwarzsternes. Die 11 stand in vielen Kulturen für das Pech, das Unglück, das Böse. "Aber die Krähe", sagte er dann leise, "sie steht für so vieles." Der Luchs, der ihn Tag und Nacht nun begleitete, schaute ihn an, als würde er ihm zuhören. "Du kannst mir auch nicht helfen, nicht wahr?", seufzte Erec, streichelte das Fell des treuen Begleiters und widmete sich wieder den Pergamenten. "Also: Der Schwarzstern nährt die schwarze Quelle in Midgard. Sie ist das Gegenstück zur Quelle Blyrtindurs. Die 11 steht für den Schwarzstern, genau wie die Krähe. Aber die 11 und die Krähe stehen ebenfalls für die keltische Göttin Morrighan. Ihr gehört das elfte Lied. Elf Seelen. Die Malstromwesen wollen diese Seelen. Sie führen wahrscheinlich in das Mysterium oder sie sind dort", murmelte er und bemerkte, wie er wieder den Faden verlor. Er trank einen Schluck warme Grasermilch und begann von vorn: "Die Finsternis und Hrabanus gelangten an den Kreis der Zendavesta. Dort stahl Zhaerius die Macht der Erschaffung, bevor Hrabanus und die Finsternis auf die Insel des Himmelseisens gebannt wurden. Zhaerius ist unter der Kontrolle des Schwarzsterns. So wie es auch der Hexer Ricardus war. Er hat es vielleicht weitergegeben an Zhaerius. Der Schwarzstern ist dasselbe wie Khaliq, der Djinn der Plagen. Die 11 steht für ihn, genau wie die Krähe. Die 11 und die Krähe stehen auch für Morrighan. Mit den elf Liedern findet man einen Weg, die Malstromwesen zu vernichten. Und die Öllampe ist das Gefängnis für Khaliq. Aber wieso ist das nicht eindeutig?", fragte er und zeigte wieder auf die 11 und die Krähe. Der Luchs schaute auf das Pergament. "Was denkst du", fragte Erec, "gehe ich das falsch an?" Natürlich gab das Tier keine Antwort. "Alle Zahlen bedeuten so vieles. Gemeinsamkeiten sind natürlich zu erwarten. Und wenn sich alles auf Personen bezieht? Das Mysterium bestimmt uns, dies wissen wir. Aber was, wenn es direkte Verbindungen gibt?", fragte er aufgeregt, stand eilig auf und öffnete Granns Truhe, denn er hatte eine Flöte darin gesehen.
Erec nahm das Instrument und erinnerte sich an die Musikstunden in der Abtei. Er spielte ein paar Melodien, dann nahm er sich die Zahlenfolge erneut vor, veränderte sie, stellte sie um, aber stellte gleichsam sicher, dass er sich weiter innerhalb der Grenzen des Drudenfußes bewegte. Wenn es etwas gab, dann innerhalb dieses magischen Konstruktes. Plötzlich fand er es. Er spielte die Melodie, die er in seinen Träumen vom Mysterium gehört hatte! Erec schloss die Augen, und er fühlte, wie sein Geist sich entfernte. Er wanderte wie die Noten über das Blatt, getragen vom Klang der Flöte. Als er die Augen öffnete, sah er einen dichten Wald in Eis und Schnee. War es ein Ort auf Alt-Blyrtindur? Nein, das war nicht möglich. Denn er sah einen alten Nordmann, der am Boden lag. Ein Elementar kniete daneben. Gwayan, der Oger und Traumleser, war bei ihnen und versorgte die Wunden des alten Mannes. Bevor Erec etwas sagen konnte, trug das Lied ihn weiter, tief in den Norden, wo es dunkel war. Er sah einen Palast, aus Eis geformt, und darunter waren Ranken eingeschlossen. Dahinter war es schwarz. Er sah das Eis, jene Macht, die in den Thronfolgekriegen gekommen war, aber schon seit Anbeginn der Elemente existierte. Etwas stieß ihn an, und Erec hörte auf zu spielen. "Ich war so nah dran", sagte er bedauernd und sah zu dem Luchs, der ihn berührt hatte, um ihn zu wecken. "Hast du etwas gewittert?", fragte Erec. Aber das Tier schaute zum Pergament.
"Ja, ich weiß. Ich komme einfach nicht weiter", murmelte Erec, "ich finde keinen Anfang. Aber ich bin mir sicher, diese Melodie ist das, was die elf Lieder tun werden. Sie werden uns an Orte tragen, die uns helfen können." Der Luchs schien nicht zuzuhören und blickte weiter auf Erecs Zeichnungen, Zahlen, Noten und Linien. "Was ist denn?", fragte Erec und folgte dem Blick. "Ich soll es nochmal versuchen? Na gut: Die Zahlen umfassen uns alle, wie das Mysterium. Die Zahlenfolge umschreibt zwei Lieder. Das eine gehört dem Schwarzstern, das andere dem Mysterium. Aber wie gehören wir in das Ganze hinein?"
Mutlos und erschöpft fand er keine Antwort. Grann kam herein. "Willst du mir ein Ständchen bringen?", lachte der alte Kelte.
"Was, wieso? Ach so, nein, ich habe nur etwas versucht."
"Und ich wunderte mich schon. Ich dachte, du wüsstest meinen Geburtstag", antwortete Grann.
"Nein, den kenne ich nicht. Ich..."
Da hielt Erec inne. "Geburtstage! Geburtsjahre, Sternzeichen!"
"Hab ich was Falsches gesagt?"
"Nein, du bist ein Genius, Grann!"
Der Alchimist runzelte die Stirn, als Erec ihn aufgeregt betrachtete, sich ein Holzlineal und einen Kohlestift nahm und begann, zu rechnen und zu zeichnen. "Die Zahlenfolge ist anwendbar auf eine Sternenkarte. Der Drudenfuß umfasst bestimmte Sterngruppen und einzelne Sterne, nicht wahr?", fragte Erec.
"Ist anzunehmen. Die Sterne machen uns zu dem, was wir sind."
"Genau! Wann bist du geboren?"
Grann nannte ihm ein Datum. Erec rechnete. "Es passt! Wir haben dich gefunden als die Söldner Crenns den Weißen Wolf suchten. Du spielst also eine Rolle. Warte!"
Er berechnete Geburtstage oder wenigstens Geburtsjahre, die er in etwa kannte und ordnete sie zu. "Sie passen alle hinein. Manche sind nah am Schwarzstern, andere weit weg. Wenn ich diese Formel umkehre, dann kann ich Geburtstage, Geburtsjahre und mit einer passenden Karte sogar Orte bestimmen. Die Zahlenfolge ist nicht nur Träger der Lieder und der in Zahlen ausgedrückte Drudenfuß, er ist ebenso ein Kalender und eine Karte. Ich brauche alle Bücher, die Ofeigur nicht mitgenommen hat, vorzugsweise mit Ahnentafeln, Karten, Namen. Historisches!"
Grann gab ihm die Karten. Der Luchs verfolgte das Treiben aufgeregt. Erec nahm wieder den Stift zur Hand, rechnete. "Es gibt ein Muster. Man kann den Drudenfuß drehen und erhält Ergebnisse. Mal sehen, es gibt hier zwei Geburtstage, die mich interessieren. Der eine liegt genau neben Dakhil, der andere bei Zhaerius."
Bis zum nächsten Morgen wälzten Grann und Erec die Bücher. Sie befragten den Golem und verglichen alles miteinander. "Zada. Das hier ist Zada! Ich glaube, sie soll das nächste Opfer des Liedes von Ricardus Schwarzstern werden! Und diesen da, den kenne ich nicht. Wer ist das?", fragte er. Der Golem berichtete erneut, und Erec glaubte nicht, was er hörte. "Ich muss zu ihm sprechen, aber wie?"
Der Luchs sah zur Flöte. "Aber ja, genau!"
So versuchte Erec, sein Flötenspiel so zu lenken, dass er den Weg seiner Geistreise lenken konnte. Er war nun fähig, ohne Traumwasser und ohne einen Traum an andere Orte zu sehen. Und es trieb ihn nach Süden, bis er den Mann sah, entsetzlich gefoltert:
"Wer bist du?", fragte Erecs Geist. "Varcus." "Mein Name ist Erec, und ich erwarte dich."
Phaeron
Lord Dagharn erwartete also Nachricht von ihm. Dass Phaeron voll und ganz auf der Seite der Königin stand, schien Dagharn nicht aufzugehen. Nun, Phaeron war nicht besonders überrascht oder bestürzt deswegen. Wann immer düsteres Geschehen sich seinen Weg in das Reich bahnte, früher oder später würde man die Lebankirche als Beginn des Übels betrachten oder sie mindestens in den Kreis der Verdächtigen aufnehmen. Die Ironie dabei war, dass im Großen Krieg gegen die Dunklen Alten, die Ecaltanim und den Meshiha Deghala tatsächlich ein Lebaner der Grund allen Übels gewesen war: Janus Theren, der sich als einer von Dunkelwald in die Familie geschlichen hatte und als Reinkarnation des Meshiha die Invasoren angeführt hatte, welche das Land verheert hatten. Mit seinem Ende in Samariq war auch der Krieg gewonnen worden, aber zu einem hohen Preis. Phaeron hatte der Schlacht am Tempel Amurs als Lebanritter beigewohnt, in der vordersten Reihe. Für seine Tapferkeit und weil er schwer verwundet worden war, hatte man ihn zum Priester erhoben und einen Sitz im Wilderland zugesprochen. Einige Jahre darauf, nach der Rückkehr aus Blyrtindur, war er weiter in der Kirche aufgestiegen, und nun war er Hohepriester Lebans. Eine weitere Ironie: Zhaerius von Maegranth, ein Priester Lebans, war zum größten Teil der Grund für das gegenwärtige Übel. Abgesehen vom Winterkönig und den Intrigen Crenns, der selbst aus dem Fegefeuer heraus das Reich in Aufruhr gebracht hatte: durch Tysandra.
Und da Phaeron nicht die leiseste Ahnung hatte, wie man Zhaerius aufspüren und besiegen könnte, beschloss er, sich dem interessanteren Geheimnis zu widmen und Tysandra das Handwerk zu legen. Das Reich hatte in den vergangenen Jahren genug geblutet. Es brauchte keinen weiteren Usurpator wie sie, was immer sie auch wäre. Von Emes hatte Phaeron erfahren, was er sicher auch Brutus berichten würde: Die Dokumente waren mehr als einmal auf ihre Echtheit geprüft worden, und Emes hatte für Lord Baelon Nachforschungen angestellt, was die Blutlinie von Darius dem Ersten betraf und wie sie sich ihren Weg bis in die Gegenwart gebahnt hatte. Die Hinweise, dass Lerhon nur scheinbar als Darius Sohn aufgezogen worden war, hatten sich verdichtet. Phaeron ging in die Katakomben der Kirche und ließ sich die Gruft der Ritter aus der Zeit des ersten Bürgerkrieges zeigen. Sir Marken war nach dem Sieg gegen die Torbrins auf seinen Wunsch hin verbrannt worden. Phaeron dankte Leban dafür. Die Kirche hatte nach dem Erwachen der Malstromwesen alle Hände voll zu tun gehabt, die Katakomben vor den erwachten Eindringlingen zu schützen.
"Zeigt mir die Asche. Es war damals üblich, sie in magisch geschützten Urnen zu bewahren, sie müsste unversehrt sein", sagte Phaeron zum Totenwächter, der das Gefäß vorsichtig öffnete.
Die Asche war vollständig. Er berührte sie vorsichtig mit der Hand, roch daran, sprach ein Gebet und untersuchte die erhaltenen Spuren der Aura. "Ich muss sie an mich nehmen. Ebenso Lerhons Asche."
Dann verließ er die Stadt, ließ sich ein Pferd nehmen und von zwei Soldaten begleiten. "Wir müssen in den Norden. Sir Markens Sohn starb in einem Feldlager im heutigen Tilhold, meine Herren", sagte er zu seinen Begleitern. "Wie sollen wir jetzt noch Überreste finden?"
"Lasst dies meine Sorge sein."
In den Nordlanden befahl er den Soldaten, abseits des Friedhofes zu warten. Er nahm beide Urnen, rief die Aurenspuren herbei, um sie zu vergleichen und um die Überreste des Kindes zu suchen, das angeblich im Kindbett gestorben war, Sir Markens Sohn, der zur selben Zeit geboren worden war wie Lerhon. Selbst wenn das Kind nicht auf dem Friedhof beigesetzt worden wäre, war Lebans Macht auf seinen Ackern groß genug, die Sichtweite eines Lebaners, der durch das Land der Toten blickte, zu erhöhen. Aber da war kein totes Kind, das zu Markens Aurenspuren passte. Phaeron und die Soldaten hatten bis zum nächsten Morgen jeden Totenacker, jedes Schlachtfeld der Vergangenheit und ebenso die Wälder der Schwarzberge durchsucht - nichts. Und Lerhons Spuren ähnelten denen Markens: Lerhon war tatsächlich der Sohn des Ritters gewesen. Eine schlechte Nachricht, die er durch die Soldaten direkt an die Kanzlei und das Quartier der Bretonianer überbringen ließ. Phaeron stieg auf sein Pferd und machte sich auf den Weg in das Wilderland, um sich mit Lord Dagharn zu besprechen. Dagharn misstraute ihm zwar, aber er stand auf der richtigen Seite. Vor dem Tor Nordsteins aber durchfuhr Phaeron ein stechender Schmerz, und die Urnen glitten aus der Satteltasche, als er vom Pferd stürzte und mit den Füßen am Sattel hängengeblieben war. "Geht es Euch nicht gut, Mylord?", fragte eine Axt der Nordmark.
"Es... es geht. Ich muss sofort mit Thain Wilon sprechen. Er muss eine Botschaft entsenden, an Hohenfels, schnell!"
Gwendor
"Nein, Hauptmann Krindac, es wird ein Großteil der Truppen hier verweilen. Wir brauchen sie nicht", befahl Gwendor von Brylod.
"Es muss beschützt werden, Mylord. Das waren Eure Worte."
"Aber ja doch. Nur nicht von uns. Wir haben...Hilfe."
Der Hauptmann sah ihn verwundert an, erwiderte aber nichts mehr. Gwendor schätzte den Rat seiner Männer, denn auf dem Gebiet von Taktik und Strategie war er nie sehr bewandert gewesen. Es lag nicht daran, dass er kein Verständnis für Manöver oder bestimmte Winkelzüge auf dem Feld oder den größeren Gebieten hätte. Tatsächlich hatte er einfach wenig Interesse an Schlachten, Kämpfen und all dem militärischen Unsinn, mit dem sich ebenso gut seine Männer beschäftigen konnten.
Seinen Platz im Wilderland hatte er - genau wie den Titel - einer Anhäufung von Zufällen zu verdanken, dazu hier und da eine kleinere Bestechung, und alles hatte sich wundersam gefügt. Geboren wurde Gwendor als Sohn eines Baders, was wohl eine der geringsten Stufen in der bretonischen Gesellschaft war. Ein Bader wusste viel auf dem Gebiet der Heilkunst, der allgemeinen Hygiene, und vor allem war er dort nützlich, wo die Menschen sich keinen Medicus oder Zauberer leisten konnten, sich um ihre kleinen und großen Wehwehchen zu kümmern. Als sein Vater selbst erkrankte, hatte Gwendor die Stellung übernommen - mit wenig Ambitionen, aber es war besser als nichts gewesen. Ein Bader wurde mit Glück geduldet, gehörte er aus Sicht des Adels doch zu den unehrlichen Berufen und durfte sich keiner Zunft anschließen. Mit Emsigkeit und viel Geduld war es Gwendor gelungen, ein geringes Vermögen anzusparen, das nicht nur seine Ausgaben deckte, sondern ebenfalls den Weg freigemacht hatte, besseres Werkzeug zu erstehen, sowie eine gefälschte Urkunde, die ihn als Medicus auswies. Die Jahre darauf hatte er damit verbracht, auch dem niederen Adel beizustehen, bis er eines Tages Medicus am Hofe von Haus Caenor geworden war. Nachdem der alte Caenor verstorben war, hatte Gwendor in den Schlachtreihen Jargus gedient. Im Thronfolgekrieg hatte er sich abgesetzt, mitsamt seiner Werkzeuge und einem Batzen Gold aus Caenors Haus, als dieses am Ende von Sicarion Grauwind überrannt worden war. Caenor hatte ihn zuvor für seine Verdienste zum Junker erhoben, sodass er nun als freier Medicus mit einem kleinen Titel Zugang zum Hof bekommen hatte. Von dort war es ein weiter Weg gewesen, bis er das Vertrauen der Ritterschaft erlangt hatte.
Nach der Krönung Theresias waren viele freie Posten zu vergeben gewesen. Ein Ritter zu sein, dies war natürlich nicht gerade in Gwendors Interesse gewesen; vielmehr hatte ihn eine Aufgabe gereizt, bei der er mit möglichst wenig Aufwand viel erreichen würde. Sir Allyen hatte zu dieser Zeit keinen eigenen Sitz mehr und sollte vom Kanzler mit einer Festung belohnt werden. Und da Martus von Brioless allmählich zu alt geworden schien, hatte sich abgezeichnet, dass Festung Wilderberg bald einen neuen Herrn bekommen würde. Dezent hatte er es ab und an zur Sprache gebracht, dass Wilderberg sich bestens eignen würde für ein Hospiz und eine Bastion für verwundete Soldaten, aber Lord Baelon hatte wohl andere Pläne gehabt, und Brioless saß noch in Wilderberg bis die Malstromwesen gekommen waren. "Wenn Ihr dem Reich wirklich dienen wollt, Gwendor, es gibt einen Posten, der vakant ist. Allerdings befindet er sich fern der Stadt und auch fern der Kernlande", hatte Baelon gesagt. Gwendor hatte sofort an den Eisenwall gedacht. Immerhin war Lord Bathir von Dryr gefallen, und Elyarn war nicht unbedingt mit Stärke gesegnet gewesen. "Aber natürlich, Mylord. Für das Reich!" Diese Worte hatte Gwendor schon so oft gesprochen, dass sie in dem Augenblick wohl überzeugend gewirkt hatten. Dass es das Wilderland geworden war - und nicht der Eisenwall - war bedauerlich gewesen, doch eines Tages, daran hatte er immer geglaubt, wäre der Weg in die Kernlande frei. Er müsste nur abwarten. Mit Geduld.
Und jetzt war es fast geschehen. Seine neue Verbündete hatte ihm verschiedene Zusicherungen gemacht, und sie schien fähig und mächtig genug, ihre Ziele zu erreichen. Ob Tysandra tatsächlich einen berechtigten Anspruch auf den Thron hätte, scherte Gwendor sehr wenig. Solange das Unternehmen gelänge, wäre das vollkommen unwichtig. Auf dem Thron saß immer nur der, der die meisten und mächtigsten Verbündeten hatte. Nach allem, was Tysandra ihm gezeigt hatte, stand er auf der richtigen Seite. Dass Garrilton der Angelegenheit zugestimmt hatte, machte es noch besser. Sollte etwas schiefgehen, es wäre der geeignete Sündenbock gefunden. Man musste die Hinweise nur richtig platzieren. Nachdem Garrilton die Kraft der Krähe gesehen hatte, war er Feuer und Flamme geworden. "Verhaltet Euch ruhig. Gebt mir ein paar Euer Leute mit, und wir beginnen mit dem ersten Schritt", hatte Gwendor erklärt. "Der da wäre?" "Sorgt Euch nicht." "Nein, ich will alles wissen."
"Dann solltet Ihr mich begleiten", hatte Gwendor dann entschieden.
Das Gewölbe war früher einer der Fluchttunnel von Hohenfels in die Ebene gewesen, wurde aber durch Sicarions Truppen nahezu vollständig zerstört. Es war aber groß genug, die Energie aufzubringen, die Waffe zu aktivieren - wo auch immer sie war. Gwendors und Garriltons Männer hatten das Gestein in den Wänden verarbeitet. Dies war erledigt. Etwas anderes aber sorgte Gwendor. Der verfluchte Riese hatte bisher jeden Versuch abgewehrt, in das Lager der Winterkrieger einzudringen. Auch Gwendors Versuche, ihm zu beweisen, dass er es ehrlich meinte, waren wenig fruchtbar gewesen. Tysandras Ärger darüber war kaum zu übersehen. "Die Gefangenen kennen seinen Namen nicht. Zumindest sagen sie, dass sie es nicht wissen", sagte die Herrin der Krähen durch das Ecaloscop.
"Es tut mir leid, meine Königin, ich habe all meine Informanten befragt. Und Mutter Kelar ist unauffindbar. Sie müsste seinen Namen kennen."
Jetzt verfluchte Gwendor sein Desinteresse, was Strategien betraf. War diesem Riesen damals nicht eine Schlüsselrolle im Thronfolgekrieg zugefallen?
Caldorvan
Der untote Lord begab sich auf den Friedhof, als es zur Nacht dämmerte. Seine Beobachter aus Hohenfels, die er Hlifa zu verdanken hatte, schienen wirklich jeden seiner Schritte zu bewachen. Caldorvans Hand ruhte auf einem der alten Grabsteine, bis die Erde sich regte und von einer knochigen Hand aufgewühlt wurde. Dann half er dem Skelett auf die Beine. Ein paar Fetzen Stoff trug es, und im Grab lag ein Stab. Die Wachen der Festung wussten, dass er sich einen Trupp zusammenstellte, und dies hatte er auch Hlifa gesagt. Es war eine seiner Bedingungen gewesen. Welcher Art die Untoten wären, die sich ihm anschlossen, war nicht Teil der Abmachung gewesen. Er gab dem alten Hofmagus der Therens den Stab in die Hand und sprach seine Befehle. Caldorvan beobachtete die stummen Gesten des Skeletts, das sich hinter der Mauer versteckte, außerhalb der Sichtlinie der Wachen, die kurz darauf sahen, wie Caldorvan zurück an seinen Platz schritt. "Gute Arbeit", brummte er leise und legte den Magier wieder in die ewige Ruhe zwischen den Welten. Dann verwandelte er sich in den Nebel, während die Illusion seines Körpers Wache hielt.
Zuerst wanderte der Nebel auf das Meer hinaus, dann in den Eisenwall, kletterte durch ein Fenster und erschien Elyarn, dem Statthalter der Malstromwesen in den südlichen Schwarzbergen.
"Lord Caldorvan, Ihr seht mich überrascht. Ich dachte, man bewacht Euch?"
"Ja, das tut man auch. Aber ich bin kein Schoßhündchen, das Tag und Nacht einen Aufpasser benötigt. Wir müssen etwas besprechen, Elyarn."
"In der Tat. Jedoch habe ich Zweifel an Eurer Loyalität, denn es hat Entwicklungen gegeben. Ihr seid nicht informiert, nicht wahr?"
Caldorvan knurrte. "Darum bin ich hier. Was gibt es?"
"Es gibt Grund zu der Annahme, dass der Mann in Schwarz, Ihr kennt ihn als Zhaerius von Maegranth, Euch beherrscht."
Jetzt war Caldorvan tatsächlich irritiert. Führte Zhaerius sie nicht an, hatte er sie nicht erschaffen? Wieso wäre das also ein Problem? Caldorvans Plan beruhte darauf, zum Heermeister und Führer der Malstromwesen aufzusteigen und sie zu benutzen - so wie er benutzt worden war, von so vielen. Gab es einen Aufstand gegen Zhaerius? Wenn ja, dann war Caldorvan nun in beträchtlicher Gefahr. Die einzige Chance, die er nun hatte, war die Wahrheit. "Er beherrscht mich nicht."
Elyarns leere Augen strahlten dennoch Verwunderung aus. "Nicht? Erklärt das."
"Ich bin bereits mehr als einmal benutzt und beherrscht worden. Zu meinen Lebzeiten vom eigenen Ehrgeiz, dann von Lerhons Arroganz und in meinem neuen Leben von so vielen Scharlatanen, dass ich Sicherheitsmaßnahmen getroffen habe. Es kann nicht mehr geschehen."
Ein weiteres Wesen betrat den Saal. Es war Aran, sein Sohn. "Ich glaube nicht, dass dies ausreicht, Vater."
"Aran, wie erfreut ich bin, dich zu sehen", brummte Caldorvan.
"Zhaerius hat sich als großer Lügner erwiesen. Ich habe Liranus davon abgeraten, ihm weiter zu folgen, denn er war niemals der Prophet des Weinenden Gottes. Wenn du also ein Spion von Zhaerius bist, dann bist du hier unwillkommen. Wir gehen nun unseren eigenen Weg. Und wenn ich mir eine persönliche Bemerkung erlauben darf: Dir folge ich mit Sicherheit niemals wieder. Für dein Haus wolltest du immer das Beste, dies ist nicht zu leugnen, Vater. Außerdem trägst du den Nebel in dir. Du kannst uns schaden. Wie sollten wir dir glauben oder dir folgen? Nein, Vater, deine Herrschaft über mich ist vorüber. Schau, wohin es mich geführt hat. Ich war weitgehend zufrieden als Kommandant von Terra Brumalis. Nun treibt mich die Suche an. Die Suche nach dem Mysterium."
Caldorvan lachte. "Mein Sohn, davon kann ich dich erlösen."
"Was meint er damit?", fragte Elyarn und sah zu Aran.
"Erkläre dich!", befahl dieser.
Caldorvan verwandelte sich in den Nebel. Im Kern des Nebels war ein Licht, das Caldorvan in den leeren Augen Arans und Elyarns sah, als es reflektiert wurde. Der Plan war aufgegangen. Zhaerius glaubte, ihn zu beherrschen. Aran glaubte, frei zu sein - und wie sie irrten. Mit seinen Gedanken formte Caldorvan Ranken, die beide Wesen packten und hielten. Dann sprach er das Gebet des Weinenden Gottes an die Sterne und verwandelte sich wieder in seine untote Gestalt. "Ruft die anderen. Es gibt viel zu tun!"
Aran und Elyarn verneigten sich, als die Ranken sie freiließen. Und Caldorvan spürte, wie die Malstromwesen auf dem Land und im Meer, sogar jenseits des Ozeans, seinen Befehlen lauschten. Auf seinem Weg von der Küste in das Inland hatte Caldorvan den Menschen gelauscht und von Tysandra erfahren. Nun, diese Schurkin, wer immer sie war, würde vor seiner neuen Kraft erzittern. Im Morgengrauen wäre die Illusion am Friedhof verschwunden und die Untoten zu Staub zerfallen. Eine Botschaft an Hlifa läge dann auf dem Grabstein des Magiers. Es war ein neuer Anfang.
Der Weinende Gott, der die Sterne sieht
Liranus hatte ihn wieder verlassen. Hrabanus war allein mit der Finsternis. Ein paar Stunden würde sie ihm noch geben. Liranus hatte ihm versichert, dass sie bald einen Weg finden würden, den Schild zu umgehen und auch das Eisen der Insel zu beeinflussen, damit er diesen Ort endlich verlassen könnte. Denn Hrabanus wollte nichts mehr, als bei seinen Kindern sein und sie in eine neue Zeit führen. Die Kräfte der Krieger des Winterkönigs und woher sie kamen, sie wären der Schlüssel, gemeinsam mit der Fähigkeit von Liranus, den Schild überwinden zu können. Hrabanus spürte großen Zorn, wenn er an Zhaerius dachte, der sich als sein Prophet ausgegeben hatte. Ihn würde er richten und dann würde er sich seinen Platz unter den Göttern erstreiten! An seinen Bruder Erec dachte er immer wieder. Ob er ihm vergeben würde? Manchmal malte er sich aus, wie es sein könnte. Erec als seine rechte Hand, und zusammen würden sie den Wesen des Malstroms nicht nur eine Heimat, sondern auch ihre Seelen schenken.
Wieder sprach er zu den Sternen. "Nehmt mich auf, bitte. Ich will mich fügen und anständig sein", bettelte er wie ein kleines Kind. Aber sie hörten nicht.
Oder etwa doch? Aus dem Meer erhob sich eine Nebelgestalt. Er sah Lebans Augen darin. "Leban, du hast mich gehört."
"Nicht ganz", sprach eine Stimme. Hrabanus fühlte, um wen es sich handelte. Der Nebel stieg in sein schwarzes Herz, dann spürte Hrabanus ein Stechen, als wäre es lebendig. Als würde ein Dolch in sein Herz gestoßen werden. Ein Licht verließ ihn. Es war das Licht, das ihm der Stab der Erschaffung gegeben hatte. Die Gestalt lachte und stieg wieder ins Meer.
"Nein, nein! Das darf nicht sein! Hast du gesehen, was passiert ist?", weinte er und sah zur gebannten Finsternis, die sich nicht mehr rühren konnte, seit sie auf diese Insel gekommen waren. Wenn die Wolke ihn einschloss, sah Hrabanus, dass die Finsternis schon längst vergessen hatte, was sie war. Sie existierte nur noch in sich selbst, in einer eigenen Welt aus Irrsinn und Fehlglauben. Einer der Tentakel griff Hrabanus und sperrte ihn wieder ein in das Haus des Wahnsinns. Nun hatte er alles verloren.
Ormur
Bevor Ofeigurs Rabe ihn gerufen hatte, da hatte der verstoßene König noch gezweifelt. War es richtig gewesen, Mellwen die Tiara zu geben? Jenes Schmuckstück, das er einst von ihr selbst bekommen hatte, von der ersten Elaya? Der Schlüssel darin führte keineswegs zu einem Versteck Mellwens, sondern zu Dholons Versteck auf Blyrtindur. Und nicht wegen Mellwen hatte Ormur Zweifel, sondern wegen ihres Begleiters. Jenem Elaya, der nun Dholons Seele trug und den gleichen Namen. Was, wenn Erinnerungen ihn umfangen würden, die seinen Verstand verwirrten und den alten Dholon erwachen ließen? Ormur war sich sicher, dass Dholon der Winterkönig geworden war. Was, wenn er Einfluss auf den gegenwärtigen Dholon nehmen könnte?
Während sie durch das Gewölbe schlichen, behielt er den Elaya stets im Auge. Als sie die Truhe fanden und Dholon sie öffnete, legte Ormur einen Arm nach hinten, um schnell seine Waffe ziehen zu können, falls der Elaya etwas Unerwartetes tun würde, etwas, das er selbst nicht tun wollen würde. Aber das geschah nicht. Zu Ormurs Erleichterung. Er kannte zwar die Hintergründe zwischen Mellwen und Dholon nicht, aber sie würde es ihm wohl kaum verzeihen, wenn er nur aufgrund seiner Instinkte ihren Begleiter erschlagen würde. Außerdem wäre es das Letzte, was er wollte: Mellwen zu verletzen. Vor langer Zeit hatte er eine tiefe Liebe zu der Elaya empfunden, die sie zwar nicht auf diese Weise erwiderte, aber es war Ormur stets genug gewesen, in ihre Augen zu sehen und zu wissen, dass es ein Band zwischen ihnen gab, das die Zeiten, das alle Zeiten überwinden könnte. Als sie ihn damals gebeten hatte, Dholons Leben zu beenden, nachdem er die elf Elaya geopfert hatte für Morrighan, hatte er gezögert und gewartet, damit sie die Bitte wiederholen würde. Er hatte sicher sein müssen, denn es hatte ebenso ein Band zwischen Mellwen und Dholon gegeben. Aber er, der immer mehr gewollt hatte, er hatte es selbst zerstört. So war Ormur zurück in das Schelf gegangen, auf Jorgans Rücken, um ihn zu vernichten. Dass er sich dadurch schuldig gemacht hatte, bei der Erschaffung des Winterkönigs geholfen zu haben, plagte ihn noch heute. Und es hatte ihn ebenso geplagt, als er alle Nachkommen Dholons, die er hatte finden können, getötet hatte, damit seine Saat niemals aufgehen mochte.
Aber als sie nun am Ende des Gewölbes den Namen dessen entdeckt hatten, der Ormurs Jagd entkommen war, fühlte der verstoßene König, dass sein Versagen und seine Taten bis heute Folgen hatten. Durch ihn war Dholon gestorben und in den Winterkönig verwandelt worden, und ebenfalls durch ihn war ein Nachkomme namens Esthelion entkommen. Den Namen kannte er nicht, aber Ormur hatte eine Vorstellung davon, wie er hätte überleben können. Er dachte daran, wie sein Herold ihn verraten hatte und wie dadurch der Thron des Winters in die Hände des Winterkönigs und seiner Krieger gefallen war, die bis heute den Thron beherrschten und Mond und Nebel vergifteten. Es war die unbekannte Kraft gewesen, deren Ziele sich stets änderten. Es war das Eis gewesen. Ormur kannte die Legenden. Er wusste vom Orden von Eis und Feuer, wie er versucht hatte, die Elemente in Einklang zu bringen, getrennt durch das Grün. In den Thronfolgekriegen der Menschen auf Ghundras Rücken war das Eis erschienen und hatte das Mädchen Theresia auf den Thron führen wollen - ebenso mit unbekannten Gründen und Absichten. So wie sein Thron geraubt worden war, hatte sie ihren gewonnen. Ormur hatte von Jorgan gehört, dass das Eis jenseits des Winterthrones existierte und dass dort eine ewige Nacht herrschte, die kein Licht durchdringen konnte. Das Eis war vor einer Ewigkeit gekommen, als es noch kein Leben gegeben hatte. Weder die großen Insekten der Tiefe, noch die Drachen der Lüfte. So gesehen war es schon immer hier gewesen. Und wenn es dem Winterkönig und Theresia geholfen hatte, während es Ormur geschadet hatte, war deutlich, dass seine Absichten vollkommen unbekannt waren oder seine Freunde und Feinde sie fehlgedeutet hatten, wie sein Herold es getan hatte. Vielleicht hatte das Eis auch Esthelion beschützt.
Wieder legte Ormur eine Hand an den Rücken und beobachtete Dholon genau, als der Name Esthelion gefallen war. Hoffentlich irrte er sich. Mellwen dürfte ihm niemals vergeben.
Gwayan
Er hörte auf, das Lied zu summen. Gesang half hier nicht, sondern nur rohe Gewalt. "Was du eben gemacht hast, das machst du noch einmal!", rief Gwayan der Alten Krähe zu. Der alte Nordmann beschwor hastig einen weiteren Einherjar, der ihnen im Kampf beistehen sollte. "Nimm dir so viele Felsen wie du kannst", befahl der Oger dann dem Elementar. Er beschaute nur kurz seine Wunde, biss die Zähne zusammen und rief alles an Wissen hervor, was Tepoks harte Schule ihm beigebracht hatte.
Die Krieger rückten näher. Es waren je drei an den Flanken und zwei in der Mitte. Ein größerer blieb etwas zurück. Die Krähe befahl den Geist in den Kampf und schickte ihn in die Mitte. Die zwei Krieger hatten alle Hände voll zu tun und waren abgelenkt. Gwayan packte die Alte Krähe und ging mit ihr an die linke Seite, und das Elementar warf einen großen Steinbrocken gegen die rechts anstürmenden Krieger. Einen hatte es von seiner Reitspinne gerissen und begraben, aber die Spinne und die übrigen zwei Reiter stürmten unbeirrt auf Gwayan zu, verließen ihre Flanke. Gwayan schleuderte die Keule von unten durch den Schnee und traf den Kopf der vordersten Spinne, deren Reiter rechtzeitig absprang und hinter den Oger gelang, während sein Reittier das Bewusstsein verlor. Er sah schnell zur anderen Seite, wo das Elementar zwei Krieger gepackt hatte und mit den Köpfen gegeneinander schlug. Die Spinnen aber hatten es gepackt. Gwayan konnte nicht eingreifen, sondern musste schnell zur Seite springen, bevor die Klinge des Kriegers ihn von hinten treffen würde. Es gelang. Er schlug die Keule tief gegen den Winterkrieger, dessen Beine brachen.
Laut schreiend lag er im Schnee, aber Gwayan hatte keine Zeit, sein Leben zu beenden, als eine Klinge seine Schulter traf und er die Keule fallenließ. Zwei Krieger standen vor ihm und holten zum letzten Schlag aus. Da sah Gwayan nur einen Stab, der blitzschnell den Kopf des ersten Kriegers traf und ihn schlafen legte. Die Alte Krähe krächzte: "So viel Freude hatte ich zuletzt in meiner Jugend!" Gwayan antwortete nicht, sondern griff mit beiden Händen das Schwert des anderen Kriegers, zog ihn damit herum und rammte sie in den Kopf einer weiteren Spinne. Der Einherjar hatte einen Krieger getötet und war in den Zweikampf gegen den anderen gegangen, während der hintere Krieger immer noch wartete. Gwayans Ellbogen schlug dann rückwärts gegen den Krieger, dessen Schwert er nahm und es in die zweite Spinne warf, bevor sie ihn erreichte. Das Elementar hatte indes die erste Spinne abgeschüttelt und in die Schlucht geschleudert, aber die andere klammerte sich mit den Beinen am Rücken fest. Als der Einherjar sich auflöste rannte die Alte Krähe mit aller Kraft, die ihr noch geblieben war auf den Krieger zu, der nun seinen Anführer schützte. Gwayan zog das Schwert aus der Spinne heraus, hob seine Keule auf und rief zum Elementar: "Fang!" Dann warf er ihm die Klinge zu, aber hatte keine Gelegenheit, das Ergebnis abzuwarten, als der vordere Krieger einen Schwertstreich gegen die anstürmende Krähe ausführte. Der Nordmann stolperte, was sein Glück war, und sein Beutelchen, worin er Runen und Knochen aufbewahrte, wurde vom Gürtel abgeschnitten. Die Alte Krähe trug eine Schnittwunde am Bauch davon und fiel zu Boden. Gwayan traf den Kopf des Kriegers, der wie ein Zündholz nach hinten abbrach, so heftig waren Gwayans Anlauf und sein Zorn gewesen. Bevor er den Anführer erreichen konnte, hatte dieser die Namensrune der Krähe an sich genommen und ritt auf seiner Spinne davon. Gwayan fuhr herum. Das Elementar hatte die Spinne abgestochen und näherte sich dem Oger und dem Nordmann. Gwayan kniete nieder, um die Wunden der Krähe zu versorgen, bevor er sich um seine eigene kümmerte. Für einen Augenblick dachte er, man würde sie immer noch beobachten. Er hörte ein seltsames Flötenspiel im Wind. "Sieh nach, ob noch jemand hier ist", sprach er zum Elementar. Dann nahm er ein paar Bandagen und Kräuter und pflegte die Alte Krähe. "Wird es gehen, Krähe?" "Ja, es muss gehen."
"Hier ischt niemand schonscht", brummte das Elementar. "Gut. Wir müssen aber hier weg."
Die kleine Schar fand einen Pfad, der in die Schlucht führte. Im Tal zwischen den hohen Bergen liefen sie wachsam bis zum Abend. Es wurde kälter und dunkler. Bald war es immer Nacht. In einer Felswand entdeckte das Elementar eine kleine Höhle. Gwayan untersuchte die Spuren. "Hier hat mal eine Bärin gelagert, aber das ist lange her. Wir bleiben ein paar Stunden hier."
Die Alte Krähe war schnell eingeschlafen, und das Elementar war mit dem Eingang verschmolzen und hatte die Farbe des Gesteins angenommen, damit niemand sie finden würde. Gwayan nahm etwas Schnaps, reinigte die eigenen Wunden und holte Nadel und Faden hervor, um die tiefere Wunde zu nähen. Mutter Erde hatte ihn auf diesen Pfad geführt, und er würde ihn zu Ende gehen. Aber nicht mehr heute. Er warf einen letzten Blick auf das Elementar und schloss die Augen.
Wieviele Stunden waren vergangen? Hastig sah Gwayan sich um. Ein Geräusch hatte ihn geweckt. Sofort sah er zum Elementar. Der Eingang war verschlossen, aber die steinerne Haut war gefroren. Eine tödliche Kälte war zu spüren. Die Krähe war betäubt vom Schnaps und bemerkte nichts. Aber Gwayan sah etwas. Ein blauer Schlitz, der zu dem Visier eines Helmes gehörte, der keiner war. In der Dunkelheit der Höhle war nicht mehr zu sehen als das. Es war das Eis. Lange sah es ihn an, während Gwayans Hand schon längst die Keule gegriffen hatte. Dann sah er eisige Klauen, die sich ausstreckten. "Verschwinde, hier gibt es nichts für dich!", rief er. Die Krähe wachte auf und packte ihren Stab. "Oh nein!", rief sie.
Aber bevor das Eis sich nähern konnte, rührte sich das Elementar und gab den Eingang frei. Zwielicht schien hinein. Es waren Fackeln. Das Eis war verschwunden. Vorsichtig erhob sich Gwayan. "Bleib hier, Krähe."
Das Elementar trat hinaus, Gwayan folgte ihm. Eine Schar Krieger. Sie trugen die Fackeln, und ihre Gesichter waren unter Helmen aus Leder verborgen. Es waren keine Krieger des Winterkönigs. Als einer von ihnen den Helm abnahm, erkannte er einen Valkyn. "Gwayan Einohr. Wir haben dich gesucht."
"Wer bist du?"
"Mein Name ist Wyreg, Gylwars Sohn."
Esthelion
Er schob es auf seine Besessenheit, mehr über Jorgan, sein Puppenspiel und seine Geheimnisse zu erfahren. Die Schlaflosigkeit hatte ihn umfangen. Als Ledharthien benötigte er nur selten Schlaf, und eine Trance hatte immer ausgereicht, seinen Körper und Geist zu regenerieren. Aber in den letzten Wochen war das nie genug gewesen. Und seit er durch sein Studium erfahren hatte, dass Pytharas und Jorgan vermutlich derselbe waren - oder dass Jorgans Geist sich mit Pytharas vereint haben könnte - war es schlimmer geworden. Er hatte bereits Aenthalas um ein Mittelchen gebeten, aber der Rote Narr, Priester des Feuers, hatte keine wirksamen Dinge. Esthelion hätte auch die Turmherrin oder Davinicol gefragt, aber Mithraniel galt wie Aethel als vermisst, seit sie mit Taynos Hilfe in das Grabmal der Drachenritter aufgebrochen waren, um herauszufinden, wer die Nebelessenz manipuliert hatte. Es war von einer einigermaßen sicheren Gewissheit, dass die drei Nebelessenzen in der Lage wären, den Weißen Wolf zu rufen, ihn aus den Klauen des Winterkönigs zu befreien. Davinicol konnte er nicht fragen, da dieser vor kurzer Zeit nach Skjöldbur aufgebrochen war. Er war auf sich gestellt. Diskretion war schon immer seine Stärke gewesen, sodass er keinen anderen um Hilfe fragen würde. Wenn ihm überhaupt jemand helfen wollen würde.
Denn die Vergangenheit, das wusste Esthelion, hatte niemand vergessen. Wie er dem Eis gedient hatte und dem Hause Dryr, um letztlich ein zwar gutes Ziel zu erreichen - Theresia zur Königin zu machen, weil es der Wille vom Eis gewesen war - aber mit bedenklichen Mitteln. Esthelion hatte alle manipuliert. Begonnen bei Bathir und Elyarn von Dryr, ebenso bei Lucius von Trar, der sich nach dem Krieg in den Weißen Wolf verwandelt hatte und auch bei Glorianna, Hlifa und allen anderen. Er wusste, dass er immer auf der richtigen Seite gestanden hatte, aber den Grund kannte er nicht. Seit er als Ledharthien die Elaya der Glasinsel beriet, versuchte er, seine Missetaten zu korrigieren. Es war leicht, sein Handeln auf seine damaligen Meister zu schieben, dem Eis. Aber war es nicht die Wahrheit? Schon immer hatte Esthelion die Elemente erforscht, und als er auf Argans Orden von Eis und Feuer gestoßen war und weiter geforscht hatte, im Mathricodon und auch im Schelf, war er dem Eis eines Tages begegnet. Heute wusste er mit Sicherheit, dass er weder beherrscht noch bezaubert worden war. Aber es beunruhigte ihn. Warum war er so weit gegangen für eine Macht, die sich nicht erklärte und deren Motive so dunkel waren wie der Ort, woher sie vermutlich gekommen war? War es dasselbe unerklärliche Etwas, das ihn nun nicht mehr loslassen wollte? War es Pytharas selbst, der ihn nun zu sich rief, so wie das Eis ihn damals gerufen hatte und seinen Willen erklärte, ohne von sich etwas preiszugeben?
Das Geheimnis vermutete Esthelion in seiner eigenen Herkunft. Er war ein Ledharthien, aber über seine Vorväter wusste er nichts. Aus dem Nichts, wie die ersten Elaya Mellwen und Dholon, konnte er nicht erschaffen sein. Aber auch seine Eltern kannte er nicht. Wer waren sie, lebten sie vielleicht noch? Hier würde er nichts erfahren. Seine Suche nach Pytharas war erfolglos geblieben. Die Dokumente zur Berechnung der gleichzeitigen Aktivierung der Spiegel hatte er nach Brulund senden lassen. Taynos war dabei, Mithraniel und die anderen aufzuspüren. Hier gab es nichts mehr für Esthelion zu tun. Er schrieb einen Brief und gab ihn Elyrio zur Hand. "Für Mithraniel."
Auf der Glasinsel sah er ein letztes Mal in alle Stammbäume und Aufzeichnungen. Da sah er einen seltsamen Namen. "Ist das ein Ledharthien, ein Elaya?", fragte er und zeigte auf den Namen. "Es ist kein Name unserer Völker", erklärte Thulien, "soll ich mich umhören?" "Nein, schon gut. Ich denke, ich weiß, wen ich fragen muss", antwortete er und ging, wie er immer ging. Ohne einen großen Abschied. Mit dem Stab in der Hand wanderte er zur nördlichen Werft. Dort begegnete er Thoralf, dem Wirt aus Tilhold, der sich gerade nach einem Schiff erkundigte. Die 'Wallende Dirne'. Esthelion hatte den menschlichen Hang zu den blumigsten Namen nie verstanden. In Tilhold könnte man ihm auch antworten, aber er war sich sicher, dass sein Weg ein anderes Ziel hatte. Dieser Name hatte eine spezielle Bedeutung und er wollte sie wissen. Warum sollte eine Ledharthien einen nordischen Namen annehmen?
"Wohin geht deine Reise, Spitzohr?", fragte der Hafenmeister.
"Midgard. Ich benötige eine Mitfahrgelegenheit."
"Geht's auch genauer?"
"Skjöldbur."
Erec
Er hatte die Öllampe nach Brulund gebracht. Die Waffe gegen den Mann in Schwarz, mit dem Namen Ricardus Schwarzstern darauf und den Zahlen, die so viel Unheil auszulösen schienen und gleichfalls so viel Gutes meinten. Es war zumindest Erecs Gefühl, denn wenn er die Zahlen vor dem inneren Auge sah und danach den Drudenfuß, den sie in den Himmel malten, fühlte er die Nähe seiner Mutter, die sein Herz in den kalten Nächten Alt-Blyrtindurs wärmte. Die Zahlen meinten den Drudenfuß, aber ebenso ließen sie sich umschreiben in das Lied von der Raupe Nimmersatt; jenes Lied, das Zhaerius empfänglich für den Schwarzstern gemacht hatte.
Genau dies war schon einmal geschehen, als der Hexer Ricardus in Tectaria verbrannt worden war. Er hatte sich Ricardus Schwarzstern genannt. Erec ließ sich nieder, nahm einige Pergamente und malte den Drudenfuß mit den Sternbildern darin. Den Schwarzstern markierte er und schrieb die Zahl 11 daneben. Dann zeichnete er eine Krähe auf die andere Seite. Die Zahl und die Krähe waren die Zeichen des Schwarzsternes. Die 11 stand in vielen Kulturen für das Pech, das Unglück, das Böse. "Aber die Krähe", sagte er dann leise, "sie steht für so vieles." Der Luchs, der ihn Tag und Nacht nun begleitete, schaute ihn an, als würde er ihm zuhören. "Du kannst mir auch nicht helfen, nicht wahr?", seufzte Erec, streichelte das Fell des treuen Begleiters und widmete sich wieder den Pergamenten. "Also: Der Schwarzstern nährt die schwarze Quelle in Midgard. Sie ist das Gegenstück zur Quelle Blyrtindurs. Die 11 steht für den Schwarzstern, genau wie die Krähe. Aber die 11 und die Krähe stehen ebenfalls für die keltische Göttin Morrighan. Ihr gehört das elfte Lied. Elf Seelen. Die Malstromwesen wollen diese Seelen. Sie führen wahrscheinlich in das Mysterium oder sie sind dort", murmelte er und bemerkte, wie er wieder den Faden verlor. Er trank einen Schluck warme Grasermilch und begann von vorn: "Die Finsternis und Hrabanus gelangten an den Kreis der Zendavesta. Dort stahl Zhaerius die Macht der Erschaffung, bevor Hrabanus und die Finsternis auf die Insel des Himmelseisens gebannt wurden. Zhaerius ist unter der Kontrolle des Schwarzsterns. So wie es auch der Hexer Ricardus war. Er hat es vielleicht weitergegeben an Zhaerius. Der Schwarzstern ist dasselbe wie Khaliq, der Djinn der Plagen. Die 11 steht für ihn, genau wie die Krähe. Die 11 und die Krähe stehen auch für Morrighan. Mit den elf Liedern findet man einen Weg, die Malstromwesen zu vernichten. Und die Öllampe ist das Gefängnis für Khaliq. Aber wieso ist das nicht eindeutig?", fragte er und zeigte wieder auf die 11 und die Krähe. Der Luchs schaute auf das Pergament. "Was denkst du", fragte Erec, "gehe ich das falsch an?" Natürlich gab das Tier keine Antwort. "Alle Zahlen bedeuten so vieles. Gemeinsamkeiten sind natürlich zu erwarten. Und wenn sich alles auf Personen bezieht? Das Mysterium bestimmt uns, dies wissen wir. Aber was, wenn es direkte Verbindungen gibt?", fragte er aufgeregt, stand eilig auf und öffnete Granns Truhe, denn er hatte eine Flöte darin gesehen.
Erec nahm das Instrument und erinnerte sich an die Musikstunden in der Abtei. Er spielte ein paar Melodien, dann nahm er sich die Zahlenfolge erneut vor, veränderte sie, stellte sie um, aber stellte gleichsam sicher, dass er sich weiter innerhalb der Grenzen des Drudenfußes bewegte. Wenn es etwas gab, dann innerhalb dieses magischen Konstruktes. Plötzlich fand er es. Er spielte die Melodie, die er in seinen Träumen vom Mysterium gehört hatte! Erec schloss die Augen, und er fühlte, wie sein Geist sich entfernte. Er wanderte wie die Noten über das Blatt, getragen vom Klang der Flöte. Als er die Augen öffnete, sah er einen dichten Wald in Eis und Schnee. War es ein Ort auf Alt-Blyrtindur? Nein, das war nicht möglich. Denn er sah einen alten Nordmann, der am Boden lag. Ein Elementar kniete daneben. Gwayan, der Oger und Traumleser, war bei ihnen und versorgte die Wunden des alten Mannes. Bevor Erec etwas sagen konnte, trug das Lied ihn weiter, tief in den Norden, wo es dunkel war. Er sah einen Palast, aus Eis geformt, und darunter waren Ranken eingeschlossen. Dahinter war es schwarz. Er sah das Eis, jene Macht, die in den Thronfolgekriegen gekommen war, aber schon seit Anbeginn der Elemente existierte. Etwas stieß ihn an, und Erec hörte auf zu spielen. "Ich war so nah dran", sagte er bedauernd und sah zu dem Luchs, der ihn berührt hatte, um ihn zu wecken. "Hast du etwas gewittert?", fragte Erec. Aber das Tier schaute zum Pergament.
"Ja, ich weiß. Ich komme einfach nicht weiter", murmelte Erec, "ich finde keinen Anfang. Aber ich bin mir sicher, diese Melodie ist das, was die elf Lieder tun werden. Sie werden uns an Orte tragen, die uns helfen können." Der Luchs schien nicht zuzuhören und blickte weiter auf Erecs Zeichnungen, Zahlen, Noten und Linien. "Was ist denn?", fragte Erec und folgte dem Blick. "Ich soll es nochmal versuchen? Na gut: Die Zahlen umfassen uns alle, wie das Mysterium. Die Zahlenfolge umschreibt zwei Lieder. Das eine gehört dem Schwarzstern, das andere dem Mysterium. Aber wie gehören wir in das Ganze hinein?"
Mutlos und erschöpft fand er keine Antwort. Grann kam herein. "Willst du mir ein Ständchen bringen?", lachte der alte Kelte.
"Was, wieso? Ach so, nein, ich habe nur etwas versucht."
"Und ich wunderte mich schon. Ich dachte, du wüsstest meinen Geburtstag", antwortete Grann.
"Nein, den kenne ich nicht. Ich..."
Da hielt Erec inne. "Geburtstage! Geburtsjahre, Sternzeichen!"
"Hab ich was Falsches gesagt?"
"Nein, du bist ein Genius, Grann!"
Der Alchimist runzelte die Stirn, als Erec ihn aufgeregt betrachtete, sich ein Holzlineal und einen Kohlestift nahm und begann, zu rechnen und zu zeichnen. "Die Zahlenfolge ist anwendbar auf eine Sternenkarte. Der Drudenfuß umfasst bestimmte Sterngruppen und einzelne Sterne, nicht wahr?", fragte Erec.
"Ist anzunehmen. Die Sterne machen uns zu dem, was wir sind."
"Genau! Wann bist du geboren?"
Grann nannte ihm ein Datum. Erec rechnete. "Es passt! Wir haben dich gefunden als die Söldner Crenns den Weißen Wolf suchten. Du spielst also eine Rolle. Warte!"
Er berechnete Geburtstage oder wenigstens Geburtsjahre, die er in etwa kannte und ordnete sie zu. "Sie passen alle hinein. Manche sind nah am Schwarzstern, andere weit weg. Wenn ich diese Formel umkehre, dann kann ich Geburtstage, Geburtsjahre und mit einer passenden Karte sogar Orte bestimmen. Die Zahlenfolge ist nicht nur Träger der Lieder und der in Zahlen ausgedrückte Drudenfuß, er ist ebenso ein Kalender und eine Karte. Ich brauche alle Bücher, die Ofeigur nicht mitgenommen hat, vorzugsweise mit Ahnentafeln, Karten, Namen. Historisches!"
Grann gab ihm die Karten. Der Luchs verfolgte das Treiben aufgeregt. Erec nahm wieder den Stift zur Hand, rechnete. "Es gibt ein Muster. Man kann den Drudenfuß drehen und erhält Ergebnisse. Mal sehen, es gibt hier zwei Geburtstage, die mich interessieren. Der eine liegt genau neben Dakhil, der andere bei Zhaerius."
Bis zum nächsten Morgen wälzten Grann und Erec die Bücher. Sie befragten den Golem und verglichen alles miteinander. "Zada. Das hier ist Zada! Ich glaube, sie soll das nächste Opfer des Liedes von Ricardus Schwarzstern werden! Und diesen da, den kenne ich nicht. Wer ist das?", fragte er. Der Golem berichtete erneut, und Erec glaubte nicht, was er hörte. "Ich muss zu ihm sprechen, aber wie?"
Der Luchs sah zur Flöte. "Aber ja, genau!"
So versuchte Erec, sein Flötenspiel so zu lenken, dass er den Weg seiner Geistreise lenken konnte. Er war nun fähig, ohne Traumwasser und ohne einen Traum an andere Orte zu sehen. Und es trieb ihn nach Süden, bis er den Mann sah, entsetzlich gefoltert:
"Wer bist du?", fragte Erecs Geist. "Varcus." "Mein Name ist Erec, und ich erwarte dich."
Phaeron
Lord Dagharn erwartete also Nachricht von ihm. Dass Phaeron voll und ganz auf der Seite der Königin stand, schien Dagharn nicht aufzugehen. Nun, Phaeron war nicht besonders überrascht oder bestürzt deswegen. Wann immer düsteres Geschehen sich seinen Weg in das Reich bahnte, früher oder später würde man die Lebankirche als Beginn des Übels betrachten oder sie mindestens in den Kreis der Verdächtigen aufnehmen. Die Ironie dabei war, dass im Großen Krieg gegen die Dunklen Alten, die Ecaltanim und den Meshiha Deghala tatsächlich ein Lebaner der Grund allen Übels gewesen war: Janus Theren, der sich als einer von Dunkelwald in die Familie geschlichen hatte und als Reinkarnation des Meshiha die Invasoren angeführt hatte, welche das Land verheert hatten. Mit seinem Ende in Samariq war auch der Krieg gewonnen worden, aber zu einem hohen Preis. Phaeron hatte der Schlacht am Tempel Amurs als Lebanritter beigewohnt, in der vordersten Reihe. Für seine Tapferkeit und weil er schwer verwundet worden war, hatte man ihn zum Priester erhoben und einen Sitz im Wilderland zugesprochen. Einige Jahre darauf, nach der Rückkehr aus Blyrtindur, war er weiter in der Kirche aufgestiegen, und nun war er Hohepriester Lebans. Eine weitere Ironie: Zhaerius von Maegranth, ein Priester Lebans, war zum größten Teil der Grund für das gegenwärtige Übel. Abgesehen vom Winterkönig und den Intrigen Crenns, der selbst aus dem Fegefeuer heraus das Reich in Aufruhr gebracht hatte: durch Tysandra.
Und da Phaeron nicht die leiseste Ahnung hatte, wie man Zhaerius aufspüren und besiegen könnte, beschloss er, sich dem interessanteren Geheimnis zu widmen und Tysandra das Handwerk zu legen. Das Reich hatte in den vergangenen Jahren genug geblutet. Es brauchte keinen weiteren Usurpator wie sie, was immer sie auch wäre. Von Emes hatte Phaeron erfahren, was er sicher auch Brutus berichten würde: Die Dokumente waren mehr als einmal auf ihre Echtheit geprüft worden, und Emes hatte für Lord Baelon Nachforschungen angestellt, was die Blutlinie von Darius dem Ersten betraf und wie sie sich ihren Weg bis in die Gegenwart gebahnt hatte. Die Hinweise, dass Lerhon nur scheinbar als Darius Sohn aufgezogen worden war, hatten sich verdichtet. Phaeron ging in die Katakomben der Kirche und ließ sich die Gruft der Ritter aus der Zeit des ersten Bürgerkrieges zeigen. Sir Marken war nach dem Sieg gegen die Torbrins auf seinen Wunsch hin verbrannt worden. Phaeron dankte Leban dafür. Die Kirche hatte nach dem Erwachen der Malstromwesen alle Hände voll zu tun gehabt, die Katakomben vor den erwachten Eindringlingen zu schützen.
"Zeigt mir die Asche. Es war damals üblich, sie in magisch geschützten Urnen zu bewahren, sie müsste unversehrt sein", sagte Phaeron zum Totenwächter, der das Gefäß vorsichtig öffnete.
Die Asche war vollständig. Er berührte sie vorsichtig mit der Hand, roch daran, sprach ein Gebet und untersuchte die erhaltenen Spuren der Aura. "Ich muss sie an mich nehmen. Ebenso Lerhons Asche."
Dann verließ er die Stadt, ließ sich ein Pferd nehmen und von zwei Soldaten begleiten. "Wir müssen in den Norden. Sir Markens Sohn starb in einem Feldlager im heutigen Tilhold, meine Herren", sagte er zu seinen Begleitern. "Wie sollen wir jetzt noch Überreste finden?"
"Lasst dies meine Sorge sein."
In den Nordlanden befahl er den Soldaten, abseits des Friedhofes zu warten. Er nahm beide Urnen, rief die Aurenspuren herbei, um sie zu vergleichen und um die Überreste des Kindes zu suchen, das angeblich im Kindbett gestorben war, Sir Markens Sohn, der zur selben Zeit geboren worden war wie Lerhon. Selbst wenn das Kind nicht auf dem Friedhof beigesetzt worden wäre, war Lebans Macht auf seinen Ackern groß genug, die Sichtweite eines Lebaners, der durch das Land der Toten blickte, zu erhöhen. Aber da war kein totes Kind, das zu Markens Aurenspuren passte. Phaeron und die Soldaten hatten bis zum nächsten Morgen jeden Totenacker, jedes Schlachtfeld der Vergangenheit und ebenso die Wälder der Schwarzberge durchsucht - nichts. Und Lerhons Spuren ähnelten denen Markens: Lerhon war tatsächlich der Sohn des Ritters gewesen. Eine schlechte Nachricht, die er durch die Soldaten direkt an die Kanzlei und das Quartier der Bretonianer überbringen ließ. Phaeron stieg auf sein Pferd und machte sich auf den Weg in das Wilderland, um sich mit Lord Dagharn zu besprechen. Dagharn misstraute ihm zwar, aber er stand auf der richtigen Seite. Vor dem Tor Nordsteins aber durchfuhr Phaeron ein stechender Schmerz, und die Urnen glitten aus der Satteltasche, als er vom Pferd stürzte und mit den Füßen am Sattel hängengeblieben war. "Geht es Euch nicht gut, Mylord?", fragte eine Axt der Nordmark.
"Es... es geht. Ich muss sofort mit Thain Wilon sprechen. Er muss eine Botschaft entsenden, an Hohenfels, schnell!"
Gwendor
"Nein, Hauptmann Krindac, es wird ein Großteil der Truppen hier verweilen. Wir brauchen sie nicht", befahl Gwendor von Brylod.
"Es muss beschützt werden, Mylord. Das waren Eure Worte."
"Aber ja doch. Nur nicht von uns. Wir haben...Hilfe."
Der Hauptmann sah ihn verwundert an, erwiderte aber nichts mehr. Gwendor schätzte den Rat seiner Männer, denn auf dem Gebiet von Taktik und Strategie war er nie sehr bewandert gewesen. Es lag nicht daran, dass er kein Verständnis für Manöver oder bestimmte Winkelzüge auf dem Feld oder den größeren Gebieten hätte. Tatsächlich hatte er einfach wenig Interesse an Schlachten, Kämpfen und all dem militärischen Unsinn, mit dem sich ebenso gut seine Männer beschäftigen konnten.
Seinen Platz im Wilderland hatte er - genau wie den Titel - einer Anhäufung von Zufällen zu verdanken, dazu hier und da eine kleinere Bestechung, und alles hatte sich wundersam gefügt. Geboren wurde Gwendor als Sohn eines Baders, was wohl eine der geringsten Stufen in der bretonischen Gesellschaft war. Ein Bader wusste viel auf dem Gebiet der Heilkunst, der allgemeinen Hygiene, und vor allem war er dort nützlich, wo die Menschen sich keinen Medicus oder Zauberer leisten konnten, sich um ihre kleinen und großen Wehwehchen zu kümmern. Als sein Vater selbst erkrankte, hatte Gwendor die Stellung übernommen - mit wenig Ambitionen, aber es war besser als nichts gewesen. Ein Bader wurde mit Glück geduldet, gehörte er aus Sicht des Adels doch zu den unehrlichen Berufen und durfte sich keiner Zunft anschließen. Mit Emsigkeit und viel Geduld war es Gwendor gelungen, ein geringes Vermögen anzusparen, das nicht nur seine Ausgaben deckte, sondern ebenfalls den Weg freigemacht hatte, besseres Werkzeug zu erstehen, sowie eine gefälschte Urkunde, die ihn als Medicus auswies. Die Jahre darauf hatte er damit verbracht, auch dem niederen Adel beizustehen, bis er eines Tages Medicus am Hofe von Haus Caenor geworden war. Nachdem der alte Caenor verstorben war, hatte Gwendor in den Schlachtreihen Jargus gedient. Im Thronfolgekrieg hatte er sich abgesetzt, mitsamt seiner Werkzeuge und einem Batzen Gold aus Caenors Haus, als dieses am Ende von Sicarion Grauwind überrannt worden war. Caenor hatte ihn zuvor für seine Verdienste zum Junker erhoben, sodass er nun als freier Medicus mit einem kleinen Titel Zugang zum Hof bekommen hatte. Von dort war es ein weiter Weg gewesen, bis er das Vertrauen der Ritterschaft erlangt hatte.
Nach der Krönung Theresias waren viele freie Posten zu vergeben gewesen. Ein Ritter zu sein, dies war natürlich nicht gerade in Gwendors Interesse gewesen; vielmehr hatte ihn eine Aufgabe gereizt, bei der er mit möglichst wenig Aufwand viel erreichen würde. Sir Allyen hatte zu dieser Zeit keinen eigenen Sitz mehr und sollte vom Kanzler mit einer Festung belohnt werden. Und da Martus von Brioless allmählich zu alt geworden schien, hatte sich abgezeichnet, dass Festung Wilderberg bald einen neuen Herrn bekommen würde. Dezent hatte er es ab und an zur Sprache gebracht, dass Wilderberg sich bestens eignen würde für ein Hospiz und eine Bastion für verwundete Soldaten, aber Lord Baelon hatte wohl andere Pläne gehabt, und Brioless saß noch in Wilderberg bis die Malstromwesen gekommen waren. "Wenn Ihr dem Reich wirklich dienen wollt, Gwendor, es gibt einen Posten, der vakant ist. Allerdings befindet er sich fern der Stadt und auch fern der Kernlande", hatte Baelon gesagt. Gwendor hatte sofort an den Eisenwall gedacht. Immerhin war Lord Bathir von Dryr gefallen, und Elyarn war nicht unbedingt mit Stärke gesegnet gewesen. "Aber natürlich, Mylord. Für das Reich!" Diese Worte hatte Gwendor schon so oft gesprochen, dass sie in dem Augenblick wohl überzeugend gewirkt hatten. Dass es das Wilderland geworden war - und nicht der Eisenwall - war bedauerlich gewesen, doch eines Tages, daran hatte er immer geglaubt, wäre der Weg in die Kernlande frei. Er müsste nur abwarten. Mit Geduld.
Und jetzt war es fast geschehen. Seine neue Verbündete hatte ihm verschiedene Zusicherungen gemacht, und sie schien fähig und mächtig genug, ihre Ziele zu erreichen. Ob Tysandra tatsächlich einen berechtigten Anspruch auf den Thron hätte, scherte Gwendor sehr wenig. Solange das Unternehmen gelänge, wäre das vollkommen unwichtig. Auf dem Thron saß immer nur der, der die meisten und mächtigsten Verbündeten hatte. Nach allem, was Tysandra ihm gezeigt hatte, stand er auf der richtigen Seite. Dass Garrilton der Angelegenheit zugestimmt hatte, machte es noch besser. Sollte etwas schiefgehen, es wäre der geeignete Sündenbock gefunden. Man musste die Hinweise nur richtig platzieren. Nachdem Garrilton die Kraft der Krähe gesehen hatte, war er Feuer und Flamme geworden. "Verhaltet Euch ruhig. Gebt mir ein paar Euer Leute mit, und wir beginnen mit dem ersten Schritt", hatte Gwendor erklärt. "Der da wäre?" "Sorgt Euch nicht." "Nein, ich will alles wissen."
"Dann solltet Ihr mich begleiten", hatte Gwendor dann entschieden.
Das Gewölbe war früher einer der Fluchttunnel von Hohenfels in die Ebene gewesen, wurde aber durch Sicarions Truppen nahezu vollständig zerstört. Es war aber groß genug, die Energie aufzubringen, die Waffe zu aktivieren - wo auch immer sie war. Gwendors und Garriltons Männer hatten das Gestein in den Wänden verarbeitet. Dies war erledigt. Etwas anderes aber sorgte Gwendor. Der verfluchte Riese hatte bisher jeden Versuch abgewehrt, in das Lager der Winterkrieger einzudringen. Auch Gwendors Versuche, ihm zu beweisen, dass er es ehrlich meinte, waren wenig fruchtbar gewesen. Tysandras Ärger darüber war kaum zu übersehen. "Die Gefangenen kennen seinen Namen nicht. Zumindest sagen sie, dass sie es nicht wissen", sagte die Herrin der Krähen durch das Ecaloscop.
"Es tut mir leid, meine Königin, ich habe all meine Informanten befragt. Und Mutter Kelar ist unauffindbar. Sie müsste seinen Namen kennen."
Jetzt verfluchte Gwendor sein Desinteresse, was Strategien betraf. War diesem Riesen damals nicht eine Schlüsselrolle im Thronfolgekrieg zugefallen?
Caldorvan
Der untote Lord begab sich auf den Friedhof, als es zur Nacht dämmerte. Seine Beobachter aus Hohenfels, die er Hlifa zu verdanken hatte, schienen wirklich jeden seiner Schritte zu bewachen. Caldorvans Hand ruhte auf einem der alten Grabsteine, bis die Erde sich regte und von einer knochigen Hand aufgewühlt wurde. Dann half er dem Skelett auf die Beine. Ein paar Fetzen Stoff trug es, und im Grab lag ein Stab. Die Wachen der Festung wussten, dass er sich einen Trupp zusammenstellte, und dies hatte er auch Hlifa gesagt. Es war eine seiner Bedingungen gewesen. Welcher Art die Untoten wären, die sich ihm anschlossen, war nicht Teil der Abmachung gewesen. Er gab dem alten Hofmagus der Therens den Stab in die Hand und sprach seine Befehle. Caldorvan beobachtete die stummen Gesten des Skeletts, das sich hinter der Mauer versteckte, außerhalb der Sichtlinie der Wachen, die kurz darauf sahen, wie Caldorvan zurück an seinen Platz schritt. "Gute Arbeit", brummte er leise und legte den Magier wieder in die ewige Ruhe zwischen den Welten. Dann verwandelte er sich in den Nebel, während die Illusion seines Körpers Wache hielt.
Zuerst wanderte der Nebel auf das Meer hinaus, dann in den Eisenwall, kletterte durch ein Fenster und erschien Elyarn, dem Statthalter der Malstromwesen in den südlichen Schwarzbergen.
"Lord Caldorvan, Ihr seht mich überrascht. Ich dachte, man bewacht Euch?"
"Ja, das tut man auch. Aber ich bin kein Schoßhündchen, das Tag und Nacht einen Aufpasser benötigt. Wir müssen etwas besprechen, Elyarn."
"In der Tat. Jedoch habe ich Zweifel an Eurer Loyalität, denn es hat Entwicklungen gegeben. Ihr seid nicht informiert, nicht wahr?"
Caldorvan knurrte. "Darum bin ich hier. Was gibt es?"
"Es gibt Grund zu der Annahme, dass der Mann in Schwarz, Ihr kennt ihn als Zhaerius von Maegranth, Euch beherrscht."
Jetzt war Caldorvan tatsächlich irritiert. Führte Zhaerius sie nicht an, hatte er sie nicht erschaffen? Wieso wäre das also ein Problem? Caldorvans Plan beruhte darauf, zum Heermeister und Führer der Malstromwesen aufzusteigen und sie zu benutzen - so wie er benutzt worden war, von so vielen. Gab es einen Aufstand gegen Zhaerius? Wenn ja, dann war Caldorvan nun in beträchtlicher Gefahr. Die einzige Chance, die er nun hatte, war die Wahrheit. "Er beherrscht mich nicht."
Elyarns leere Augen strahlten dennoch Verwunderung aus. "Nicht? Erklärt das."
"Ich bin bereits mehr als einmal benutzt und beherrscht worden. Zu meinen Lebzeiten vom eigenen Ehrgeiz, dann von Lerhons Arroganz und in meinem neuen Leben von so vielen Scharlatanen, dass ich Sicherheitsmaßnahmen getroffen habe. Es kann nicht mehr geschehen."
Ein weiteres Wesen betrat den Saal. Es war Aran, sein Sohn. "Ich glaube nicht, dass dies ausreicht, Vater."
"Aran, wie erfreut ich bin, dich zu sehen", brummte Caldorvan.
"Zhaerius hat sich als großer Lügner erwiesen. Ich habe Liranus davon abgeraten, ihm weiter zu folgen, denn er war niemals der Prophet des Weinenden Gottes. Wenn du also ein Spion von Zhaerius bist, dann bist du hier unwillkommen. Wir gehen nun unseren eigenen Weg. Und wenn ich mir eine persönliche Bemerkung erlauben darf: Dir folge ich mit Sicherheit niemals wieder. Für dein Haus wolltest du immer das Beste, dies ist nicht zu leugnen, Vater. Außerdem trägst du den Nebel in dir. Du kannst uns schaden. Wie sollten wir dir glauben oder dir folgen? Nein, Vater, deine Herrschaft über mich ist vorüber. Schau, wohin es mich geführt hat. Ich war weitgehend zufrieden als Kommandant von Terra Brumalis. Nun treibt mich die Suche an. Die Suche nach dem Mysterium."
Caldorvan lachte. "Mein Sohn, davon kann ich dich erlösen."
"Was meint er damit?", fragte Elyarn und sah zu Aran.
"Erkläre dich!", befahl dieser.
Caldorvan verwandelte sich in den Nebel. Im Kern des Nebels war ein Licht, das Caldorvan in den leeren Augen Arans und Elyarns sah, als es reflektiert wurde. Der Plan war aufgegangen. Zhaerius glaubte, ihn zu beherrschen. Aran glaubte, frei zu sein - und wie sie irrten. Mit seinen Gedanken formte Caldorvan Ranken, die beide Wesen packten und hielten. Dann sprach er das Gebet des Weinenden Gottes an die Sterne und verwandelte sich wieder in seine untote Gestalt. "Ruft die anderen. Es gibt viel zu tun!"
Aran und Elyarn verneigten sich, als die Ranken sie freiließen. Und Caldorvan spürte, wie die Malstromwesen auf dem Land und im Meer, sogar jenseits des Ozeans, seinen Befehlen lauschten. Auf seinem Weg von der Küste in das Inland hatte Caldorvan den Menschen gelauscht und von Tysandra erfahren. Nun, diese Schurkin, wer immer sie war, würde vor seiner neuen Kraft erzittern. Im Morgengrauen wäre die Illusion am Friedhof verschwunden und die Untoten zu Staub zerfallen. Eine Botschaft an Hlifa läge dann auf dem Grabstein des Magiers. Es war ein neuer Anfang.
Alea iacta est.
Die Würfel sind gefallen!
Die Würfel sind gefallen!
Re: Ein scharlachroter Tod
ZWISCHENSPIEL X
- An anderen Orten -
Uruku-Xtlan
Der stolzeste Krieger der Uruku schritt durch den dichten Dschungel. Die Bäume warfen tiefe Schatten, und Uruku-Xtlan beschloss, einen Baum zu erklettern, um sich zu orientieren. Er war weit weg von daheim, und die Große Mutter konnte die geistige Verbindung nicht mehr halten. Sie würde nun nicht mehr sehen, was ihr Sohn sah. Er nahm den Speer zwischen die Zähne, griff eine zum Boden schauende Liane und schlang sich auf die halbe Höhe des Baumes. In einem Astloch entdeckte er einen fetten Regenwurm, den er packte und in den kleinen Beutel steckte, der an seinem Lendenschurz befestigt war. Dann griff er mit beiden Händen die dicke Baumrinde, stellte die Füße quer und kletterte geschwind weiter nach oben. Dort angekommen, legte er den Speer schräg an einen Ast und beschaute seine Körperzeichnung. Als die warme Sonne die Symbole der Großen Mutter berührte, bildeten sich aus Linien Kreise und aus Kreisen wurden Flecken oder Spiralen. Er las die Befehle der Sonne und nickte. "Uruku-Xtlan wird dich nicht enttäuschen. Niemals", sagte er und trommelte auf seine Brust, nachdem er die Zeichen verstanden hatte. Dann wartete Uruku-Xtlan auf eine Antwort der Sonne. Die Kreise wurden etwas weiter, öffneten sich und ein paar Linien traten hervor. Er wartete, bis die Veränderung vollständig geworden war. "Uruku-Xtlan versteht deine Worte. Er wird zum Berg deines Namens gehen."
Er riss eine Liane vom Stamm und ließ sich nach unten gleiten. Dort nahm er wieder den Speer zu Hand und setzte seinen Weg fort. Als der Wald lichter wurde, griff er den Speer ganz fest. Hier wohnten die Dämonen, die Diener der Nacht, die aus dem Wasser gekommen waren, das vom schwarzen Himmelsauge verdorben worden war. Eine Weile spähte er aus dem Dickicht auf das Dorf. Vor drei Sonnenschritten, als die Echsen sich in den Sand gruben, um den gelben Uxtoctilan zu jagen, waren die fahlen Dämonen gekommen. Die Große Mutter hatte gesagt, die Sonne würde eine Waffe gegen sie haben. Darum hat sie Uruku-Xtlan, ihren stärksten Krieger, auf die Suche nach weiteren Antworten geschickt. Er wartete bis es dämmerte, denn seine Augen sahen sehr gut in der Nacht. Dann rief er einen Jaguar und flüsterte ihm etwas zu. Kurz darauf kniete der Jaguar sich hin und ließ ihn aufsteigen. Blitzschnell überquerten sie die Lichtung und blickten nicht zurück. Die Dämonen hatten sie nicht bemerkt. Uruku-Xtlan verabschiedete sich am Fuß des Berges von seinem Gefährten und benutzte seinen Speer als Wanderstab, mit dem er von Fels zu Fels sprang, bis er den Lichtpfad gefunden hatte. Die Große Mutter hatte gesagt, dass die Schwester der Sonne ein besonderes Geschenk für den Stamm der Uruku hätte. Er würde die Große Mutter nicht enttäuschen.
Oben angekommen legte er den Speer nieder und brachte einige Opfer dar. Ein paar Früchte, ein toter Dachs und eine Mantis, die er auf dem Weg in den Dschungel gefangen hatte. Dann legte er sich auf den Rücken und schloss die Augen. Die Schwester der Sonne schien auf seinen Leib, er spürte die Kühle, die ihm behagte. Dann öffnete er die Augen und sah auf die Veränderung seiner Zeichnung. Es begann zu regnen. Aber die Tropfen waren nicht durchsichtig, sondern blau. Das seltsame Wasser konnte ihm nichts anhaben. Wenn es auf den Stein tropfte, dann wurde es hart. Wie das getrocknete Blut der Bäume. Aber dieses Harz war kalt wie das Kleid der hohen Berge. Er nahm das blaue Harz und betrachtete es. Schließlich öffnete er seinen Beutel. Der Regenwurm, an den er gar nicht mehr gedacht hatte, kletterte hinaus. Aber Uruku-Xtlan hatte gar keinen Hunger mehr und ließ ihn ziehen. Er sammelte so viel Harz wie er konnte, dann sah er wieder auf seine Zeichnung. "Uruku-Xtlan wird dich nicht enttäuschen. Niemals", sagte er und machte sich auf den Rückweg. Als er das Dorf der Dämonen erreichte, sah er, wie sie alle durch den blauen Regen erstarrt waren. Uruku-Xtlan war stolz, und er spürte, dass Sonne und Mond auf seiner Seite waren.
Hamdir
"Wenn er eintrifft, muss alles bereit sein. Ist der Met angekommen, hat Arn bis zum Abend den Stör fertig?"
Gaeska lachte. "Immer wenn dein Bruder uns besucht, sprichst du wie eine alte gehetzte Henne, weißt du das?"
"Du kennst seine hohen Ansprüche. Er ist Händler im Bretonenland. Da essen sie jeden Tag Fasan und waschen sich nach dem Pissen die Hände. Außerdem bringt er sein Weib mit. Niemand soll denken, wir hätten nichts zu bieten", sagte Hamdir.
"Sorge dich nicht, Majestät wird zufrieden sein und sein bretonisches Küken auch. Wie hat er sie eigentlich getroffen? Sieht ihm wirklich nicht ähnlich, sich so ein Püppchen zu angeln."
"Wie ich gehört habe, war da ein Gelage in einer Taverne in der großen Stadt. Irgendein Idiot hat das Mädchen dumm angesprochen und wollte es anfassen. Na ja, du kennst ja Laukur. Er hat es sich nicht nehmen lassen, dem Kerl eine zu verpassen. Und wir haben ja gehört, wie die Bretonenmädchen so sind. Kaum dass sie einen echten Mann sehen, vergessen sie Mutters Rat. So kam eines zum anderen."
"Fast wie bei uns", lachte Gaeska, "ich erinnere mich gut daran, wie du Smorren und Herger verprügelt hast, als sie mich und meine Schwester beleidigt haben. Obwohl es deine Freunde waren. Denen hast du es gezeigt, mein großer Bär."
Hamdir nickte. Jetzt waren sie schon so lang verheiratet, da war es vielleicht an der Zeit, ihr die Wahrheit zu sagen. "Weißt du, Gaeska, ich müsste dir da was erzählen."
"Was hast du angestellt? Ich habe dir gesagt, dass wir noch Milch brauchen. Hast du es vergessen, bei all der Aufregung, oder willst du deine Tochter raus in die Kälte befehlen, die Graser zu melken?", fragte sie schmunzelnd.
"Tja, ich hab die Milch wirklich vergessen. Aber es geht um etwas anderes. Damals, na ja, du weißt schon, nach dem Thing, als ich die beiden verprügelt habe und dich dann zum Tanzen aufforderte... das ist etwas anders abgelaufen. Versprichst du mir, nicht böse zu sein?"
"Schau an, Hamdir, mein großer Bär. Auf dem Feld und in der Taverne bist du der starke Krieger, und jetzt siehst du mich an wie ein kleiner Junge. Ich könnte dir niemals bös sein. Was sollte ich denn ohne dich machen, hm?"
"Ach, Gaeska, so geht es mir auch. Darum habe ich den beiden ein Fass Met spendiert, damit sie mir die Gelegenheit geben, dich zu retten", sagte er und wartete auf ein kleines Donnerwetter.
Aber sie lachte nur. "Und meinst du, ich habe das nicht schon damals gemerkt?"
"Hast du?", fragte er nicht ohne Überraschung.
"Aber ja. Ich fand es erst etwas albern. Aber dann schien es mir ein kluger Weg zu sein. Den Umweg über die Prügelei hättest du dir zwar sparen können, aber ich wollte deine Pläne nicht zerstören. Und immerhin hat es meine Schwester in Hergers Arme geführt. Es hatte alles sein Gutes", sagte sie und küsste seine Stirn.
"Meine Gaeska. Deshalb habe ich dich geheiratet. Ach, ich wusste von Anfang an, du bist die richtige Frau für mich."
"Dasselbe sagt Herger über meine Schwester. Es liegt uns eben im Blut. Aber, sag mal, hast du etwas von Smorren gehört? Er ist doch auch nach Bretonia gegangen."
Hamdir überlegte einen Moment, wann er das letzte Mal etwas von ihm gehört hatte. "Laukur hat gesagt, Smorren hat ein Schiff bei einem Würfelspiel gewonnen. Das muss aber schon einige Jahre her sein. Er handelt nun mit Salz, glaube ich."
"Und da hat er uns bisher noch nicht besucht? Wie geht es ihm denn in Bretonia?", fragte sie.
"Er hat wohl viel Arbeit. Ob er ein Weib hat, weiß ich nicht. Und unser Hof ist sehr abgelegen. Vielleicht sollte ich ihm bei meinem nächsten Besuch in der Ostfold eine Nachricht hinterlassen, wo er uns findet. Was meinst du?"
"Das wäre schön. Und jetzt geh' die Graser melken, mein großer Bär", sagte Gaeska und gab ihm noch einen Kuss.
Hamdir gab ihr einen Klaps auf den Hintern, dann nahm er seinen Umhang und setzte die Fellmütze auf. Die Abende waren schon sehr kalt, und der Winter stand vor der Tür. Er verließ das Haus und ging zur Weide. Die meisten Viecher hatten sich schon in den Stall verzogen. "So, ihr Faulpelze, her mit euch."
Er nahm den Schemel, stellte den Eimer ab und wollte gerade anfangen, als die Tiere plötzlich unruhig wurden. "Na, was wird das denn? Ziert euch nicht", murrte Hamdir. Dann hörte er ein lautes Grollen, das die Holzwände erzittern ließ. Panisch rannten die Tiere umher. Hamdir lief hinaus. Das Grollen wurde zu einem beinahe ohrenbetäubenden Donnern im Himmel, aber es war kein Unwetter. Gaeska lief hinaus. "Hamdir, ist alles in Ordnung? Was ist das?" "Geh' ins Haus. Beruhige die Kinder!", rief er.
"Hamdir, Hamdir!", schrie sie plötzlich und zeigte auf den Weiher neben dem Hühnerstall. "Vorsicht!"
Er fuhr schnell herum. Eine Gestalt trat aus dem Wasser. Es stank schrecklich nach Fäulnis. "Ins Haus, schnell!", rief Hamdir. Ob Gaeska auf ihn gehört hatte, wusste er nicht. Die Gestalt trat ins Licht. Die Haut war ganz fahl, die Augen leer und weiß wie der Mond. Sie streckte eine Hand aus. "Verschwinde, was auch immer du bist", sagte Hamdir und nahm einen Knüppel. "Hamdir, nicht, komm ins Haus", rief Gaeska. Er drehte sich um. Sie stand immer noch in der Tür. "Rein mit dir!", schrie er. Er ließ den Knüppel fallen, nachdem der Fremde ihn berührt hatte. "Hamdir, Hamdir!", hörte er Gaeska rufen.
Hamdir aber nickte seinem Kameraden zu, ging auf das Haus zu und schlug mit der Faust die Tür entzwei, die Gaeska hinter sich geschlossen hatte. Mit den Kindern im Arm war sie nach hinten zum Herd gelaufen und hatte ein Schwert von der Wand genommen. "Hamdir, was ist mit dir? Komm nicht näher", sagte sie und weinte.
Warum die Frau weinte, wusste er nicht. Aber sie und die Kinder mussten werden wie er.
Belfos
"Eine sehr gute Arbeit", sagte der Meister und betrachtete das kleine Pferdchen von beiden Seiten. "Der Kunde wird sehr zufrieden sein."
"Danke, Meister", sagte der junge Belfos. Er hatte mehrere Tage daran gearbeitet und nur das beste Holz benutzt. Immerhin war es sein erster eigener Auftrag gewesen.
"Möchtest du es selbst abliefern, Belfos? Du hast es dir verdient."
"Meister, das wäre eine große Ehre. Ich darf wirklich?"
Der Meister nickte und lächelte wieder, als wäre er sein Großvater. "Natürlich. Ich habe den Auftrag angenommen und mit Lord Glan alles ausgehandelt. Du gibst das Pferdchen ab und wartest, bis seine Nichte es sich angesehen hat. Dann lässt du dich bezahlen und kommst zurück. Verstanden?"
"Ja, Meister. Verstanden", sagte Belfos, nahm etwas Papier und wickelte es vorsichtig um das kleine Kunstwerk. "Es wird ihr bestimmt gefallen, Meister."
"Dein nächster eigener Auftrag wird etwas sehr Wichtiges sein, mein Junge. Fühlst du dich bereit?"
Belfos sah ihn mit großen Augen an. "Ich werde Euch nicht enttäuschen. Niemals."
"Ich weiß", sagte der Meister mit nachdenklichem Blick.
"Seid Ihr in Sorge, Meister?"
"Habe ich dir jemals von meiner Tochter erzählt, Belfos?", fragte der Meister. Seine Stimme zitterte einen Moment.
"Nein, das habt Ihr nicht. Ich weiß, dass Ihr eine Tochter habt, aber sie war noch nie hier, oder?"
"Früher war sie oft hier. Sie hatte ein Versteck, im Garten. Sie dachte, ich wüsste es nicht, aber ich habe sie gewähren lassen. Sie war sehr verliebt, in einen jungen Burschen."
Belfos nickte langsam. "Dann hat sie ihn sicher geheiratet, und sie sehen sich nun die Welt an. Midgard, wo die Berge bis an den Himmel reichen. Oder Samariq, wo die Pferde sprechen können. Oder sind sie auf der Insel der Abenteuer, auf Blyrtindur?", fragte Belfos neugierig. Er hatte noch nie die Welt gesehen. Aber eines Tages, wenn er selbst ein Meister wäre, würde er all die Orte sehen, von denen er nur gehört und gelesen hatte. Das Lesen hatte ihm der Meister beigebracht, genau wie das Schreiben. Belfos war im letzten Krieg zum Waisen geworden, aber in der Abtei war er nicht glücklich gewesen, also hat der Meister ihn aufgenommen und erzogen.
"Nein", lächelte der Meister, "sie hat einen anderen geheiratet. Und... ich bin nicht ihr Vater. Ich bin ihr Ziehvater. Ich nahm sie auf, wie ich dich aufgenommen habe, mein Junge. Manchmal denke ich, dass ich damit einen alten Fehler wieder gutmachen wollte. Auch wenn neue hinzugekommen sind..."
"Was meint Ihr damit, Meister?", fragte Belfos.
"Ich berichte es dir später, mein Junge. Jetzt bring die Arbeit in die Kanzlei. Lord Glan und seine Nichte sind sicher schon gespannt", sagte der Meister und sah ihn einen Moment an. "Du bist ein guter Junge. Ich bin stolz auf dich. Vergiss nie, was du gelernt hast."
"Ich enttäusche Euch nicht, Meister. Niemals", sagte Belfos. Er dachte nicht weiter nach über das Gespräch. Wenn der Meister es für richtig befände, würde er ihm erzählen, was ihn so traurig machte. Belfos nahm das Bündel, packte es in einen Beutel und verließ die Werkstatt. Den Wachen zeigte er den abgeschlossenen Vertrag, und man ließ ihn ein in die Kanzlei.
Lord Glan trug einen Dolch an der Seite und ein einfaches Wams. Irgendwie hatte sich Belfos den Kanzler anders vorgestellt. Viel größer, und in einer goldenen Rüstung, mit einem großen Schwert. Aber er bemühte sich, nicht zu überrascht zu wirken. "Guten Abend, Kanzler. Ich meine, Lord Glan. Lord Kanzler, das meine ich."
"Schon gut, Junge. Wie ist dein Name?", fragte Lord Glan.
"Ich bin Belfos. Mein Meister schickt mich. Ich habe das Geschenk für Eure Nichte bei mir. Es ist meine erste eigene Arbeit."
"Ruft meine Nichte", befahl Lord Glan einer Wache.
Belfos sah sich um. "Soll ich es hier auf den Tisch stellen, Lord Kanzler Glan?"
"Behalte es in der Hand. Du darfst es ihr selbst geben. Und: Lord oder Kanzler reicht vollkommen aus."
Die Tür öffnete sich, und ein Diener führte ein Mädchen hinein. Belfos spürte, wie sein Herz klopfte. Wahrscheinlich wurde er jetzt ganz rot.
"Alysare. Das ist Belfos. Er hat etwas für dich. Er hat es selbst angefertigt. Möchtest du die Arbeit des jungen Mannes begutachten?"
Das Mädchen musterte Belfos. "Für mich?", fragte sie und lächelte.
"J-Ja, Mylady... ich hoffe, es gefällt Euch", stotterte Belfos. Sie war sehr schön.
Alysare ließ sich das Bündel reichen und öffnete es vorsichtig. "Oh, wie hübsch! Danke, vielen Dank. Es gehört in meine Sammlung", sagte sie und fiel Belfos plötzlich um den Hals, dass er gar nicht wusste, wie ihm geschah. "B-Bitte."
Lord Glan musste schmunzeln. "Was schulde ich dir?", fragte er.
Schnell ließ Alysare ihn los. Belfos schluckte leicht und spürte wie die Röte ihn wahrscheinlich lilafarben gemacht hatte. "Es steht alles hier drauf", sagte er und gab Lord Glan das Dokument. Kurz darauf gab der Kanzler ihm einen Beutel. "Es ist eine sehr gute Arbeit. Meinen besten Dank und Gruß an deinen Meister."
"Ich werde es ausrichten. Vielen Dank, Lord Glan."
Bevor Belfos die Kanzlei verließ, warf er noch einen Blick auf Alysare, die ihm zuwinkte und sich dann bei ihrem Onkel für das Geschenk bedankte. Stolz, aber auch etwas erleichtert, dass das Herzklopfen allmählich verschwand, stopfte er den Beutel unter das Hemd und lief frohen Mutes zurück zur Werkstatt. Die Tür war verschlossen. Erst klopfte Belfos. Dann nahm er seinen Schlüssel und öffnete die Tür. Er trat ein. Die Werkstatt war verlassen und aufgeräumt. Nur ein paar Werkzeuge fehlten. Auf einem Tisch fand Belfos zwei Blatt Pergament. Das erste war ein Gesellenbrief und ein Empfehlungsschreiben. Daneben lag ein Beutel. Er fand darin Gold und einen kleinen Dolch. Das zweite Pergament war ein Brief seines Meisters. "Ich enttäusche Euch nicht, Meister. Niemals", sprach er ganz leis.
Daisuke
Daisuke war der kohai seines Meisters. Sein Meister war ein großer Samurai aus dem Clan der Grünen Drachen, deren Atem die Felder fruchtbar macht. Im Krieg gegen den Clan des Schwarzen Skorpions waren viele Soldaten gefallen, doch waren sie siegreich gewesen, weil sie ehrenvoll gekämpft hatten. Shogun Kenzo Kiyoshi, Sohn des großen Ryo Tadashi, hatte Daisukes Meister mit großen Ländereien belohnt und ihm vierzig Diener und drei Geishas aus dem Shogunat geschenkt. Und weil sein Meister auf eine weite Reise zur Insel des Rosentempels gerufen worden war, so wie Meister Yishan vor ihm, war es nun Daisukes Aufgabe, auf den Haushalt zu achten, die Diener einzuweisen und für die Sicherheit, Zufriedenheit und das Wohlergehen der Geishas zu sorgen. Daisuke hatte die Diener in den großen Saal befohlen und sie nach ihren Berufen den einzelnen Bereichen des hohen Hauses zugeteilt. Sieben Wachen hatte er abstellen lassen, die Gemächer der Geishas zu bewachen. Sobald es den Frauen an etwas mangelte, musste dem Bedürfnis nachgegangen werden. Der Meister würde sie ihre Dienste erst nach seiner Rückkehr tun lassen. Bis dahin badeten sie in Milch, lauschten der Musik des Kapellmeisters und tranken Tee. Daisuke fragte sich manchmal, ob das Leben einer Geisha nicht langweilig wäre. Aber die Frauen waren wohl zufrieden, wenn ihre Herren es waren.
Die Sonne war untergegangen, als Daisuke alle Hausangelegenheiten erledigt hatte. Er beschloss, einen letzten Rundgang zu machen. Die Wachen salutierten, und die Diener hatten ihre Schlafstätten vorbereitet. In den Gärten war es ganz still geworden. Die Grillen zirpten, und es war wohl ihr letzter Gesang, denn der Winter kam über das Land. In den Südlanden kannte man keinen Schnee, aber hier auf der großen Nordinsel konnte es im Winter sehr kalt werden, und schon im Herbst lag auf manchen Hügeln bereits der erste Schnee. Daisuke schlenderte über den Außenhof, als er ein Geräusch hörte. Eine der Wachen hatte es auch vernommen und öffnete vorsichtig das Tor. Beide spähten hinaus. Es hatte sich angehört, als würde Glas zu Boden fallen. Aber die Ländereien des Meisters hatten sich schon zur Ruhe gelegt. Im Haus der Botenreiter brannte kein Licht, und auch im Dorf unten im Tal war es dunkel. "Es kam vom Wasserfall", sprach die Wache leise. "Wir sehen nach", befahl Daisuke.
Die Bewohner des Dorfes behaupteten in ihren Geschichten, der Weiher und sein Wasserfall wären ein Tor in die Welt der Ahnen. Daisuke glaubte natürlich an die Ahnengeister und verehrte sie, aber viele Geschichten waren eben nur Aberglaube. Erneut hörten sie das klirrende Geräusch. Vorsichtig liefen sie näher zum Weiher. Dann sahen sie, wie das Wasser langsam gefror. "Schon im Herbst?", fragte die Wache leise. "Ja, das ist seltsam..."
Daisuke stieg in das kühle Wasser und brach einen der Eiszapfen ab. "Wie eigenartig, schau nur", flüsterte er, schüttelte das Eis und die Wache staunte, als sie darin Schneeflocken erkannten. "Ich sehe noch mehr. Dort ist ein Wolf. Und das ist kein Eis, das sind Kristalle."
Als viele Monate darauf das Haus seines Meisters von den Fahlen Geistern überrannt worden war und Daisuke seinen Herrn nicht mehr finden konnte, als das Dorf nur noch aus den Geistern bestand und das Land sich im Krieg gegen die Fremden befand, erinnerte sich Daisuke, wie er die Kristalle gesammelt und im nahen Wald verborgen hatte. "Wir müssen in den Wald. Wirst du es schaffen?", fragte er die einzig Überlebende. Die Geisha nickte und folgte ihm.
Alim
Hamit und Iskandar hatten die Amuri gefüttert und die Wasservorräte für die Weiterreise aufgefüllt. Es dämmerte schon zur Nacht. Die anderen Wachen hatten rund um die Oase Posten bezogen. Sie waren weit weg von Amurs Tempel, mitten in der Wüste. In drei oder vier Tagen würden sie die Küste erreichen. Und die magische Kuppel. Alim hatte bisher nur von ihr gehört. Die Horde von Khagan Nabil Al Rasin hatte dort Stellung bezogen, wie die Korsaren berichtet hatten. Früher war nicht daran zu denken gewesen, jemals an einem Feuer mit den Räubern der Meere zu sitzen. Aber jetzt, da der Handel mit den Nordmenschen aus dem Bretonenland schlagartig zum Erliegen gekommen war und das stolze Volk der Hun eingeschlossen war mit den weißhäutigen Konquistadoren aus Tectaria, gab es plötzlich Einigkeit. Zwar kämpften einige Horden wie die von Khagan Qabel und Nabil noch Fehden gegeneinander aus, aber die meisten hatten ihre Kriege beigelegt und wollten sich an der Nordküste bei Wahdet'Ma'ath mit Khagan Nabil treffen, zur großen Versammlung. Qabel würde es sich zweimal überlegen, eine Versammlung anzugreifen, bei der Tausende Krieger anwesend wären.
Und sie alle warteten auf Nachricht von Khagan Dakhil Al Khan. Niemand wusste, ob es ihm gelungen war, den Stab der Erschaffung zu retten und die Finsternis zu vernichten, wie es Amur verheißen hatte. Qabel hatte offen Zweifel angemeldet und so Nabils Zorn auf sich gezogen. Die anderen Khagane, allen voran Tahsin und und Sedat, unterstützten Nabil mit Waffen und Amuri. Alim verstand nicht, wieso Qabel nicht einsehen wollte, dass der gemeinsame Feind die Tectarier waren. Der weißhäutige Priester aus dem Bretonenland hatte berichtet, dass die Tectarier für die Kuppel verantwortlich waren und so die Eroberung Samariqs und die Zerstörung aller Tempel erreichen wollten. Amil fürchtete sich. Das Mädchen, das ihm versprochen worden war, es war verschwunden. Wahrscheinlich hatten die verdammten Konquistadoren sie getötet oder zur Sklavin gemacht. Aber jeden Abend schwor Amil, er würde Zada eines Tages finden oder ihren Tod rächen.
Iskandar kam an das kleine Feuer, um sich zu wärmen. Die Nächte in der Wüste waren kalt. "Die Amuri sind bereit. Wir können vor dem Morgengrauen zur letzten Oase zwischen hier und der Küste aufbrechen, mein Khagan", sagte er zu Amils Vater. "Gut. Wärmt euch, esst etwas. Lauscht einer Geschichte, bevor wir gehen", sagte der Khagan und schaute zu einem der Korsaren.
Sein Name war Yassir. Früher hatte er Khagan Qabel gedient, aber einige Jahre nach dem Krieg gegen den Meshiha Deghala war es zum Bruch gekommen. Warum, darüber sprach Yassir nicht. Bis die Kuppel erschienen war, hatte er keinen Unterschied gemacht, wessen Schiffe er ausraubte, ob es nun Tectarier, Bretonen oder Hun wären. Aber nun hatte er sich als loyaler Informant und treuer Krieger erwiesen, sodass Yassirs Mannen und die Krieger von Amils Vater gemeinsam zur Küste ritten.
Der Korsar nahm etwas Dattelmilch und sah durch die Runde. "Eine Geschichte wollt ihr hören? Soll es eine gute sein? Eine traurige oder eine schöne?", fragte er.
"Eine kurze. Wir haben nicht viel Zeit", murrte Iskandar.
Yassir lachte. "Wie du willst. Eine kurze Geschichte für Iskandar", sagte er und trank einen großen Schluck.
"Und keine traurige. Es sei denn, sie ist wahr", sprach Amils Vater.
Yassir begann. "Es war einmal in einem fernen Reich im Osten des heiligen Landes Amurs. Dort, wo die Wüste zu Stein wird und die Steine schwarz wie die Nacht werden. In diesen Ländern des Schattens brannte Amurs Licht niemals so hell wie in den westlichen Wüsten. Und doch war der Boden nicht fruchtbar. Die Menschen lebten von den wenigen Pflanzen, die sie fanden und den wenigen Tieren, die sie jagen konnten. Zwar beteten die meisten Menschen zu Amur, dem unbestrittenen Herrn des Himmels und der Erde, aber es gab ebenso Stämme, ganz weit im Osten am Gelben Meer, die Amur als Gott kannten, aber nie seine Worte sprachen. Diese Menschen beteten zu namenlosen Geistern, die von ihnen Opfer verlangten. Es waren keine Tiere, die zu opfern waren, sondern ihre eigenen Kinder, immer die Erstgeborenen. In jedem Jahr verlangten die namenlosen Geister der Dunklen Lande des Ostens elf Opfer. Das Blut der elf Erstgeborenen musste auf elf Schreine gegossen werden, und Nebelkrähen, wie sie ansonsten nur im Bretonenland und weiter im Norden vorkommen, tranken das Blut, denn sie waren die körperliche Gestalt der namenlosen Geister. In einem kleinen Dorf jedoch gab es einen Mann, der seinen Erstgeborenen nicht opfern wollte. Die Ältesten wollten ihn zwingen, mit aller Macht, aber der Mann nahm seinen Speer und tötete jeden, der sich seinem Haus näherte. 'Wieso willst du nicht auf die Götter hören, die ein Opfer verlangen? Das Dorf wird in Flammen stehen, wenn du nicht tust, was sie sagen', sagte einer der Ältesten, der mit Wachen vor dem Haus des Mannes wartete. 'Damit die Erde schwärzer wird und die Nacht noch länger? Schaut in das ferne Licht. Es ist Amur, der auf uns wartet!', rief der Mann. Sein Erstgeborener lag in den Armen der Mutter und weinte, als würde er sein Ende erahnen und die Not seines Vaters fühlen. 'Zündet sein Haus an. Wenn das Kind stirbt, ist das Opfer gebracht', befahl der Älteste. Und der Mann hörte die knisternden Flammen, als sein Haus Feuer gefangen hatte. Er stieß mit dem Fuß gegen eine Wand, bis er einen Fluchtweg für sein Weib gefunden hatte. 'Geh', bring ihn in Sicherheit', sagte er, und seine Frau lief mit dem Kind hinaus. Der Mann stieß die Tür auf und warf den Speer in die Brust des Ältesten. Er wusste, er würde nun sterben. Dann warf er einen letzten Blick auf sein Haus. Die Schwerter der Wachen durchbohrten ihn und liefen seiner Frau nach. Auch sie wurde niedergestreckt. Aber das Kind fanden sie nicht in ihren Armen. Auch im übrigen Land der Dunkelheit war sein Erstgeborener nicht zu entdecken. Man sagt, die namenlosen Geister hätten nie wieder ein Opfer verlangt, und bald waren alle Dörfer menschenleer."
Amils Vater aß etwas Brot. "Diese Geschichte ist gut, aber wahr ist sie nicht", sprach er, schluckte den letzten Bissen herunter und ging zu den Amuri. "Wir brechen auf."
Iskander und die anderen räumten das Lager. Hamit lachte. "Mir hat deine Geschichte gefallen, Yassir. Das nächste Mal, wenn der Khagan die Wahrheit hören will, dann erzähl sie auch."
Yassir antwortete nicht, stieg auf sein Amuri und folgte dem Khagan. Amil ritt neben ihm. "Ich glaube dir", sagte er.
"Es ist ja auch die Wahrheit, mein junger Freund", antwortete Yassir mit einem Lächeln auf den Lippen.
- An anderen Orten -
Uruku-Xtlan
Der stolzeste Krieger der Uruku schritt durch den dichten Dschungel. Die Bäume warfen tiefe Schatten, und Uruku-Xtlan beschloss, einen Baum zu erklettern, um sich zu orientieren. Er war weit weg von daheim, und die Große Mutter konnte die geistige Verbindung nicht mehr halten. Sie würde nun nicht mehr sehen, was ihr Sohn sah. Er nahm den Speer zwischen die Zähne, griff eine zum Boden schauende Liane und schlang sich auf die halbe Höhe des Baumes. In einem Astloch entdeckte er einen fetten Regenwurm, den er packte und in den kleinen Beutel steckte, der an seinem Lendenschurz befestigt war. Dann griff er mit beiden Händen die dicke Baumrinde, stellte die Füße quer und kletterte geschwind weiter nach oben. Dort angekommen, legte er den Speer schräg an einen Ast und beschaute seine Körperzeichnung. Als die warme Sonne die Symbole der Großen Mutter berührte, bildeten sich aus Linien Kreise und aus Kreisen wurden Flecken oder Spiralen. Er las die Befehle der Sonne und nickte. "Uruku-Xtlan wird dich nicht enttäuschen. Niemals", sagte er und trommelte auf seine Brust, nachdem er die Zeichen verstanden hatte. Dann wartete Uruku-Xtlan auf eine Antwort der Sonne. Die Kreise wurden etwas weiter, öffneten sich und ein paar Linien traten hervor. Er wartete, bis die Veränderung vollständig geworden war. "Uruku-Xtlan versteht deine Worte. Er wird zum Berg deines Namens gehen."
Er riss eine Liane vom Stamm und ließ sich nach unten gleiten. Dort nahm er wieder den Speer zu Hand und setzte seinen Weg fort. Als der Wald lichter wurde, griff er den Speer ganz fest. Hier wohnten die Dämonen, die Diener der Nacht, die aus dem Wasser gekommen waren, das vom schwarzen Himmelsauge verdorben worden war. Eine Weile spähte er aus dem Dickicht auf das Dorf. Vor drei Sonnenschritten, als die Echsen sich in den Sand gruben, um den gelben Uxtoctilan zu jagen, waren die fahlen Dämonen gekommen. Die Große Mutter hatte gesagt, die Sonne würde eine Waffe gegen sie haben. Darum hat sie Uruku-Xtlan, ihren stärksten Krieger, auf die Suche nach weiteren Antworten geschickt. Er wartete bis es dämmerte, denn seine Augen sahen sehr gut in der Nacht. Dann rief er einen Jaguar und flüsterte ihm etwas zu. Kurz darauf kniete der Jaguar sich hin und ließ ihn aufsteigen. Blitzschnell überquerten sie die Lichtung und blickten nicht zurück. Die Dämonen hatten sie nicht bemerkt. Uruku-Xtlan verabschiedete sich am Fuß des Berges von seinem Gefährten und benutzte seinen Speer als Wanderstab, mit dem er von Fels zu Fels sprang, bis er den Lichtpfad gefunden hatte. Die Große Mutter hatte gesagt, dass die Schwester der Sonne ein besonderes Geschenk für den Stamm der Uruku hätte. Er würde die Große Mutter nicht enttäuschen.
Oben angekommen legte er den Speer nieder und brachte einige Opfer dar. Ein paar Früchte, ein toter Dachs und eine Mantis, die er auf dem Weg in den Dschungel gefangen hatte. Dann legte er sich auf den Rücken und schloss die Augen. Die Schwester der Sonne schien auf seinen Leib, er spürte die Kühle, die ihm behagte. Dann öffnete er die Augen und sah auf die Veränderung seiner Zeichnung. Es begann zu regnen. Aber die Tropfen waren nicht durchsichtig, sondern blau. Das seltsame Wasser konnte ihm nichts anhaben. Wenn es auf den Stein tropfte, dann wurde es hart. Wie das getrocknete Blut der Bäume. Aber dieses Harz war kalt wie das Kleid der hohen Berge. Er nahm das blaue Harz und betrachtete es. Schließlich öffnete er seinen Beutel. Der Regenwurm, an den er gar nicht mehr gedacht hatte, kletterte hinaus. Aber Uruku-Xtlan hatte gar keinen Hunger mehr und ließ ihn ziehen. Er sammelte so viel Harz wie er konnte, dann sah er wieder auf seine Zeichnung. "Uruku-Xtlan wird dich nicht enttäuschen. Niemals", sagte er und machte sich auf den Rückweg. Als er das Dorf der Dämonen erreichte, sah er, wie sie alle durch den blauen Regen erstarrt waren. Uruku-Xtlan war stolz, und er spürte, dass Sonne und Mond auf seiner Seite waren.
Hamdir
"Wenn er eintrifft, muss alles bereit sein. Ist der Met angekommen, hat Arn bis zum Abend den Stör fertig?"
Gaeska lachte. "Immer wenn dein Bruder uns besucht, sprichst du wie eine alte gehetzte Henne, weißt du das?"
"Du kennst seine hohen Ansprüche. Er ist Händler im Bretonenland. Da essen sie jeden Tag Fasan und waschen sich nach dem Pissen die Hände. Außerdem bringt er sein Weib mit. Niemand soll denken, wir hätten nichts zu bieten", sagte Hamdir.
"Sorge dich nicht, Majestät wird zufrieden sein und sein bretonisches Küken auch. Wie hat er sie eigentlich getroffen? Sieht ihm wirklich nicht ähnlich, sich so ein Püppchen zu angeln."
"Wie ich gehört habe, war da ein Gelage in einer Taverne in der großen Stadt. Irgendein Idiot hat das Mädchen dumm angesprochen und wollte es anfassen. Na ja, du kennst ja Laukur. Er hat es sich nicht nehmen lassen, dem Kerl eine zu verpassen. Und wir haben ja gehört, wie die Bretonenmädchen so sind. Kaum dass sie einen echten Mann sehen, vergessen sie Mutters Rat. So kam eines zum anderen."
"Fast wie bei uns", lachte Gaeska, "ich erinnere mich gut daran, wie du Smorren und Herger verprügelt hast, als sie mich und meine Schwester beleidigt haben. Obwohl es deine Freunde waren. Denen hast du es gezeigt, mein großer Bär."
Hamdir nickte. Jetzt waren sie schon so lang verheiratet, da war es vielleicht an der Zeit, ihr die Wahrheit zu sagen. "Weißt du, Gaeska, ich müsste dir da was erzählen."
"Was hast du angestellt? Ich habe dir gesagt, dass wir noch Milch brauchen. Hast du es vergessen, bei all der Aufregung, oder willst du deine Tochter raus in die Kälte befehlen, die Graser zu melken?", fragte sie schmunzelnd.
"Tja, ich hab die Milch wirklich vergessen. Aber es geht um etwas anderes. Damals, na ja, du weißt schon, nach dem Thing, als ich die beiden verprügelt habe und dich dann zum Tanzen aufforderte... das ist etwas anders abgelaufen. Versprichst du mir, nicht böse zu sein?"
"Schau an, Hamdir, mein großer Bär. Auf dem Feld und in der Taverne bist du der starke Krieger, und jetzt siehst du mich an wie ein kleiner Junge. Ich könnte dir niemals bös sein. Was sollte ich denn ohne dich machen, hm?"
"Ach, Gaeska, so geht es mir auch. Darum habe ich den beiden ein Fass Met spendiert, damit sie mir die Gelegenheit geben, dich zu retten", sagte er und wartete auf ein kleines Donnerwetter.
Aber sie lachte nur. "Und meinst du, ich habe das nicht schon damals gemerkt?"
"Hast du?", fragte er nicht ohne Überraschung.
"Aber ja. Ich fand es erst etwas albern. Aber dann schien es mir ein kluger Weg zu sein. Den Umweg über die Prügelei hättest du dir zwar sparen können, aber ich wollte deine Pläne nicht zerstören. Und immerhin hat es meine Schwester in Hergers Arme geführt. Es hatte alles sein Gutes", sagte sie und küsste seine Stirn.
"Meine Gaeska. Deshalb habe ich dich geheiratet. Ach, ich wusste von Anfang an, du bist die richtige Frau für mich."
"Dasselbe sagt Herger über meine Schwester. Es liegt uns eben im Blut. Aber, sag mal, hast du etwas von Smorren gehört? Er ist doch auch nach Bretonia gegangen."
Hamdir überlegte einen Moment, wann er das letzte Mal etwas von ihm gehört hatte. "Laukur hat gesagt, Smorren hat ein Schiff bei einem Würfelspiel gewonnen. Das muss aber schon einige Jahre her sein. Er handelt nun mit Salz, glaube ich."
"Und da hat er uns bisher noch nicht besucht? Wie geht es ihm denn in Bretonia?", fragte sie.
"Er hat wohl viel Arbeit. Ob er ein Weib hat, weiß ich nicht. Und unser Hof ist sehr abgelegen. Vielleicht sollte ich ihm bei meinem nächsten Besuch in der Ostfold eine Nachricht hinterlassen, wo er uns findet. Was meinst du?"
"Das wäre schön. Und jetzt geh' die Graser melken, mein großer Bär", sagte Gaeska und gab ihm noch einen Kuss.
Hamdir gab ihr einen Klaps auf den Hintern, dann nahm er seinen Umhang und setzte die Fellmütze auf. Die Abende waren schon sehr kalt, und der Winter stand vor der Tür. Er verließ das Haus und ging zur Weide. Die meisten Viecher hatten sich schon in den Stall verzogen. "So, ihr Faulpelze, her mit euch."
Er nahm den Schemel, stellte den Eimer ab und wollte gerade anfangen, als die Tiere plötzlich unruhig wurden. "Na, was wird das denn? Ziert euch nicht", murrte Hamdir. Dann hörte er ein lautes Grollen, das die Holzwände erzittern ließ. Panisch rannten die Tiere umher. Hamdir lief hinaus. Das Grollen wurde zu einem beinahe ohrenbetäubenden Donnern im Himmel, aber es war kein Unwetter. Gaeska lief hinaus. "Hamdir, ist alles in Ordnung? Was ist das?" "Geh' ins Haus. Beruhige die Kinder!", rief er.
"Hamdir, Hamdir!", schrie sie plötzlich und zeigte auf den Weiher neben dem Hühnerstall. "Vorsicht!"
Er fuhr schnell herum. Eine Gestalt trat aus dem Wasser. Es stank schrecklich nach Fäulnis. "Ins Haus, schnell!", rief Hamdir. Ob Gaeska auf ihn gehört hatte, wusste er nicht. Die Gestalt trat ins Licht. Die Haut war ganz fahl, die Augen leer und weiß wie der Mond. Sie streckte eine Hand aus. "Verschwinde, was auch immer du bist", sagte Hamdir und nahm einen Knüppel. "Hamdir, nicht, komm ins Haus", rief Gaeska. Er drehte sich um. Sie stand immer noch in der Tür. "Rein mit dir!", schrie er. Er ließ den Knüppel fallen, nachdem der Fremde ihn berührt hatte. "Hamdir, Hamdir!", hörte er Gaeska rufen.
Hamdir aber nickte seinem Kameraden zu, ging auf das Haus zu und schlug mit der Faust die Tür entzwei, die Gaeska hinter sich geschlossen hatte. Mit den Kindern im Arm war sie nach hinten zum Herd gelaufen und hatte ein Schwert von der Wand genommen. "Hamdir, was ist mit dir? Komm nicht näher", sagte sie und weinte.
Warum die Frau weinte, wusste er nicht. Aber sie und die Kinder mussten werden wie er.
Belfos
"Eine sehr gute Arbeit", sagte der Meister und betrachtete das kleine Pferdchen von beiden Seiten. "Der Kunde wird sehr zufrieden sein."
"Danke, Meister", sagte der junge Belfos. Er hatte mehrere Tage daran gearbeitet und nur das beste Holz benutzt. Immerhin war es sein erster eigener Auftrag gewesen.
"Möchtest du es selbst abliefern, Belfos? Du hast es dir verdient."
"Meister, das wäre eine große Ehre. Ich darf wirklich?"
Der Meister nickte und lächelte wieder, als wäre er sein Großvater. "Natürlich. Ich habe den Auftrag angenommen und mit Lord Glan alles ausgehandelt. Du gibst das Pferdchen ab und wartest, bis seine Nichte es sich angesehen hat. Dann lässt du dich bezahlen und kommst zurück. Verstanden?"
"Ja, Meister. Verstanden", sagte Belfos, nahm etwas Papier und wickelte es vorsichtig um das kleine Kunstwerk. "Es wird ihr bestimmt gefallen, Meister."
"Dein nächster eigener Auftrag wird etwas sehr Wichtiges sein, mein Junge. Fühlst du dich bereit?"
Belfos sah ihn mit großen Augen an. "Ich werde Euch nicht enttäuschen. Niemals."
"Ich weiß", sagte der Meister mit nachdenklichem Blick.
"Seid Ihr in Sorge, Meister?"
"Habe ich dir jemals von meiner Tochter erzählt, Belfos?", fragte der Meister. Seine Stimme zitterte einen Moment.
"Nein, das habt Ihr nicht. Ich weiß, dass Ihr eine Tochter habt, aber sie war noch nie hier, oder?"
"Früher war sie oft hier. Sie hatte ein Versteck, im Garten. Sie dachte, ich wüsste es nicht, aber ich habe sie gewähren lassen. Sie war sehr verliebt, in einen jungen Burschen."
Belfos nickte langsam. "Dann hat sie ihn sicher geheiratet, und sie sehen sich nun die Welt an. Midgard, wo die Berge bis an den Himmel reichen. Oder Samariq, wo die Pferde sprechen können. Oder sind sie auf der Insel der Abenteuer, auf Blyrtindur?", fragte Belfos neugierig. Er hatte noch nie die Welt gesehen. Aber eines Tages, wenn er selbst ein Meister wäre, würde er all die Orte sehen, von denen er nur gehört und gelesen hatte. Das Lesen hatte ihm der Meister beigebracht, genau wie das Schreiben. Belfos war im letzten Krieg zum Waisen geworden, aber in der Abtei war er nicht glücklich gewesen, also hat der Meister ihn aufgenommen und erzogen.
"Nein", lächelte der Meister, "sie hat einen anderen geheiratet. Und... ich bin nicht ihr Vater. Ich bin ihr Ziehvater. Ich nahm sie auf, wie ich dich aufgenommen habe, mein Junge. Manchmal denke ich, dass ich damit einen alten Fehler wieder gutmachen wollte. Auch wenn neue hinzugekommen sind..."
"Was meint Ihr damit, Meister?", fragte Belfos.
"Ich berichte es dir später, mein Junge. Jetzt bring die Arbeit in die Kanzlei. Lord Glan und seine Nichte sind sicher schon gespannt", sagte der Meister und sah ihn einen Moment an. "Du bist ein guter Junge. Ich bin stolz auf dich. Vergiss nie, was du gelernt hast."
"Ich enttäusche Euch nicht, Meister. Niemals", sagte Belfos. Er dachte nicht weiter nach über das Gespräch. Wenn der Meister es für richtig befände, würde er ihm erzählen, was ihn so traurig machte. Belfos nahm das Bündel, packte es in einen Beutel und verließ die Werkstatt. Den Wachen zeigte er den abgeschlossenen Vertrag, und man ließ ihn ein in die Kanzlei.
Lord Glan trug einen Dolch an der Seite und ein einfaches Wams. Irgendwie hatte sich Belfos den Kanzler anders vorgestellt. Viel größer, und in einer goldenen Rüstung, mit einem großen Schwert. Aber er bemühte sich, nicht zu überrascht zu wirken. "Guten Abend, Kanzler. Ich meine, Lord Glan. Lord Kanzler, das meine ich."
"Schon gut, Junge. Wie ist dein Name?", fragte Lord Glan.
"Ich bin Belfos. Mein Meister schickt mich. Ich habe das Geschenk für Eure Nichte bei mir. Es ist meine erste eigene Arbeit."
"Ruft meine Nichte", befahl Lord Glan einer Wache.
Belfos sah sich um. "Soll ich es hier auf den Tisch stellen, Lord Kanzler Glan?"
"Behalte es in der Hand. Du darfst es ihr selbst geben. Und: Lord oder Kanzler reicht vollkommen aus."
Die Tür öffnete sich, und ein Diener führte ein Mädchen hinein. Belfos spürte, wie sein Herz klopfte. Wahrscheinlich wurde er jetzt ganz rot.
"Alysare. Das ist Belfos. Er hat etwas für dich. Er hat es selbst angefertigt. Möchtest du die Arbeit des jungen Mannes begutachten?"
Das Mädchen musterte Belfos. "Für mich?", fragte sie und lächelte.
"J-Ja, Mylady... ich hoffe, es gefällt Euch", stotterte Belfos. Sie war sehr schön.
Alysare ließ sich das Bündel reichen und öffnete es vorsichtig. "Oh, wie hübsch! Danke, vielen Dank. Es gehört in meine Sammlung", sagte sie und fiel Belfos plötzlich um den Hals, dass er gar nicht wusste, wie ihm geschah. "B-Bitte."
Lord Glan musste schmunzeln. "Was schulde ich dir?", fragte er.
Schnell ließ Alysare ihn los. Belfos schluckte leicht und spürte wie die Röte ihn wahrscheinlich lilafarben gemacht hatte. "Es steht alles hier drauf", sagte er und gab Lord Glan das Dokument. Kurz darauf gab der Kanzler ihm einen Beutel. "Es ist eine sehr gute Arbeit. Meinen besten Dank und Gruß an deinen Meister."
"Ich werde es ausrichten. Vielen Dank, Lord Glan."
Bevor Belfos die Kanzlei verließ, warf er noch einen Blick auf Alysare, die ihm zuwinkte und sich dann bei ihrem Onkel für das Geschenk bedankte. Stolz, aber auch etwas erleichtert, dass das Herzklopfen allmählich verschwand, stopfte er den Beutel unter das Hemd und lief frohen Mutes zurück zur Werkstatt. Die Tür war verschlossen. Erst klopfte Belfos. Dann nahm er seinen Schlüssel und öffnete die Tür. Er trat ein. Die Werkstatt war verlassen und aufgeräumt. Nur ein paar Werkzeuge fehlten. Auf einem Tisch fand Belfos zwei Blatt Pergament. Das erste war ein Gesellenbrief und ein Empfehlungsschreiben. Daneben lag ein Beutel. Er fand darin Gold und einen kleinen Dolch. Das zweite Pergament war ein Brief seines Meisters. "Ich enttäusche Euch nicht, Meister. Niemals", sprach er ganz leis.
Daisuke
Daisuke war der kohai seines Meisters. Sein Meister war ein großer Samurai aus dem Clan der Grünen Drachen, deren Atem die Felder fruchtbar macht. Im Krieg gegen den Clan des Schwarzen Skorpions waren viele Soldaten gefallen, doch waren sie siegreich gewesen, weil sie ehrenvoll gekämpft hatten. Shogun Kenzo Kiyoshi, Sohn des großen Ryo Tadashi, hatte Daisukes Meister mit großen Ländereien belohnt und ihm vierzig Diener und drei Geishas aus dem Shogunat geschenkt. Und weil sein Meister auf eine weite Reise zur Insel des Rosentempels gerufen worden war, so wie Meister Yishan vor ihm, war es nun Daisukes Aufgabe, auf den Haushalt zu achten, die Diener einzuweisen und für die Sicherheit, Zufriedenheit und das Wohlergehen der Geishas zu sorgen. Daisuke hatte die Diener in den großen Saal befohlen und sie nach ihren Berufen den einzelnen Bereichen des hohen Hauses zugeteilt. Sieben Wachen hatte er abstellen lassen, die Gemächer der Geishas zu bewachen. Sobald es den Frauen an etwas mangelte, musste dem Bedürfnis nachgegangen werden. Der Meister würde sie ihre Dienste erst nach seiner Rückkehr tun lassen. Bis dahin badeten sie in Milch, lauschten der Musik des Kapellmeisters und tranken Tee. Daisuke fragte sich manchmal, ob das Leben einer Geisha nicht langweilig wäre. Aber die Frauen waren wohl zufrieden, wenn ihre Herren es waren.
Die Sonne war untergegangen, als Daisuke alle Hausangelegenheiten erledigt hatte. Er beschloss, einen letzten Rundgang zu machen. Die Wachen salutierten, und die Diener hatten ihre Schlafstätten vorbereitet. In den Gärten war es ganz still geworden. Die Grillen zirpten, und es war wohl ihr letzter Gesang, denn der Winter kam über das Land. In den Südlanden kannte man keinen Schnee, aber hier auf der großen Nordinsel konnte es im Winter sehr kalt werden, und schon im Herbst lag auf manchen Hügeln bereits der erste Schnee. Daisuke schlenderte über den Außenhof, als er ein Geräusch hörte. Eine der Wachen hatte es auch vernommen und öffnete vorsichtig das Tor. Beide spähten hinaus. Es hatte sich angehört, als würde Glas zu Boden fallen. Aber die Ländereien des Meisters hatten sich schon zur Ruhe gelegt. Im Haus der Botenreiter brannte kein Licht, und auch im Dorf unten im Tal war es dunkel. "Es kam vom Wasserfall", sprach die Wache leise. "Wir sehen nach", befahl Daisuke.
Die Bewohner des Dorfes behaupteten in ihren Geschichten, der Weiher und sein Wasserfall wären ein Tor in die Welt der Ahnen. Daisuke glaubte natürlich an die Ahnengeister und verehrte sie, aber viele Geschichten waren eben nur Aberglaube. Erneut hörten sie das klirrende Geräusch. Vorsichtig liefen sie näher zum Weiher. Dann sahen sie, wie das Wasser langsam gefror. "Schon im Herbst?", fragte die Wache leise. "Ja, das ist seltsam..."
Daisuke stieg in das kühle Wasser und brach einen der Eiszapfen ab. "Wie eigenartig, schau nur", flüsterte er, schüttelte das Eis und die Wache staunte, als sie darin Schneeflocken erkannten. "Ich sehe noch mehr. Dort ist ein Wolf. Und das ist kein Eis, das sind Kristalle."
Als viele Monate darauf das Haus seines Meisters von den Fahlen Geistern überrannt worden war und Daisuke seinen Herrn nicht mehr finden konnte, als das Dorf nur noch aus den Geistern bestand und das Land sich im Krieg gegen die Fremden befand, erinnerte sich Daisuke, wie er die Kristalle gesammelt und im nahen Wald verborgen hatte. "Wir müssen in den Wald. Wirst du es schaffen?", fragte er die einzig Überlebende. Die Geisha nickte und folgte ihm.
Alim
Hamit und Iskandar hatten die Amuri gefüttert und die Wasservorräte für die Weiterreise aufgefüllt. Es dämmerte schon zur Nacht. Die anderen Wachen hatten rund um die Oase Posten bezogen. Sie waren weit weg von Amurs Tempel, mitten in der Wüste. In drei oder vier Tagen würden sie die Küste erreichen. Und die magische Kuppel. Alim hatte bisher nur von ihr gehört. Die Horde von Khagan Nabil Al Rasin hatte dort Stellung bezogen, wie die Korsaren berichtet hatten. Früher war nicht daran zu denken gewesen, jemals an einem Feuer mit den Räubern der Meere zu sitzen. Aber jetzt, da der Handel mit den Nordmenschen aus dem Bretonenland schlagartig zum Erliegen gekommen war und das stolze Volk der Hun eingeschlossen war mit den weißhäutigen Konquistadoren aus Tectaria, gab es plötzlich Einigkeit. Zwar kämpften einige Horden wie die von Khagan Qabel und Nabil noch Fehden gegeneinander aus, aber die meisten hatten ihre Kriege beigelegt und wollten sich an der Nordküste bei Wahdet'Ma'ath mit Khagan Nabil treffen, zur großen Versammlung. Qabel würde es sich zweimal überlegen, eine Versammlung anzugreifen, bei der Tausende Krieger anwesend wären.
Und sie alle warteten auf Nachricht von Khagan Dakhil Al Khan. Niemand wusste, ob es ihm gelungen war, den Stab der Erschaffung zu retten und die Finsternis zu vernichten, wie es Amur verheißen hatte. Qabel hatte offen Zweifel angemeldet und so Nabils Zorn auf sich gezogen. Die anderen Khagane, allen voran Tahsin und und Sedat, unterstützten Nabil mit Waffen und Amuri. Alim verstand nicht, wieso Qabel nicht einsehen wollte, dass der gemeinsame Feind die Tectarier waren. Der weißhäutige Priester aus dem Bretonenland hatte berichtet, dass die Tectarier für die Kuppel verantwortlich waren und so die Eroberung Samariqs und die Zerstörung aller Tempel erreichen wollten. Amil fürchtete sich. Das Mädchen, das ihm versprochen worden war, es war verschwunden. Wahrscheinlich hatten die verdammten Konquistadoren sie getötet oder zur Sklavin gemacht. Aber jeden Abend schwor Amil, er würde Zada eines Tages finden oder ihren Tod rächen.
Iskandar kam an das kleine Feuer, um sich zu wärmen. Die Nächte in der Wüste waren kalt. "Die Amuri sind bereit. Wir können vor dem Morgengrauen zur letzten Oase zwischen hier und der Küste aufbrechen, mein Khagan", sagte er zu Amils Vater. "Gut. Wärmt euch, esst etwas. Lauscht einer Geschichte, bevor wir gehen", sagte der Khagan und schaute zu einem der Korsaren.
Sein Name war Yassir. Früher hatte er Khagan Qabel gedient, aber einige Jahre nach dem Krieg gegen den Meshiha Deghala war es zum Bruch gekommen. Warum, darüber sprach Yassir nicht. Bis die Kuppel erschienen war, hatte er keinen Unterschied gemacht, wessen Schiffe er ausraubte, ob es nun Tectarier, Bretonen oder Hun wären. Aber nun hatte er sich als loyaler Informant und treuer Krieger erwiesen, sodass Yassirs Mannen und die Krieger von Amils Vater gemeinsam zur Küste ritten.
Der Korsar nahm etwas Dattelmilch und sah durch die Runde. "Eine Geschichte wollt ihr hören? Soll es eine gute sein? Eine traurige oder eine schöne?", fragte er.
"Eine kurze. Wir haben nicht viel Zeit", murrte Iskandar.
Yassir lachte. "Wie du willst. Eine kurze Geschichte für Iskandar", sagte er und trank einen großen Schluck.
"Und keine traurige. Es sei denn, sie ist wahr", sprach Amils Vater.
Yassir begann. "Es war einmal in einem fernen Reich im Osten des heiligen Landes Amurs. Dort, wo die Wüste zu Stein wird und die Steine schwarz wie die Nacht werden. In diesen Ländern des Schattens brannte Amurs Licht niemals so hell wie in den westlichen Wüsten. Und doch war der Boden nicht fruchtbar. Die Menschen lebten von den wenigen Pflanzen, die sie fanden und den wenigen Tieren, die sie jagen konnten. Zwar beteten die meisten Menschen zu Amur, dem unbestrittenen Herrn des Himmels und der Erde, aber es gab ebenso Stämme, ganz weit im Osten am Gelben Meer, die Amur als Gott kannten, aber nie seine Worte sprachen. Diese Menschen beteten zu namenlosen Geistern, die von ihnen Opfer verlangten. Es waren keine Tiere, die zu opfern waren, sondern ihre eigenen Kinder, immer die Erstgeborenen. In jedem Jahr verlangten die namenlosen Geister der Dunklen Lande des Ostens elf Opfer. Das Blut der elf Erstgeborenen musste auf elf Schreine gegossen werden, und Nebelkrähen, wie sie ansonsten nur im Bretonenland und weiter im Norden vorkommen, tranken das Blut, denn sie waren die körperliche Gestalt der namenlosen Geister. In einem kleinen Dorf jedoch gab es einen Mann, der seinen Erstgeborenen nicht opfern wollte. Die Ältesten wollten ihn zwingen, mit aller Macht, aber der Mann nahm seinen Speer und tötete jeden, der sich seinem Haus näherte. 'Wieso willst du nicht auf die Götter hören, die ein Opfer verlangen? Das Dorf wird in Flammen stehen, wenn du nicht tust, was sie sagen', sagte einer der Ältesten, der mit Wachen vor dem Haus des Mannes wartete. 'Damit die Erde schwärzer wird und die Nacht noch länger? Schaut in das ferne Licht. Es ist Amur, der auf uns wartet!', rief der Mann. Sein Erstgeborener lag in den Armen der Mutter und weinte, als würde er sein Ende erahnen und die Not seines Vaters fühlen. 'Zündet sein Haus an. Wenn das Kind stirbt, ist das Opfer gebracht', befahl der Älteste. Und der Mann hörte die knisternden Flammen, als sein Haus Feuer gefangen hatte. Er stieß mit dem Fuß gegen eine Wand, bis er einen Fluchtweg für sein Weib gefunden hatte. 'Geh', bring ihn in Sicherheit', sagte er, und seine Frau lief mit dem Kind hinaus. Der Mann stieß die Tür auf und warf den Speer in die Brust des Ältesten. Er wusste, er würde nun sterben. Dann warf er einen letzten Blick auf sein Haus. Die Schwerter der Wachen durchbohrten ihn und liefen seiner Frau nach. Auch sie wurde niedergestreckt. Aber das Kind fanden sie nicht in ihren Armen. Auch im übrigen Land der Dunkelheit war sein Erstgeborener nicht zu entdecken. Man sagt, die namenlosen Geister hätten nie wieder ein Opfer verlangt, und bald waren alle Dörfer menschenleer."
Amils Vater aß etwas Brot. "Diese Geschichte ist gut, aber wahr ist sie nicht", sprach er, schluckte den letzten Bissen herunter und ging zu den Amuri. "Wir brechen auf."
Iskander und die anderen räumten das Lager. Hamit lachte. "Mir hat deine Geschichte gefallen, Yassir. Das nächste Mal, wenn der Khagan die Wahrheit hören will, dann erzähl sie auch."
Yassir antwortete nicht, stieg auf sein Amuri und folgte dem Khagan. Amil ritt neben ihm. "Ich glaube dir", sagte er.
"Es ist ja auch die Wahrheit, mein junger Freund", antwortete Yassir mit einem Lächeln auf den Lippen.
Alea iacta est.
Die Würfel sind gefallen!
Die Würfel sind gefallen!
Re: Ein scharlachroter Tod
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Belfos verliert ein Wettrennen
Der Gehilfe Jorgans lief schnell wie der Wind. Sein Verfolger hatte zwar keine Waffe in der Hand, aber die Art, wie er ihn angegrinst hatte, bevor er seinen Arm gepackt hatte, war Belfos unmissverständlich erschienen: Der Kerl mit dem irren Blick wollte ihn umbringen! Ob es etwas mit dem Verschwinden seines Meisters zu tun hatte? Er hatte wirklich keine Zeit, großartig nachzudenken - der Unbekannte war wirklich schnell zu Fuß. Belfos lief um eine Ecke, sah das Getümmel am Marktplatz und stürzte sich hinein. Schnell klaute er einen Umhang, als ein Händler nicht genau hinsah, dann lief er durch die Menge zur anderen Seite. Er hatte sich so lange erfolgreich versteckt. Und nun kam da so ein Typ, den er nicht kannte und der ihm ans Leder wollte. Auf der anderen Seite schnitt er ihm den Weg ab. Schnell drehte Belfos sich um, machte kehrt und rannte durch den Hintereingang einer Taverne, wo er sich unter einen Tisch warf. Er sah nur noch die Stiefel und Schuhe der Gäste. Sobald er diese schwarzen Stiefel sehen würde, nähme er die Beine wieder in die Hand und wäre auf und davon. Aber sie waren nicht zu sehen. Er hatte ihn endlich abgeschüttelt. Erleichtert blieb er einen Moment dort sitzen.
"Vertrau mir, ich will dir helfen", sagte die Stimme des Mannes. Aber er war nicht zu sehen. Da war nur eine kleine Maus.
"Hast du gerade was gesagt?", fragte Belfos leise und ungläubig.
Die Maus kicherte. "Ja, sicher. Mein Name ist Jan. Hohenfels schickt mich. Wir wollen dir helfen, Kleiner."
Caldorvan
Der Untote Lord schritt durch die Reihen seiner neuen Armee. Die Macht der Erschaffung, die er Hrabanus geraubt hatte, war ihm so schnell wieder genommen worden wie er sie auf der Insel der Finsternis erlangt hatte. Die Armee war ihm jedoch geblieben. Er hatte Aran und Saban auf eine besondere wichtige Reise geschickt, um eine ebenso wichtige Aufgabe zu erfüllen. Lathias und Sylthir führten die Verteidiger an, Liranus hatte er zur Nebelküste und in das nördliche Tal Beltain entsandt, um die Truppen zu versammeln. Den Bau dieser irrsinnigen und lächerlichen Hauptstadt an der Küste hatte er schnell abgebrochen, und die Gefangenen, die unverwandelt waren, in die Armee eingegliedert. Hier und da hatte er tatsächlich noch Bauern und Tagelöhner, Räuber und Wegelagerer entdeckt, die noch nicht in den Tiefenwald oder die Kernlande geflohen waren. Sie alle waren nun treue Gefolgsleute. Und jetzt gab es keinen Sicarion Grauwind, der seine Macht brechen würde. Keinen Mercutio, der ihn benutzen würde, keinen Dybbuk und keinen anderen, der es mit ihm aufnehmen könnte. Die Malstromwesen folgten bedingungslos. Sogar Aran hatte auf den Befehl nur geantwortet: "Ja, Vater."
Alles spielte ihm zu. Es war fast schon zu leicht. Der Zwischenfall im Seelenmoor, als er bedauerlicherweise den Stab der Erschaffung an Mithraniel verloren hatte, war ein leichter Rückschlag gewesen. Das Angebot Tysandras, an ihrem Hofstaat eine Rolle zu spielen, würde er den Schlüssel im Lager der Winterkrieger im Wilderland benutzen, hatte er zum Schein angenommen. Es war ihm als eine simple Art erschienen, an das Nebelgefäß zu gelangen, um am Ende den Weißen Wolf - Lucius war das - zu rufen. Dass es das Ende seiner neuen Armee wäre, wenn erst die elf Lieder gefunden wären, war ihm bewusst. Dies war eine Armee auf Zeit. Auch das war ihm klar. Aber er brauchte sie nicht für immer. Nur jetzt... jetzt war sie wichtig. Etwas, das Hlifa eines Tages verstehen würde; vorausgesetzt sie würde etwas mehr Verstand als ihr Bruder beweisen. Wenn Bjartur, Mithraniel und die anderen nicht aufgetaucht wären, hätte er sein Schauspiel glaubhaft weiterspielen können. Denn die Söldner Crenns waren dumm genug gewesen, ihm zu vertrauen. Glaubten sie wirklich, er bräuchte einen Emporkömmling wie Tysandra, um sein Endziel zu erreichen? Es war so lachhaft gewesen, dass er sogar hinter dem schwarzen Visier sein Grinsen unterdrückt hatte. Aber dann waren die Turmherrin und ihre Begleiter gekommen. Wieder einmal hatten sie den Mund nicht halten können. Es war beinahe tragisch, wie gedankenlos und närrisch die Sterblichen handelten, wenn sie glaubten, alles zu wissen. Dass schließlich Mithraniel den Kampf begann, war für ihn ein Zeichen gewesen, dass sie wirklich nicht wussten, was er da versucht hatte. Von keinem verlangte er je Vertrauen. Und wenn er es tat, dann in dem Wissen, dass derjenige es bereuen würde. Aber dies war so dumm gewesen, dass er bereitwillig in den Kampf gegangen war. Vorher hatte er seinen Kriegern durch seine Gedanken befohlen, den Schlüssel in Sicherheit zu bringen - zu spät, denn Mithraniel transportierte ihn durch ihre elendige Zauberei fort. Also hatte er befohlen, jeden einzelnen der Angreifer zu verwandeln. Es wäre die gerechte Strafe für ihre mangelnde Unterwürfigkeit vor ihrem wahren König.
Caldorvan hatte nicht vergessen, was er vor vielen Jahren in den Nordlanden erfahren hatte. Und nun war die Zeit gekommen - endlich - seinen Anspruch durchzusetzen. Wenn auch nicht auf die Weise, wie man sie von ihm erwarten würde. All die Zeit hatte er geschwiegen, auch wenn er oft versucht gewesen war, die Wahrheit um den Thron auszusprechen. Aran hatte er die Wahrheit sagen wollen, aber er hörte niemals zu. Saban war zu plump dafür. Aurelia zu unschuldig - sie war das einzige seiner Kinder, für das er so etwas wie Zuneigung fühlte, auch heute noch. Und bei allen anderen Gelegenheiten, zu sagen, was er wusste, hatte er sich zum Schweigen gezwungen. Selbst im Thronfolgekrieg, selbst als Sicarion ihn unterworfen hatte. Dem Lethos gegenüber hatte er seine Gedanken verborgen, so wie er es bei Zhaerius getan hatte, als dieser vergeblich versucht hatte, ihn zu bezwingen. Im Bürgerkrieg hatte er ebenso geschwiegen. Und als er Phaeron von Yrens Gegenwart gespürt hatte, kurz nachdem er die Malstromwesen unter seine Kontrolle gebracht hatte, hatte Caldorvan seine Gedanken tief verborgen unter dem Schwert und Blut Lebans.
"Wir marschieren im Morgengrauen", sprach er nach einer Weile.
"Jawohl, mein König", erwiderte Lathias.
Es war so leicht. Caldorvan lachte. Plötzlich erschien einer seiner Kundschafter. "Sie sind fort."
"Wo sind Aran und Saban? Wieso berichtest DU mir und keiner von ihnen?", grollte Caldorvan.
"Saban muss etwas zugestoßen sein. Es sind Tirinaither dort. Vermutlich haben sie ihn entdeckt."
"Und Aran?"
"Unauffindbar."
Caldorvan fluchte leise. Er versuchte, seine Söhne durch seine Gedanken zu rufen. Saban erneuerte sich in einem Weiher nahe Witrins. Es war keine Magie, die ihn niedergerungen hatte. Aran indes war nicht mehr zu spüren. Da war nur ein Licht, reine Energie. Zauberei. Sonst war da nichts mehr. "Findet ihn!", befahl er.
Dann hörte er Lärm. Er sah hinauf zu den Zinnen. Eine seiner Wachen stürzte in die Tiefe, schlug mit dem Kopf auf und zerplatzte. "Was geht hier vor? Zu den Waffen!", rief der Untote Lord.
Lathias zog sein Schwert und deutete zum Horizont. "Es sind die Bretonen. Sie brechen den Pakt!"
Esthelion
Aus Maga Theralias Aussagen war nichts zu erfahren. Dass die Skjöldburer ihm etwas verheimlichten, dass sie etwas Entscheidendes wussten, war ihm mehr als deutlich geworden. Vielleicht kannten sie Nachfahren seiner Mutter, die ihn mit Dholon gezeugt haben musste. Oder sie wussten, wo die Inschriften waren, die Weissagungen, die Esthelion auf seiner Reise nach Midgard gesehen hatte. Etwas, das ebenso dafür sprach, dass sie ihn belogen, war die Tatsache, dass Maga Theralia eher auswich denn antwortete, eher zu Abschweifungen neigte als kurz und knapp zu sagen, was sie wusste. Weder erfuhr er etwas über seine Ahnen noch etwas über seine Mutter, die wohl eine Nordfrau gewesen sein musste. Und doch fühlte Esthelion eine Präsenz. Es war etwas, das er bei der Frau, die er immer für seine Mutter gehalten hatte, nie gefühlt hatte. Nicht Liebe oder Zuneigung - nein, es war einfach nur die Gewissheit ihrer Nähe. Vielleicht war Skjöldbur also keine schlechte Wahl gewesen.
Aber wenn sie ihm etwas vorenthielten, was war es? Und wenn es wirklich Wissen über seine Mutter oder die Herkunft der Weissagungen war, wieso sollten sie ihm derartig misstrauen? Weil er dem Eis gedient hatte, im Thronfolgekrieg. Einen anderen Grund konnte er sich nicht denken. "Elf Kinder. Eines überlebt, eines erbt, eines siegt, eines wird glücklich", flüsterte Esthelion auf dem Weg in das Gemeinschaftshaus, wo man ihm eine Schlafstätte hergerichtet hatte. "Wie meinen?", fragte der Bretone. Esthelion erkannte ihn. "Sir Allyen... nein, schon gut. Es ist nichts."
Dann begab er sich auf die Schlafbank, lehnte sich an die Wand und ging immer wieder die Weissagung im Kopf durch. Die Kinder, sie waren zuzuordnen. Das glückliche Kind aber konnte er nicht einordnen. Ein Zyniker würde wohl antworten, dass jedes Kind dieser Welt dazu verdammt wäre, eines Tages Opfer eines Krieges zu werden, denn gerade Menschen schafften es immer wieder, einander das Leben zur Hölle zu machen. Gründe für Kriege gab es immer. Der Thronfolgekrieg war eine Notwendigkeit gewesen, denn er stellte endlich Ordnung her. Das Eis hatte Theresia auf dem Thron des Reiches sehen wollen, und Esthelion hatte aus einem bestimmten Grund den Befehl der Wesen nie hinterfragt: Es schien ihm gerecht. Also hatte er alles dafür getan. Die Kraft der Menschen, die Welt in den Krieg zu stürzen, sie war nicht von der Hand zu weisen. Und selbst jetzt gab es durchaus Ansatzpunkte, die darauf hinwiesen, dass auch heute ein großer Teil der Schwierigkeiten, in denen alle steckten, von Menschenhand begründet worden waren. "Die Menschen zerstören sich selbst. Wir sind nur die Stimme", hatte das Eis gesagt.
Und welches Kind würde siegen? Auch hier gab es kaum eine einleuchtende Antwort. Der Erbe jedenfalls könnte Tysandras Sohn sein. Das wäre natürlich wenig erfreulich. Wenn die Weissagung aus einem bestimmten Grund zu ihm gekommen war, dann wohl, weil sie ihn betraf. Er bliebe dann übrig als der Überlebende. Das Kind, das überlebt. Dies würde voraussetzen, dass zu irgendeinem Zeitpunkt in der Geschichte, in seiner eigenen Vergangenheit, jemand sein Leben hätte beenden wollen. Nun, das hatten viele versucht - mit eher geringem Erfolg. Es musste also jemand oder etwas gewesen sein, das nicht nur den Willen und die Macht dazu gehabt hätte, sondern auch ein Ziel, das über einen reinen Sieg hinausgegangen wäre. Mercutio hatte die Macht dazu, aber keinen besonderen Grund. Aenthalas, der Rote Narr, hatte im Thronfolgekrieg dem Feuer gedient. Sie hatten sich als ebenbürtige Gegner erwiesen - nicht überzeugend, nicht eindeutig genug. Und andere wollten ihm nicht einfallen. Vielleicht lag es weiter zurück? In der Heimat? Oder auf seinem Weg durch... das Jorganschelf! Damals war er von einem Jäger verfolgt worden, einem Valkyn. Erst als Esthelion den Thron des Winters erreicht hatte, war der Valkyn umgekehrt. Der Thron war verlassen gewesen (dies dachte er damals - heute war es wohl anders). Und dahinter hatte er das Eis gesehen. Was, wenn jemand ihn damals schon hatte aufhalten wollen? Jemand aus dem Orden Argans? Nein, zu lang her. Das Obsidianorakel vom grauen Wall? Unwahrscheinlich, denn das Feuer schwieg in den ersten Jahren. Gleich was Esthelion auch überlegte - nichts schien wirklich zu passen. Den Verfolger hatte er damals als eine zufällige Begegnung abgetan. Und wenn sie es nicht gewesen war? Es war so lang her. Vielleicht hatte dieser Ormur damit zu tun? Das wiederum hätte voraussetzen müssen, dass der Valkyn etwas wusste - dass er heute ebenso etwas wusste. Einen Moment verfluchte sich Esthelion, dass er nicht in Brulund geblieben war. Das Ecaloscop Skjöldburs konnte er nicht benutzen, und Derkos unterdrückte seine Zauberkunst. Und wenn erst das Schutzamulett für ihn fertig wäre, wüsste der Runenleser ohnehin jederzeit, wo er sich aufhielte. Genaugenommen war Esthelion also ein Gefangener ohne Ketten. Ein Gast unter steter Beobachtung. Er schmunzelte. Es war wie immer. Niemand vertraute ihm. Dies war schon immer seine Schwäche und gleichsam größte Stärke gewesen. Es machte das Lügen sehr einfach - aber heute, hier, hatte er nur die Wahrheit gesprochen, die unverfälschte Wahrheit. Während man ihn belog. Als er die Ironie in ihrer Gänze erfasste, musste er lauthals lachen.
"Es gibt hier Leute, die wollen schlafen", murrte Allyen.
Schlafen. Esthelion nickte kurz. "Verzeiht, Ihr habt recht."
Er schloss die Augen und fiel in seine Trance, wie es alle Ledharthien und Elaya vermochten. Aber nun rief er hervor, was er zuletzt im Krieg um die bretonische Krone eingesetzt hatte. Auf diese Weise hatten er und Aenthalas Kontakt aufgenommen. Darüber konnte er das Eis erreichen, wenn da noch eine Verbindung bestand. Er sah den Erstarrten Baum, die Felder von Thanryss und den Reifwald, die Eiswüste und die Klamm. Ein großer Mann, an der Seite baumelte ein Keule aus Knochen, stieg die Treppen des Schwarzen Walls hinauf. Im Tal, am Abstieg in die Klamm, war ein Heerlager. Valkyn waren dort zu sehen. Die Krähe der Vestfold. Ein Elementarwesen. Das Eis fand er nicht. Enttäuscht wollte er aufwachen, als er einen Schatten bemerkte, der in seiner Hand einen Bogen aus Eis trug. "Esthelion...", flüsterte der Jäger.
Varcus
Manchmal gönnte ihm die Herrin eine Pause. Dann lockerte Nour die Schrauben, die an dem Gestell um seinen Kopf befestigt waren und sich tief in seinen Schädel gruben wie die Maden, die sie ihm zu Essen gab. In diesen Augenblicken ließen die Schmerzen nach, und auch die Stimmen, die ihn sonst pausenlos plagten, wie auch das schrille Geräusch von kratzenden Fingernägeln, die über eine Schiefertafel schnitten, verschwanden für eine kleine Weile. Aber selbst dann, wenn er in der Lage war, nachzudenken, lag er wie ein Hund an Deck des Schiffes und fraß verdorbenes Fleisch. Als ihr Hund genoss er die Gaben und war so erniedrigt, dass er sich selbst für die Schmerzen und das abgestandene Wasser, versetzt mit Speichel, bedanken wollte - könnte er sprechen. Er kauerte sich zusammen, ließ seine Zunge herausbaumeln und lauschte dem Rauschen des Meeres, über das er von Tectaria nach Bretonia gekommen war; bereit, Dakhil Al Khan zu töten, Königin Theresia als Geisel zu nehmen und den Tod des Heiligen Vaters zu planen. In den lichten Momenten fragte sich Varcus, ob dies eine Strafe des Herrn wäre. War sein Weg der falsche gewesen? Nein, das war nicht möglich, denn das Sigillum Dei hatte eindeutig den Tod von Gregorianus befohlen. An die Legenden über den Fischer aller Fischer hatte Varcus nie geglaubt. Und die Rache an Dakhil für den Fluch, den er nur ihm zu verdanken hatte, konnte sie so falsch sein? Dakhil war gottlos, ein Heide, ein stinkender minderwertiger Mann, weniger wert als ein Wurm oder eine Schabe.
"Und du, was bist du?", fragte die Stimme, als Nour die Schrauben wieder in seinen Kopf bohrte. Der klirrende Ton, welcher die Worte begleitete, war wie Eis, das auf steinernen Boden fällt. Varcus schmeckte sein eigenes Blut, als er antworten wollte, aber nur das Bellen eines Gossenköters hervorbringen konnte. Er konnte die Antwort nur denken. "Ich bin Varcus, Präfekt Varcus. Diener des Herrn."
"Du hast Frauen geschändet und gequält, Mädchen gefoltert und verbrannt, Kinder geschlagen. Wie kannst du dem Herrn auf diese Weise dienen? Er ist ein Herr voller Liebe und Gnade."
Varcus sah einen Rosenstrauch, der in Flammen stand, aber nicht verbrannte. Für Tectarier war dies ein Zeichen, das von der Nähe eines Engels kündete. Aber Engel waren hier nicht. Nur die See, das Schiff, die Ketten und Schrauben. Und Nour, die Herrin ohne Gnade. Er sah auf seine gebrochenen Hände und Finger. "Gnade für die Schwachen?"
"Für alle, denn ich bin, der ich bin. Du willst mir ein Diener sein? Dann erkenne dich selbst. Erkenne, was du getan hast und was du tun musst, Sünder."
"Wenn ich ein Leben in Sünde geführt habe, was tut dann sie?", fragte er und meinte seine neue Herrin.
"Sie lebt nicht fromm. Auch sie ist in Sünde. Aber du hast ihr den Weg bereitet. Bald wird sie sehen, wie sehr sie irrt. Aber dann ist es vielleicht zu spät für dich."
"Ich will nicht sterben, und ich will nicht leben wie ein Hund", antwortete er und fühlte seine Scham, die stärker war als sein Wunsch, auszubrechen. Er war ganz unbekleidet, als Nour ihn unter Deck brachte, an ein Fass kettete und eine Kugel aus Metall in der Hand hielt. Er erkannte eine Mundbirne. Das Gerät aus Eisen hatte an den Seiten Flächen, die dank eines recht einfachen Mechanismus ausgeklappt werden konnten und immensen Schaden anrichteten. Nour stopfte ihm die Kugel in den Rachen, dann legte sie einen Finger an den Auslöser. Varcus hatte die Mundbirne in Tectaria benutzt. Insbesondere dann, wenn er eine der Hausdienerinnen genommen hatte, aber verhindern wollte, dass sie es seinem Vater berichten würde. "Du kennst es, nicht wahr?", fragte sie und lockerte mit der anderen Hand die Schrauben. Varcus spürte den Drang, sich zu verteidigen, sich zu verwandeln und der Hure die Kehle aufzureissen. Aber es gelang ihm nicht. Was ihn hinderte, war ein unbekannter Fluch, den er wie einen Kakerlak spürte, der durch seinen Kopf spazierte und sich darin erleichterte. Er roch Kot und Pisse, aber es war er selbst, der sich gerade erleichterte. Dann nickte er. "Ich gebe dich frei, wenn Erec uns braucht. Danach wirst du sterben. Aber du sollst mir nun sagen, was du weißt, was für ihn wichtig sein kann."
Varcus zeigte auf die Kugel, die ihn am Sprechen hinderte. Nour lachte. "Ich habe die Tür verschlossen. Aethel und Fynn werden dir nicht helfen können, wenn du schreist. Hast du mich verstanden?"
Er nickte, und sie nahm die Kugel wieder heraus. Vielleicht sollte er sich ja nur daran erinnern, was er den Mädchen im Haus seines Vaters angetan hatte. "Was willst du wissen?", fragte er, nachdem sie die Schrauben ganz entfernt hatte. "Alles. Angefangen beim Heiligen Vater, deinen Plänen mit ihm, dem Fluch von Mond und Nebel. Einfach alles. Vorzugsweise auch über das Sigillum Dei."
"Du weißt davon?", fragte er überrascht.
"Zhaerius hat davon gesprochen. Rede nun!", befahl sie.
Es war die Furcht vor weiteren Schmerzen, die ihn zum Reden brachte. "Das ist es, was ich weiß, darum kamen wir her", sagte er zum Schluss.
Nour tätschelte seinen Kopf. In dem Moment hätte er sie am liebsten erschlagen, aber es war ihm nicht möglich. "Das hast du gut gemacht. Ich habe schon lang keinen Mann mehr gehabt. Jeden anderen hätte ich nun beglückt, seinen Schwanz gelutscht und ihn anschließend in meine Lenden geführt. Aber du hast mir wehgetan, du hast mir Schmerzen bereitet, die ich nicht einmal Tysandra gewünscht habe. Schmerzen, die keine Frau spüren soll."
Gerade wollte Varcus etwas tun, was er nie erwartet hätte. Er wollte um Vergebung und Gnade winseln. Doch schon war die Kugel wieder in seinem Mund. Nour lächelte, als sie auf den Auslöser drückte. Die Seiten klappten auf, und verfehlten ihre Wirkung nicht, als nach einem metallischen Geräusch andere Töne angeschlagen wurden. Nach allen Seiten hin klappte Varcus Kiefer unter Gespei von Blut und Speichel auf. Erst war es ein Knarren in den Knochen, dann fielen die Zähne wie Eicheln heraus, am Ende brach der gesamte Kieferknochen, bis Varcus die Augen verdrehte und in Ohnmacht fiel.
Ormur
Er hatte die Krone, die Claudius ihm gegeben hatte, Mellwen zur Aufbewahrung gegeben. Dholon hatten sie in eine Starre versetzt, und Liurroccar zeichnete die Träume des Elaya auf. Ofeigur hatte erfahren, dass die Krieger des Winterkönigs Dholon auf eine Reise vorbereitet hatten, vermutlich zum Thron des Winters. Denn wenn der Winterkönig seelenlos war, dann suchte er wohl genau diese eine Seele, um vollständig zu werden. Immer wieder dachte Ormur an die Ereignisse von vor langer Zeit, wie ihm der Thron genommen wurde; wie das Eis die Krone zerbrochen hatte. Und plötzlich war dieser Diener des Meeres im Lager des Feindes aufgetaucht, und er hatte die Krone bei sich, die ihm angeblich Pytharas gegeben hatte - jener Mann, in dessen Körper der Geist Jorgans gefahren war. Es hatte sich herausgestellt, dass man Claudius betrogen hatte. Irgendjemand hatte sich als Pytharas ausgegeben, und das sehr überzeugend. Es war Ormur egal, wer dies getan hatte. Die Krone würde er nach seiner Rückkehr untersuchen lassen, und wer immer der Betrüger wäre, dieser Claudius würde bald schon den Blauen Turm Ghundras in Kenntnis setzen. Wichtiger für ihn war, dass der echte Pytharas irgendwo wartete. Worauf er wartete und wieso er sich noch nicht gezeigt hatte, das war etwas, das Ormur nicht verstehen konnte. Musste Pytharas nicht alle Antworten kennen? Er glaubte daran, dass Jorgan seinen Frevel bereute. Aber weshalb trat er nicht offen hervor, um zu büßen, zu helfen? Das Faulwasser suchte nach dem Mysterium, dem großen Geheimnis. Der Winterkönig marschierte, und das Eis war zurück. Der Schwarzstern versuchte, in das Mysterium zu gelangen. Die Krähenfrau, die Dholon einst verführt hatte, war gekommen - und Jorgan schwieg.
Also hoffte Ormur, der Hüter Alt-Blyrtindurs hätte Antworten. Immerhin hatte Erec berichtet, dass er die Zahlen enträtselt hatte. Sie ergaben nicht nur das Lied des Schwarzsterns, sondern ebenso eine Umkehrform. Als Erec das Lied spielte, erinnerte sich Ormur an die Lieder, die er gemeinsam mit Gylwar am Feuer gesungen hatte. Die Lieder, die Jorgan ihnen beigebracht hatte. Eines davon hatte von einem Jäger gehandelt, der den rechten Pfad verlassen hatte und sein Rudel getötet hatte. Er fragte sich nun, ob es der Jäger aus der Kälte war, von dem das Lied gehandelt hatte. Er, dem sein Name genommen worden war, den man verbannt hatte, nachdem er seine Mutter hatte vergiften wollen. Jorgan hatte ihm vor langer Zeit ein Bildnis gezeigt. Es war in einen Fels gebrannt worden. Ein Feuerberg war im Land erwacht, und nur der Grauwall, ein Neffe Varathessas, hatte ihn mit seinen Händen erstickt. Das schwarze Glas war seitdem im Wall zu sehen. Es hatte die Gestalt des Jägers in den Stein gemalt. Dunkel, groß, mit einem Bogen aus purem Eis. Aber wo war der Zusammenhang zwischen dem Lied, das Erec spielte und dieser Geschichte? Ormur wartete einen Moment, dann stellte er seine Frage. "Du hast dieses Lied aus den Zahlen entschlüsselt?"
Erec legte die Flöte zur Seite und gab Ormur einen Krug Met. "Ja. Ich habe mich lange damit befasst. Der Drudenfuß ist unendlich. Eine endlose wundersame Wiederholung des Gleichen. Gleich und doch nicht gleich. Ein Symbol, wie die Zahl 8, die für das Unendliche steht. Aber ungleich gewaltiger. Dort habe ich Geburtstage gefunden. Meiner, deiner, die unserer Freunde. Und viele andere. Einige sind auf dem Weg hierher. Sie überschneiden sich mit unseren."
"Was bedeutet das, Hüter?"
"Nenn mich einfach nur Erec. Ich weiß noch nicht, was es bedeutet. Aber es muss etwas Großes sein."
Ormur schüttelte den Kopf. "Ich nenne dich Hüter, weil dies deine Aufgabe ist. Wenn du Respekt erwartest, vor deiner Bürde, dann bestehe auch darauf, dass man dich so nennt. Ich wäre nie König geworden, wenn ich mir den Respekt nicht erarbeitet hätte, Hüter."
Erec lächelte. "Wie du möchtest. Ich selbst würde mich als einen Hirten bezeichnen. Ein Diener der Erde, Gwayan, nannte mich so. Um genau zu sein, er ging noch weiter..."
"Ach ja?", fragte Ormur verwundert. Es war, als wäre ein Teil seiner Suche zu einem Ende gekommen. Jorgan hatte von den Hirten gesprochen. Sie bewahrten das Geheimnis. Aber er beschloss, erst auf die anderen zu warten, bevor er dies offenbaren würde.
"Leider ist mir noch nicht klar, was dies bedeutet. Du siehst, es gibt viel zu ergründen. Aber wenn Aethel und Fynn hier sind, werden wir vielleicht mehr herausfinden. Ich hoffe, dass Nour sich zurückhält. Die Hüter werden ihr die Öllampe nicht geben."
"Die Waffe gegen den Schwarzstern", murmelte Ormur.
"Zhaerius. Der Mann in Schwarz. Ja..."
"Unser Volk betrachtet den Schwarzstern als ein großes Übel. Die Plagen, gleich welche, kommen von ihm. Er will das Geheimnis vergiften. Er sucht Erkenntnis für sich allein", erklärte Ormur dann.
"Das Mysterium darf niemals geöffnet werden. Ich bin mir sicher, ich war dort. Aber auch ich erinnere mich nicht daran. Aus gutem Grund, wie ich denke. Es ist nicht für uns Sterbliche gedacht."
Irgendwie gefiel ihm dieser Hüter. Dass Erec einer der Hirten war, behielt er aber für sich. Er konnte noch nicht ganz sicher sein. "So ist es. Es wurde nicht umsonst in der Leere geboren."
"In der Leere geboren?", fragte Erec mit Verwunderung in den Augen.
"Alles hat irgendwo einen Anfang. Selbst deine Götter, meine, und ja, auch das Geheimnis. So sagen es die Legenden meiner Heimat. In der Leere hinter dem Ende der Welt ist es geboren worden aus den Träumen der Träumenden. Ich nehme an, dies ist auch der Grund dafür, dass Traumleser in der Lage sind, die Tür zu erreichen. Es ist auch der Grund dafür, dass das Faulwasser sich erhofft, im Geheimnis die Antwort auf ihr Sein zu bekommen, Seelen zu bekommen. Ich habe dieses Wissen für mich behalten, lange. Ich habe es Jorgan versprochen. Aber er antwortet nicht - und jemand sollte davon wissen. Dir sage ich es, weil du eine Aufgabe hast", erklärte Ormur - damit wollte er seine Offenbarung, dass Erec ein Hirte war, vorbereiten.
Erec nickte leicht. "Ich sehe, es war weise, dich hierher einzuladen. Wollen wir ein paar Worte mit meinem Golem wechseln?"
"Wenn es notwendig ist..."
"Er hat Wissen, das uns helfen wird. Es muss einen Grund für die Überschneidungen geben."
Ormur ahnte den Grund. Sie alle waren Hirten. Sogar diese Nour und ihr Begleiter.
Der Mann in Schwarz
"Was soll mit ihr geschehen, wenn sie... fertig ist?", fragte der kahlköpfige Diener. Die Loyalisten der Zendavesta waren im Augenblick die einzigen, die ihm folgten. Nachdem der Mann in Schwarz die Malstromwesen geschaffen hatte, weit oben in den Himmeln Midgards, im Kreis der Zendavesta, waren die gezüchteten Krieger dieser magischen Kreaturen zu seinem Gefolge geworden. Sie dienten, ohne einen einzigen Befehl zu hinterfragen. Es waren nicht viele, vielleicht tausend. Aber es war genug für den nächsten Schritt. Die Malstromwesen folgten nun Caldorvan. Also musste der Mann in Schwarz seinen Plan ohne sie verfolgen.
"Wenn Yphilias Aufgabe getan ist, werde ich ihr geben, was sie immer wollte. Sie wird sterben. Ihr habt eine ganz andere Aufgabe. Ist der Traumdieb eingetroffen?", fragte er.
"Ja. Er wartet auf deinen Befehl, Meister."
"Bring ihn her."
Als der Loyalist zurückkehrte, in Begleitung einer schimmernden Gestalt, deren Augen so schwarz waren wie ihre Seele, die der Mann in Schwarz aus der Anderwelt gerufen hatte, roch der Mann in Schwarz den süßen Duft von Traumwasser. "Ich lasse dich gehen, wenn du mir einen Dienst erwiesen hast. Du sollst in den Traum eines Elaya eindringen. Sein Name ist Dholon. Raube mir seine Seele, und du darfst gehen. Bring sie zu mir. Wirst du tun, worum ich bitte?"
"Ich habe keine Wahl. Ich bin ein Geist, den man herbeirufen kann. Dies ist mein Los. Einst war ich wie die, die ihr Schatten aus der Anderwelt nennt. Nun bin ich zum Dienen verdammt", antwortete der Geist mit offener Verachtung für den Herrn aller Plagen.
"Gut. An die Arbeit!", rief der Mann in Schwarz und ließ den Geist von einigen Loyalisten bewachen.
"Warum benötigst du seine Seele?", fragte der Loyalist.
"Ich brauche weitere Verbündete. Und wenn der Winterkönig Dholons Seele, seine Seele, sucht, werde ich sie ihm anbieten. Im Gegenzug werde ich dafür sorgen können, dass seine Krieger ein bestimmtes Ziel angreifen und ebenso ein bestimmtes Angebot ausschlagen", erklärte der Mann in Schwarz. "Jetzt, da Tysandra marschiert und angreift, darf sie nicht noch mehr bekommen. Es reicht, dass Brylod und Garrilton ihren Worten verfallen sind. Die Schatten aus der Anderwelt dienen ihr. Sie ist die Krähe, sie ist Morrighan und ist es gleichsam nicht."
"Ich verstehe nicht, Meister."
"Unwichtig. Gehen wir zu Yphilia. Es ist Zeit."
Unter der Androhung, sie den gefangenen Werwölfen zum Fraß vorzuwerfen und mit der Erkenntnis, ihre Ziehtochter nie wiederzusehen, sollte sie nicht tun, was er will, war sie am Ende doch zu überzeugen gewesen. Der Mann in Schwarz betrachtete die Karte, die Yphilia angefertigt hatte. "Das sind alle Seitenarme und Kanäle?", fragte er.
"Ja. So will sie vorgehen. Wenn sie erfährt, dass ich schwach wurde, wird sie mich töten lassen", flüsterte die Gefangene und hatte tatsächlich Tränen in den Augen.
"Aber, aber... sie ist immerhin deine Tochter, in gewisser Weise. Sicher wird sie verstehen, dass du lebend mehr wert bist als tot. Sorge dich nicht, Yphilia", antwortete der Mann in Schwarz und lächelte.
"Was bist du...?", fragte sie.
"Ich? Ein bescheidener Mann. Im Gegensatz zu dir und Tysandra tue ich nur, was notwendig ist. Was schon lang hätte geschehen müssen. Weißt du wie lange ich darauf gewartet habe? All die Zeit. All die Jahre. Ich habe es bei Jorgan versucht, ich habe es bei Erec und Hrabanus versucht, sogar bei der Finsternis, bei Varcus und all den anderen. Und am Ende war es so leicht: Am Ende brauchte ich nur dich dafür."
"Du wirst mich nicht mehr gehen lassen..."
"Wer sagt das?", fragte der Mann in Schwarz und sah zum Loyalisten, der ihn fragend ansah, hatte er doch zuvor noch von Yphilias Tod gesprochen.
"All deine Worte klingen danach. Töte mich endlich. Aber verbrenne mich. Ich will keiner von ihnen werden."
Wieder lachte er. "Du hattest die Absicht, die Flüsse und Kanäle zu vergiften, alle zu infizieren, damit Tysandra als Heilerin die Gunst der wenigen Überlebenden gewinnt. Und nun weinst du und willst davor verschont werden, vor dem, was du allen anderen ohne Mitleid und Gnade antun wolltest?"
"Und du? Was ist mit dir? Du hast die Pestilenz erschaffen. Ohne dich wäre nichts von allem hier geschehen, nichts!"
"Ja, das könnte man so sehen. Aber als ich vom Aufmarsch des Winterkönigs und seines Klirrenden Heerwurmes hörte, da wurde mir klar, dass die Krähenfrau vor langer Zeit Dholon verführte, so wie ich Jorgan in Versuchung geführt habe. Ich glaube, das Schicksal will uns. Wir sind Gegner, in allen Zeiten, gleich wo wir sind. Und noch etwas bemerkte ich: Wenn das Eis zurück ist, das Dunkel vom Ende der Welt, dann ist es auch ein anderer."
"Wer?", fragte sie.
"Der Jäger aus der Kälte."
"Was... wer ist das?"
"Unwichtig für dich", sagte der Mann in Schwarz. Dann sah er zu seinem Diener. "Ist die Kammer vorbereitet?"
"Ja, Meister."
"Kammer, was für eine Kammer? Was hast du vor mit mir, Zhaerius?"
Er ließ die Gefangene in eine Kammer aus reinem Licht führen. Darum war eine Blase aus magischem Wasser. Etwas, das der Mann in Schwarz bei den Loyalisten gefunden hatte, als sie bereitwillig zu ihm gekommen waren. Sie sperrten Yphilia ein und lauschten ihren Schreien, als ihr Leben erlosch. Nach einigen Augenblicken öffnete der Loyalist die Kammer. Yphilia trat heraus. Ihr Haar hatte sie verloren. Sie sah den Mann in Schwarz an. "Meister?"
"Begleite meine Loyalisten nach Samariq."
Aran
War es die Macht der Zendavesta, die er aufgesaugt hatte? Ein Wink des Schicksals? Oder war es doch Leban, der immer noch ein Auge auf ihn hatte, selbst jetzt noch, da er ein Malstromwesen war? Aran kannte die Antwort nicht. Doch selbst als die anderen, Saban, Liranus, Lathias und die vielen Verwandelten Hrabanus noch ihren Gott genannt hatten, war ein Teil von Aran wenig davon überzeugt gewesen. Er war nicht darauf aus, selbst Macht zu erlangen - sein Ziel war es, zu bewahren, was noch menschlich an ihm war. Szynric musste es wohl geahnt haben, denn bei jedem Streit über die sinnlose Absicht von Liranus, eine Stadt an der Nebelküste zu errichten, hatte Aran betont, wie dümmlich dieses Vorgehen war. Wozu eine Stadt errichten und Kräfte verschwenden, wenn sie eingekreist waren durch den Pakt? Nordwestlich vom Eisenwall lag die Stadt, direkt an der Grenze war die Abtei, und jenseits der Marmorbrücke waren die Nordlande, prall gefüllt mit Nordmannen, die sicher nur darauf warteten, dass Elyarn den Pakt brechen würde. Die Armeen aus Bretonia, Midtjord und Tilhold würden nicht zögern. Und Wilderberg? Nördlich davon lag das Wilderland. Was, wenn die Drow - immun gegen die Verwandlung - sich entscheiden würden, die Festung von Szithlin aus anzugreifen? Wer wusste schon, ob es dort nicht irgendeinen verborgenen Tunnel gab, den niemand kannte? Sicher war lediglich Witrin. Der Blaue Turm war keine militärische Bedrohung, und die Magier der Tirinaither würden sich wohl kaum trauen, die Burg der Torbrins anzugreifen. Auch nicht mit keltischer Unterstützung aus dem Tiefenwald - denn keiner von ihnen wusste, wieviele Malstromwesen sich im Tal Beltain und an der Nebelküste versammelt hatten, bereit, die Burg zu schützen. Die Lage war nicht optimal, auch wenn Saban es nicht erkennen wollte. Genau wie Liranus war er ein blinder Verehrer des Weinenden Gottes gewesen, hatte den Worten des Propheten Zhaerius geglaubt, bis Aran endlich einen Beweis für dessen Lügen gefunden hatte.
Und nun? Nun folgten sein Bruder und alle anderen Caldorvan, seinem eigenen Vater, dem Untoten. Eigentlich war es nicht wichtig, was Aran vor Caldorvans Einfluss beschützte. Solange er es nicht bemerkte, lief alles hervorragend. Natürlich erkannte Aran die interessante Ironie: Wieder einmal hatte sein Vater alle Karten in der Hand, eine Armee im Rücken, die durch den Kampf selbst in einer Niederlage nur noch mehr Mannstärke erhielt - so wie es im Thronfolgekrieg bis zum Erscheinen Sicarions gewesen war - und wieder einmal stand Aran im Verborgenen gegen ihn. Wieder einmal würde kein anderer ihm glauben, ihn verachten wie eh und je, ihn hassen und als Übel dieser Welt betrachten. Im Thronfolgekrieg hatte Caldorvan eine Armee untoter Krieger geführt. Gefallene Krieger hatte er in seine Armee eingegliedert, so wie es jetzt auch geschehen war. Bis damals Sicarion Grauwind gekommen war, der tectarische Inquisitor und Usurpator. Er hatte Caldorvan die Stirn geboten und anschließend Hohenfels in Besitz genommen. Drei Tage hatte der Kampf um die Burg gedauert, und mit dem Tode Sicarions hatte auch der Bürgerkrieg ein Ende gefunden. Und jetzt? Wer würde ihm nun die Stirn bieten? Theresia? Baelon? Tysandra? Oder der Winterkönig und das Eis? Nein, Aran sah zu viele Parteien, zu viele Optionen. Und Aussicht auf ein Bündnis zwischen den verschiedenen Kräften bestand nicht. Außerdem war Caldorvan gerade dabei, seine militärische Macht auf dramatische Weise zu verstärken. "Bringt dies den Schatten aus der Anderwelt. Es ist ein Geschenk", hatte sein Vater befohlen, als er Saban eine Truhe übergeben hatte. "Was ist darin?", hatte sein Bruder gefragt. "Etwas, das sie überzeugen wird, an meiner Seite zu stehen. Und du Aran, du hast die Zauberkraft der Zendavesta. Da der Kreis nicht nur die Kuppel Samariqs erschaffen hat, sondern auch die Barriere, die sie in einen Käfig sperrt, wirst du sie befreien. Hast du mich verstanden, und wirst du tun, was ich dir sage?" "Ja, Vater", hatte Aran gelogen.
Als er und Saban den Weiher in den Kernlanden im Schutze der Nacht erreicht hatten, sahen sie mehrere Tirinaither, die am Weiher lagerten. Von den Schatten war nichts zu sehen. "Sieh nach, was dort geschieht", befahl Aran seinem jüngeren Bruder, und Saban wandelte sich zum Faulwasser und kroch wie eine flüssige stinkende Natter näher an den Weiher. Aran spürte, wie groß seine Verachtung war. Er verabscheute das, was sie geworden waren - und konnte es nicht ändern. Aber es gab vielleicht Verbündete. Nicht für Caldorvan, nicht für die Wesen des Malstroms. Für ihn. "Was hast du entdeckt?", fragte er, als Saban zurückgekehrt war.
"Die Schatten, sie sind fort. Die Zauberer sprechen Formeln. Sie suchen Spuren. Wenn wir sie verwandeln, wissen wir, was sie erfahren haben..."
"Nein. Das ist nicht unser Auftrag", knurrte Aran.
"Unser Auftrag ist es, die Armee zu vergrößern. Vater will es so. Sein Wort ist Gesetz. Er hat die Macht des Weinenden Gottes. Er ist der wahre Prophet!"
"Ach, Saban... Du warst schon immer ein leichtes Opfer", murmelte er.
"Was redest du da?"
"Nichts...", antwortete Aran, nahm einen Dolch und stieß ihn in Sabans Schädel. Sein Bruder zerfloss zum Faulwasser, um irgendwann irgendwo neu zu entstehen, wie sie es alle taten. Darum und weil Aran einfach genug davon hatte, empfand er kein Mitleid. Er bedauerte nur, dass er sich so früh schon gegen Caldorvan stellen musste, ohne Vorbereitung. Die Truhe öffnete er. Darin war Moos. Es roch wie Mutter Kelar. Aran verschloss das Behältnis wieder und trug es mit sich, als er sich auf den Weg nach Brulund machte.
Phaeron
Der Untote hatte die Macht über die Malstromwesen genommen - aber wie? Phaeron von Yren hatte so etwas wie einen Schicksalsschlag gespürt, als würden die Dinge sich grundlegend verändern. Welche Folgen diese Übernahme hatte, das konnte man zur Zeit nur ahnen. Während des Bürgerkrieges gegen das Haus Torbrin und seine Verbündeten war Phaeron ein junger Mönch gewesen, der sich kaum hatte vorstellen können, eines Tages Hohepriester zu werden. Nach der Schlacht bei Thyms Rast war er zusammen mit einigen anderen Mönchen von Torbrinern aufgegriffen worden. Im Krieg hatten stets die Regeln gegolten, dass Kaplane, Mönche und Priester, sofern sie sich nicht an den Kämpfen beteiligt hatten, unantastbar wären. Nicht in diesem Bürgerkrieg. Die Auseinandersetzungen zwischen den Häusern waren immer blutiger geworden, sodass gegnerische Armeen ihre Verluste mit allem aufstockten, was sie bekommen konnten; gleich ob es Kinder, Bauern oder Geistliche waren. Selbst Prinz Lerhon hatte zu diesen Maßnahmen greifen müssen: Es war nicht selten, dass einzelne Verbände aus zwangsrekrutierten Kämpfern bestanden. Phaeron hätte aber lieber in Lerhons Reihen gestanden als in Torbrins.
"Da an die Wand. Ausziehen. Streckt die Arme aus", brüllte der Peitschenschwinger. Von ihm sagte man, er wäre einst ein einfacher Knecht gewesen, der statt Menschen Vieh getrieben hatte. Jetzt war er Torbrins Knecht geworden. Die Gefangenen befolgten den Befehl. Denn was geschehen würde, wenn man auch nur zögerte, hatte der Peitschenschwinger an Melnas bewiesen. Der junge Mönch hatte sich geweigert, ein Schwert zu tragen. Der Peitschenschwinger hatte ihm erst ein paar Narben verpasst, um ihn dann in einem Trog zu ertränken. Einfach so. Melnas war fünfzehn gewesen.
Phaeron befolgte jeden Befehl. Soldaten übergossen ihn und die anderen mit Essig, dann warfen sie ihnen Schwämme zu, dass sie sich reinigten. Danach kam eiskaltes Wasser. "Euren Kameraden haben wir die Rüstungen abgenommen. Kleidet euch an, Soldaten! Willkommen in der Miliz!", rief der Peitschenschwinger. "Heute habt ihr Glück, Lord Torbrin wird euch persönlich begutachten."
Als Phaeron und die anderen die viel zu schweren Rüstungen angelegt hatten, kam eine Gruppe Reiter in das Feldlager. An der Spitze ritt ein großer kräftiger Mann mit Spitzbart und einem dunklen Schwert an der Seite. Es war Caldorvan, der dem Prinzen die Treue versagte. Die Zügel seines Rappen, den er 'Tod' nannte, drückte er einem Knappen in die Hand.
"Mylord, wir haben Beute gemacht", sagte der Peitschenschwinger und präsentierte ihm die Geistlichen, die er mit Keulen hatte bewaffnen lassen. Was für ein klägliches Bild sie abgaben, konnte Phaeron leicht aus den Augen des Lords lesen und noch leichter an seinen Worten hören: "Damit soll ich also einen Krieg gewinnen", stellte Caldorvan fest.
"Soll ich sie stärker bewaffnen?", fragte der Peitschenschwinger. Die Dummheit seiner Worte spiegelte sich in seiner aufgedunsenen Fratze und den blutunterlaufenen Augen.
"Damit ich sie an einen Wanderzirkus verkaufen kann?", fragte Caldorvan und schüttelte den Kopf. "Nein, so ist es recht. Stellt sie in die vorderen Reihen, dass ich sie nicht wiedersehen muss."
"Ihr habt es gehört, Maden! Ab mit euch, meldet euch bei den Speerträgern!"
Gerade hatte Phaeron sich in sein neues Schicksal als Bauernopfer gefügt und folgte den anderen, da packte ihn jemand an der Schulter. Es war Caldorvan, und er sah ihm direkt in die Augen. "Du nicht."
"Mylord?"
"Wie ist dein Name, Mönch?"
"Phaeron ist mein Name."
"Du bist Trellorns Sohn. Wie geht es Lord Yren? Hat er immer noch nicht gesehen, dass meine Sache gerecht ist?"
Phaeron wusste keine richtige Antwort. "Krieg ist niemals gerecht, Mylord."
Caldorvan lachte. "In mein Zelt mit ihm."
Ein paar Augenblicke später, man hatte ihm die Waffe abgenommen, fand Phaeron sich im Hauptzelt wieder, allein mit Lord Torbrin, der sein Schwert auf einen Tisch legte, sich selbst der Rüstung entledigte und beiden einen Krug Wein füllte. "Trink."
Phaeron befolgte den Befehl. "Danke, Mylord."
"Du hast mir nicht geantwortet, Yren."
"Mylord?"
"Du hast gesagt, Krieg sei niemals gerecht. Wenn der Anlass gerecht ist, dann ist der Krieg es auch", sagte Caldorvan mit seiner harten kalten und unverwechselbaren Stimme.
"Wie Ihr meint, Mylord", antwortete Phaeron und trank noch einen Schluck Wein. Er hatte nicht die Absicht, ihm zu widersprechen.
Caldorvan schmetterte die Faust auf den Tisch. "Antworte mir."
Er zögerte. "Mylord?"
"Du sollst sagen, was du denkst! Du bist ohnehin meine Geisel. Was könnte dir Schlimmeres passieren?"
Phaeron dachte an Melnas. "Ich habe da durchaus gewisse Ideen."
Wieder lachte Caldorvan. "Meine Männer sind Dummköpfe. Ich würde euch Mönche laufenlassen oder töten, aber nicht in den Kampf hetzen. Doch Lerhon lässt mir keine Wahl."
"Und da sagt Ihr, der Krieg und Eure Sache wären gerecht?", fragte Phaeron mutig.
"Erkläre das."
"Ihr verweigert dem Prinzen die Treue. Er besitzt Anspruch auf den Thron. Woher kommt der Eure? Verzeiht meine Offenheit."
"Ich habe dir erlaubt, zu sprechen. Und darum antworte ich dir auch: Mein Anspruch begründet sich auf verschiedene Punkte, die ich alle vorgebracht habe. Aber man wollte mich nicht anhören. Zuerst: Wo ist Samgard? Wo ist des Königs Schwert?", fragte Caldorvan.
"Man munkelt, Ihr hättet es geraubt, Mylord..."
Caldorvan trank einen großen Schluck. "Zweitens, sage mir", fuhr er fort, ohne auf den Vorwurf zu antworten, "es besteht eine Verwandschaft zwischen dem Hause Breton und meinem Haus. Aber Lerhon weigert sich, mir eine Position am Hof zu geben. Es steht mir zu. So will es das Gesetz. Ich verlange, was mir gehört!", polterte er, als würde er sich vor Phaeron rechtfertigen müssen.
"Und ist dies nicht etwas, das Ihr mit ihm besprechen müsst und nicht in einem Krieg ausfechten solltet? Tausende Unschuldige fallen jeden Tag."
"Niemand ist unschuldig", brummte er.
"Vor den Göttern sind wir es."
"Das ist Ansichtssache."
"Sind dies all Eure Punkte? Ich bin erstaunt. Ich hätte mit mehr gerechnet", sagte Phaeron vorsichtig. Die gute Stimmung Caldorvans könnte jeden Moment umschlagen.
"Es gibt einen weiteren. Aber es ist spät geworden. Ich benötige Ruhe. Bete zu den Göttern, dass sie dich für unschuldig halten. Dann wirst du den morgigen Tag in der ersten Reihe vielleicht überstehen."
Phaeron glaubte nicht, was er da hörte. "Mylord..."
"Was willst du noch?"
"Ihr sagtet, ich wäre eine Geisel. Wäre es nicht sinnvoll, mich am Leben zu halten?"
"Du fürchtest dich? Deine Zuversicht in die Götter ist nicht sehr groß, hm?", spottete Caldorvan.
"Ihr könntet mit meinem Vater verhandeln und ihm Eure Gründe nennen. Der dritte Grund muss wahrlich überzeugend sein..."
Caldorvan sah ihn eine Weile an. Jeden Moment könnte er einen seiner berüchtigten Ausbrüche bekommen. Aber er blieb ruhig. "Vielleicht."
Die Stimme des Nordmärkers riss Phaeron aus seinen Erinnerungen. "Wir sind da."
Phaeron nickte seinem Begleiter zu, stieg vom Pferd und verabschiedete sich. Dann näherte er sich der Feste Lord Dagharns.
Baelon
Er ritt an der Spitze seiner Männer. Emes führte die rechte Flanke an, die ausschließlich mit Bretonianern besetzt war. Auf der linken Seite ritten Sir Theornon, Roymar und Lady Hlifa mit den Truppenverbänden aus Hohenfels. Stunden hatten sie darüber beraten, was die beste Lösung wäre. Theornon hatte vorgeschlagen, nicht einzugreifen. "Wenn wir das tun, brechen wir unter Umständen den geschlossenen Pakt, ohne es mit Absicht zu tun. Es ist eine Frage der Deutung, Mylord", hatte er gemahnt. Emes war ganz anderer Ansicht gewesen: "Ist er nicht ohnehin schon gebrochen? Mit dem Angriff auf die Festung wurde alles, was vorher als besiegelt galt, vernichtet. Was sagt Ihr dazu, Lord Brioless?"
Martus von Brioless hatte in dieser Sache ein erhebliches Mitspracherecht. "Es geht hier nicht mehr um den Pakt. Jetzt geht es darum, dem Gegner die Stirn zu bieten."
Lethos Mercutio nickte bedächtig. "Wir müssen uns fragen, welchen Schritt sie als nächstes tun. Ich habe bereits versucht, mit Lord Caldorvan in Verbindung zu treten. Entweder haben seine Fähigkeiten sich exponentiell gesteigert oder jemand verhindert einen Kontakt."
"Jemand?", fragte Baelon.
"Es ist möglich, dass der Mann in Schwarz... dass Zhaerius von Maegranth einen Weg gefunden hat, den Untoten entgegen unserer Meinung doch noch zu beherrschen. Oder es ist Tysandra."
Emes schüttelte den Kopf. "Dann wäre aber ein Angriff unnötig gewesen."
"Das ist korrekt", murmelte Theornon, "in dem Fall wäre es unherheblich gewesen. Wir dürfen nicht vergessen, wer hier marschiert ist. Sie hat sich ganz und gar rausgehalten."
"Zumindest offiziell", brummte Hlifa, "sie ist allerdings auch beschäftigt."
Emes hob eine Braue. "Ach ja?"
"Wir erhielten eine Nachricht von meinem Bruder. Also beobachten wir den Eingang zu einem alten Fluchttunnel. Einst war er wohl eine Verbindung zwischen Hohenfels und der Straße nach Thyms Rast. Ist aber schon lange verschüttet. Man hat gesehen, wie Tysandra den Tunnel betreten hat. Wir warten aber noch. Vielleicht finden wir noch heraus, was da vor sich geht."
"Interessant. Nun, was haltet ihr alle für die beste Entscheidung? Es muss etwas getan werden", sagte Baelon.
"Ich sage, wir greifen an", antwortete Brioless. Dass er so entscheiden würde, war für Baelon keine Überraschung. Hier ging es immerhin um Wilderberg.
Theornon schüttelte den Kopf. "Das wäre gedankenlos, mit Verlaub. Noch gab es keine Reaktion Caldorvans auf den Angriff. Wenn er tatsächlich die Malstromwesen nun anführt, dann betrifft es ihn. Außerdem sehe ich für ihn keinen Grund, den Pakt mit Bretonia zu brechen."
"Er war schon immer darauf aus, dem Hause Breton zu schaden", erwiderte Emes.
"Ja, aber er hat es nicht getan. Im Moor hatte er die Gelegenheit, ein Artefakt an sich zu bringen und im Gegenzug einen Platz in Tysandras Hofstaat zu erhalten, sollte sie - was wir verhindern werden - tatsächlich zum Thron des Reiches vordringen. Aber das ist nicht passiert. Es kam zum Kampf gegen ihn, aber er hat ebenso die Söldner Yphilias angegriffen", erklärte Hlifa.
"Wo wir gerade davon reden: Wo befindet sich Yphilia Crenn?", fragte Baelon dann.
Hlifa trank noch einen Schluck Wein. "In der Gewalt von Zhaerius. Warum, wissen wir nicht."
"Wer hat die Attacke auf Wilderberg in Brylods Namen angeführt? Jemand von Crenns Leuten?", fragte Emes.
"Soweit wir wissen, nein. Es war ein Heermeister von Brylod", erklärte Brioless.
Dann brach Roymar sein Schweigen. "Wenn wir jetzt Wilderberg angreifen, werden so viele weitere Malstromwesen aus unseren und deren Gefallenen entstehen, dass die Feste bald wieder unter Caldorvans Kontrolle ist - sollte er die Wesen anführen, und danach sieht es ja aus. So betrachtet brechen wir keinen Pakt, wenn wir marschieren. Aber letztlich werden wir nichts gewinnen."
Theornon und Hlifa stimmten ihm zu. Der Lethos schien nachzudenken. Emes hingegen antwortete sofort: "Wollt Ihr damit sagen, dass es am Ende gleich ist, welcher Eroberer die Festung hält?"
Roymar nickte leicht. "Ist es nicht so? Ich sehe keine großen Chancen. Es würde uns schwächen, wenn wir nun marschieren. Außerdem könnte Caldorvan es ausnutzen, dass wir Kräfte von der Nordgrenze her abziehen. Die Stadt wäre nackt, sie wäre Eisenwall ausgeliefert. Und dort hat Caldorvan Tausende Malstromwesen, Geschütze und weiß Liras welche Ungeheuer noch."
"Das setzt voraus, dass Caldorvan keinen Wert mehr auf den Pakt legt", gab der Lethos erneut zu bedenken. "Aber ich möchte dennoch anmerken, dass in dem Falle auch die Abtei zwar nicht gänzlich ungeschützt, aber durchaus ein Ziel sein würde. Lord Phaeron ließ mir eine Nachricht zukommen, nachdem er sich mit Lord Dagharn besprochen hatte: Er ist davon überzeugt, dass Caldorvan den Stab der Erschaffung an sich gebracht hat. Er muss auf der Insel der Finsternis gewesen sein. Fest steht, der Untote hat Pläne. Welche, kann man jetzt unmöglich voraussagen. Zwar bin ich dafür, dass wir handeln, aber es muss mit Weitsicht geschehen."
Brioless schlug die Faust auf den Tisch. "Hier geht es um den Sitz meiner Familie!"
"Ja. Und zu welchem Preis wollt Ihr jetzt in eine Schlacht ziehen? Gingen die Gefallenen in Lebans Hallen ein, dann würde ich sagen: Jeder Soldat weiß, was geschehen kann, was die Risiken im Kampf sind. Aber jeder Soldat wird nicht sterben, sondern sein wie die Malstromwesen, unter Caldorvans Befehl. Die des Reiches genau wie die Soldaten Brylods", sagte der Lethos. Und Brioless senkte schweigend das Haupt.
Baelon betrachtete ihn einen Augenblick. Die Familie Brioless, eine der ältesten Blutlinien Tectarias, hatte dem bretonischen Reich immer treu gedient, ohne Vorbehalte. Martus wäre der perfekte Kanzler gewesen, aber im Thronfolgekrieg hatte er klargestellt, dass er keinerlei Ansprüche stellte. Er wollte dem Reich an vorderster Front dienen, wie er es immer getan hatte. Und nun war er ein Mann ohne Besitz.
"Lord Brioless, wir alle verstehen Euch. Aber Ihr müsst ebenso erkennen, dass wir zwar gute Chancen haben, Wilderberg zu befreien. Aber wir werden sehr viele Männer an Caldorvan verlieren. Ich halte das für ein sehr großes Risiko. Das ist einer der Gründe, weshalb ich Lord Dagharn befohlen habe, weder Brylod noch Garrilton anzugreifen."
"Ich verstehe das, Mylord. Wirklich. Aber es ist schwer, tatenlos mitanzusehen, was hier geschieht."
"Ja, das ist es. Wir sind momentan verdammt, nichts zu tun, sondern abzuwarten", sagte ausgerechnet Theornon, der nicht unbedingt Konfrontationen scheute.
Emes nickte langsam. "Wir dürfen eines nicht vergessen: Einzig Brylod hat Wilderberg angegriffen. Nicht Garrilton, nicht Tysandra, nicht die Söldner Crenns. Nur Brylod."
"Heißt"?, fragte Baelon, auch wenn er sich die Antwort denken konnte.
"Es bedeutet, dass der Feind eine ganz bestimmte Strategie verfolgt hat. Er hat kalkuliert. Da Brylod mit Tysandra verbündet ist und da die Söldner der Witwe ebenso Tysandra folgen, hätten sie mit einer noch größeren Streitmacht vorgehen können, als sie die Malstromwesen in Wilderberg angegriffen haben. Das haben sie aber nicht. Stattdessen gingen sie das Risiko ein, zu scheitern. Dass sie jetzt die Festung halten, ist ein erfreulicher Nebeneffekt für Tysandra. Ich sage: Mit purer Absicht hat ausschließlich Brylod angegriffen. Um den Pakt zu brechen. Denn aus Caldorvans Sicht ist Brylod Teil des Reiches. Für uns ist er ein elender Verräter, aber nicht für ihn. Es ging um den Pakt."
Baelon sah durch die Runde. Allgemeine Zustimmung war zu erkennen. Wie sehr wünschte er sich nun seinen Vater herbei. Aber Allyen war immer noch in Midgard. Und was man von dort gehört hatte, war wenig ermutigend: Malstromwesen und die Krieger des Winterkönigs führten dort Krieg, und die Menschen waren dazwischen. Das Eis war zurück, und es schien die Winterkrieger zu führen. Aber Wünsche wurden selten wahr. Lariena war eine große Ausnahme. Er hatte ihr Herz erobert, und sie seines. Doch dafür war nun keine Zeit. So hatte er sie gebeten, ein Auge auf Alysare zu halten, bis er zurück wäre.
"Wir sind uns also einig? Lord Brioless?"
"Ja, das sind wir", antwortete er matt.
"Dann ist unser Ziel nicht Wilderberg, sondern der Eisenwall. Wollen wir sehen, ob sie uns einlassen, um mit ihrem neuen Herrn zu sprechen!"
Als sie schließlich die Grenze erreichten, erschienen gleich mehrere Malstromwesen. Einst waren sie vielleicht Milizionäre gewesen, Händler, Bauern oder Handwerker. Und nun waren sie die Erben der Finsternis, die dem dienten, der vor vielen Jahren Lerhon die Treue versagt hatte.
"Was willst du, Kanzler? Noch einmal den Pakt brechen, den du ausgehandelt hast?", fragte eines der Wesen und sah ihn mit leeren Augen an.
"Nein. Aber ich bin bereit, mir den Weg freizukämpfen, bis ich deinen Herrn gefunden habe!"
Noch mehr Wesen kamen. Sie zogen ihre Waffen. Bald standen sich zwei Armeen gegenüber.
Gwayan
Sie hatten einen weiteren Angriff überstanden. Es waren viele Krieger des Winterkönigs gewesen, aber nun hatten Gwayan, die Alte Krähe und das Elementar Beistand. Gemeinsam mit Wyreg und seinen Kriegern hatten sie die Angreifer in die Flucht geschlagen. Nachdem Wyreg die kleine Schar in der Höhle gewittert und aufgespürt hatte, waren sie durch die Klamm gezogen, um in einem Lager, das noch Gylwar vor langer Zeit errichtet hatte, Kraft zu schöpfen. Gwayan hatte Wyreg auf dem Weg den Grund ihrer langen und beschwerlichen Reise erklärt. Wyreg war der Sohn Gylwars, der seinerseits der Heermeister des rechtmäßigen Winterkönigs war. "Ormur ist der wahre König. Ihm dienen wir", hatte Wyreg erklärt. Dann war seinen Worten die Geschichte Ormurs gefolgt. Einst war er bloß einer von vielen Jägern gewesen, die durch das Schelf, das sie Jorgans Rücken nannten, wanderten. Wenn Wyreg von Ormur sprach, dann veränderte sich die tiefe brummende und kehlige Stimme in eine höhere Tonlage, die von Ehrfurcht zeugte. Die Männer im Heerlager schwiegen und lauschten der Geschichte, als würde sie ihnen das erste Mal erzählt werden, obwohl sie ihnen sicher mehr als nur bekannt war. Wyreg nahm noch etwas Fleisch vom heißen Stein, trank etwas und sprach leise weiter.
"Sein Name war nicht immer Ormur gewesen. Seine Eltern tauften den kräftigen Welpen Varungar. Schon früh lernte er die Kunst der lautlosen Jagd und des waffenlosen Kampfes. Als er zehn mal zehn Monde zählte, erschlug er einen Riesen im Zweikampf. Aus einem Rippenknochen fertigte er die Waffe, die er heute noch trägt. Nach dem Tod seines Vaters machten drei große Valkyn ihm den Platz des Anführers streitig, aber den ersten erschlug er, den zweiten warf er gegen einen Fels und den dritten besiegte er, aber er verschonte ihn und machte ihn zu seinem Heermeister - seitdem dient mein Vater ihm treu. Das Rudel wanderte viele Monde über Jorgans Rücken. Und in einer Nacht schien der Mond hell, und der Nebel kam. Beide vereinten sich und stiegen in das Herz unseres Königs. Sie schenkten ihm die Gabe, die Sprache der Menschen, die gerade selbst sprechen lernten, zu verstehen. Alle fühlten, dass Varungar zu Höherem bestimmt war. Mond und Nebel zu beschützen, das große Geheimnis zu beschützen, das ihr Mysterium nennt. Sie haben ihm gesagt, dass er ein Hirte wäre. Ein Hirte seines Volkes, ein Hirte vom großen Geheimnis und ein Hirte des Landes, in dem es seinen Anfang hat. Aber sie sagten auch, dass es Hirten in anderen Völkern geben würde, auch unter den Menschen. Und eines Tages würde man ihn rufen. Aber der Tag war in dieser Nacht noch fern. Im Morgengrauen hörte er eine weitere Stimme. Es war das Land, es war Jorgan, der zu ihm sprach und ihm alles beibrachte, was er wusste. Von seinen Geschwistern hat er gesprochen, von Marja, Tector und allen anderen. Und das Land krönte Varungar zum Winterkönig, der den Weißen Wolf und die Klirrende Krone behüten sollte - für den Kampf gegen das Faulwasser. Denn das Faulwasser, vom Schwarzstern in die Welt gebracht, es würde das Geheimnis vergiften, wenn es nicht aufgehalten werden würde. Als Jorgan fiel, erkannte Varungar, dass es der Schwarzstern war, der ihm seinen Lehrmeister genommen hatte. Und als der Winterkönig den Thron raubte, da sah Varungar das Eis, wie es seine Krone zerschmetterte. So zog Varungar mit seinem Gefolge durch das Land, auf der Suche nach den anderen Hirten vom großen Geheimnis. Sein Weg führte nach Blyr. Ob er dort einen Hirten gefunden hat, können wir nur erahnen. Aber seinen Namen trägt er heute nicht mehr. Heute nennen wir ihn Ormur, denn mit bloßer Hand hat er eine Seeschlange erwürgt, die ihn und die anderen töten wollte, auf dem langen Weg über das gefrorene Meer. Diese Schlange war eine alte Bestie aus den Kriegen zwischen den Elfen und Zwergen. Der Verstand der Bestie war von Dholon vergiftet worden. Dholon, der erste Elaya, den Ormur getötet hatte, denn er war vom rechten Pfad abgekommen und hat seinesgleichen geopfert für die Krähenfrau. Es war die erste Elayafrau, die Dholons Tod wollte, um ihr Volk und auch alle anderen zu schützen. Aber weil Mellwen in Gefahr war und es nicht über ihr großes Herz bringen konnte, Dholon selbst zu töten, hat Ormur es getan. Wir Valkyn halten wenig von den Haarlosen, aber diese eine Frau hat unserem König viel bedeutet. Also ehren wir sie, in dem wir einen der Monde nach ihr benannt haben. Heute nacht ist Mellwen-Mond", sagte Wyreg und zeigte auf den Vollmond.
Gwayan schwieg lange, um die Andacht der Krieger nicht zu unterbrechen. Als einige wieder aßen und tranken, ergriff er endlich das Wort. "Es ist möglich, dass Ormur einem der Hirten begegnet ist. Sein Name ist Erec. Ich kenne ihn."
"Erec? Den Namen haben wir schon einmal gehört", antwortete Wyreg.
Das Elementar hielt Wache, und die Alte Krähe saß auf seiner Schulter. "Tatsächlich?", fragte sie verwundert.
"Eine Frau hat diesen Namen ausgesprochen. Vor langer Zeit, als Jorgan schon gefallen war, als die schwarze Quelle im Süden entstand."
"Wo ist diese Frau jetzt? Ich muss sie sehen", sagte Gwayan. Vielleicht hatte sie noch mehr Antworten auf die tausend Fragen, die ihn und die anderen bewegten.
"Ihre Antworten sind immer mit einem Preis verbunden, Gwayan. Bist du dir also sicher?"
"Ja, das bin ich. Unsere Reise war beschwerlich, wir sind weit gekommen. Aber noch lang nicht am Ziel."
"Ich führe dich morgen zu ihr", sagte Wyreg und nickte.
In der Nacht sangen die Valkyn fremdartige Lieder. Gwayan konnte kein Wort verstehen, und doch wusste er, dass sie alle von Ormur handelten, vom Thron des Winters und Jorgan. Dass das Mysterium hier irgendwie seinen Ursprung hatte, wunderte ihn nicht. Alle Wege schienen hoch in den Norden zu führen. Er fragte sich nur, was sie wirklich dort erwarten mochte. Am nächsten Morgen brach er gemeinsam mit Wyreg auf. Vom Lager aus wanderten sie ein paar Stunden ostwärts, bis sie die Felswand erreichten. "Dies ist der Schwarze Wall", erklärte Wyreg und zeigte hinauf. Zwischen den glatten kahlen Gesteinen waren Adern aus Obsidian zu sehen. Der Berg war nicht schwarz, sondern eher grau. Dazwischen lagen schwarze Streifen aus Vulkanglas. Als hätte der Wall einen feurigen Berg mit bloßer Hand zum Erlöschen gebracht. "Siehst du den Aufstieg dort?"
"Ja", antwortete Gwayan, nachdem er dem Blick Wyregs gefolgt war und eine steile Treppe entdeckt hatte. "Dort ist sie?"
"Dort lebt sie. Ich werde hier unten auf dich warten. Sei vorsichtig. Sie ist sehr alt", sagte Wyreg und gab ihm etwas Wasser mit.
Gwayan stieg die glatten Stufen hinauf. Das Vulkanglas glänzte im fahlen Zwielicht, das sich über Jorgans Rücken wie ein Wintermantel ausbreitete. Es dauerte fast zwei Stunden, da fand er eine Öffnung im Wall. Dort endete auch die Treppe. Fackeln aus Eisen entzündeten sich wie von Geisterhand, und Gwayan fühlte die Wärme der Erde, die bis nach oben in die Höhle stieg. Es war ein natürliches Gewölbe, geformt von Lava und Feuer. Langsam folgte er dem Pfad. Obsidian war überall in den Wänden. Die Waffe gegen das Eis. Ob es sich an diesen Ort wagte?
Am Ende des Ganges breitete sich die Höhle aus, die in der Mitte durch einen scharlachroten Vorhang geteilt war. Er blieb stehen und wartete. Das Brodeln der Erde und ein dumpfes Grollen waren zu hören. Plötzlich spürte er, wie etwas an seinen Füßen krabbelte. Ein Salamander, hier in Eis und Schnee? Gerade wollte er die kleine Echse aufheben, da hörte er die Stimme einer Frau. Sie war tief und zischend, aber dennoch weiblich, verführerisch und abwartend. "Berühre ihn nicht - oder ich werfe dich den Wall hinab wie einen Stein."
"Wer spricht dort?", fragte Gwayan, als er einen Schatten hinter dem Vorhang sah. Der Schatten wurde etwas kleiner, als er sich näherte. Dann sah er ein gelbes Augenpaar, wie es sich aus der Dunkelheit des hinteren Gewölbes näherte. Er erkannte einen Kopf, schwarz, etwas lang gezogen. Darunter war ein dunkler Körper, an dessen Ende der Leib einer Schlange zu sehen war - alles dunkel, denn das Licht der Fackeln konnte nur einen Teil der Höhle erleuchten. "Komm nicht näher, Diener der Erde", zischte die Schlangenfrau.
Er rührte sich nicht. "Ich habe viele Fragen."
"Du hast nur eine einzige Frage."
Gwayan verstand nicht. "Wir sind einen weiten Weg gegangen. Der Thron des Winters... es ist Zeit, ihn und den Weißen Wolf zu befreien."
"Ist es das... ist es das...", zischte sie.
"Es ist meine Überzeugung. Wenn du nicht helfen kannst oder willst, dann werde ich einfach gehen", brummte Gwayan.
"Niemand kommt oder geht ohne meine Erlaubnis."
"Wer bist du?"
"Du hast nur eine einzige Frage", wiederholte sie.
"Du erlaubst mir nur eine?"
"Nein. Aber du hast nur eine einzige Frage", sagte sie wieder. Sie zischte, und schwarze Arme hielten sich am Vorhang fest.
"Aber es sind so viele Dinge, die wir noch nicht wissen."
"Nein. Nur eine einzige Frage bewegt dich. Eine, die du noch nicht kennst. Aber du willst die Antwort wissen."
Und ohne dass er sich irgendwann erinnert hätte, wie er auf die eine Frage gekommen war, stellte er sie doch: "Was ist das Ziel des Jägers aus der Kälte?"
"Alles hat seinen Preis", zischte die Schlangenfrau.
"Nenne ihn."
"Wie lautet der Name deiner Mutter?"
Gwayan wollte Mutter Erde nicht in Gefahr bringen. "Das darf ich nicht sagen."
"Dann verschwinde, und finde die Antwort anderswo!", krächzte sie. Der Vorhang zitterte.
"Nenne einen anderen Preis. Mutter Erde ist das, was ich beschütze."
Die Schlangenfrau lachte. Für einen Moment brannten die Flammen heller. Gwayan erkannte, dass der ganze Körper aus Obsidian war. Die Augen der Schlangenfrau waren in Wahrheit kleine Flammen, die in einem spitz zulaufenden Gesicht züngelten, das entfernt an eine Mischung aus einer Frau und einer Schlange erinnerte. "Dann bist du nicht gut darin, sie zu schützen. Denn sie ist auf dem Weg hierher. Sie hat beinahe den Reifwald erreicht."
"Was? Warum tut sie das? Was willst du ihr antun?", fragte er beunruhigt.
"Nichts. Aber ich möchte ihren Namen wissen, falls sie hierherkommen sollte. Sie und ich, wir sind alte... Freunde. Aber ihren Namen nannte sie nie. Da sie aber meinen kennt, möchte ich den Nachteil ausgleichen. Ein geringer Preis, findest du nicht?"
"Ich warne dich. Sollte ihr etwas geschehen, dann komme ich zurück. Und wir werden nicht reden. Ich werde dich mit aller Macht bekämpfen."
"Wir stehen auf derselben Seite. Es gibt keinen Grund für Hass oder Zorn", zischte sie, als die Flammen wieder kleiner wurden.
"Kelar. Ihr Name ist Kelar, wenn sie in menschlicher Gestalt reist."
Der Vorhang verschwand plötzlich. Die Gestalt kam näher. Gwayan nahm die Keule in die Hand. Er war bereit, sich zu verteidigen. Aber die Schlangenfrau, die ihn um mehr als einen Schritt überragte, beugte sich vor und flüsterte die Antwort auf die gestellte Frage in sein Ohr. "Jetzt... jetzt darfst du gehen."
"Hast du Antworten bekommen?", fragte Wyreg, nachdem Gwayan die Treppe hinabgestiegen war.
"Ja. Ich muss unseren steinernen Begleiter in den Reifwald schicken. Mutter Kelar ist auf dem Weg hierher. Sie darf nicht in die Hände des Winterkönigs gelangen."
Wyreg nickte. "Ein paar meiner Männer werden das Elementar begleiten. Auf welche Fragen hast du eine Antwort erhalten, Gwayan?"
"Der Jäger aus der Kälte... ich weiß, was er will. Wer er ist."
"Er war ein Bruder Jorgans, der Varathessa verraten hat. Das wissen wir bereits", sagte Wyreg.
Gwayan nickte. Als er ihm dann erklärte, wie die Antwort auf die Frage gelautet hatte, sah er denselben entsetzten Blick, den man wohl auch bei ihm selbst gesehen hätte. Es war mehr als das. Es war eine Erschütterung von allem, was alle bisher zu wissen glaubten und niemals hinterfragt hatten. Als sie wieder das Gylwar-Lager erreichten, war aus dem Zwielicht finsterste Nacht geworden. Es war, als würde Jorgans Rücken die Antwort ebenso gehört haben und bereits in die endlose Leere fallen wollen, die hinter dem Thron des Winters lauerte.
Der Mann hinter dem Vorhang
"Es ist ein Reiter eingetroffen, Herr", sagte Claudius Hilmon, der durch Lariena, Aethel und ihre Gefährten aus Tectaria gerettet worden war. Er hatte verschwiegen, dass er Jorgans Versteck kannte.
"Was hast du zu berichten?", fragte Jorgan den Boten.
"Der erste Golem ist in Sicherheit, Pytharas."
"Du sollst mich nicht so nennen. Dazu ist es zu früh."
Nachdem der Mann hinter dem Vorhang, der sich dem Tölpel Claudius gegenüber als Pytharas ausgegeben hatte, den Diener des Meeres wieder fortgeschickt hatte, sah er wieder in den Brunnen. Das Wasser wirbelte umher, und er sah wieder sein Spiegelbild. Der Mann hinter dem Vorhang verwandelte sich zurück. Der Diener im Brunnen lachte. "Du bist wirklich der wahre Meister."
"Ich habe viel zu tun. Ich bin vorbereitet."
"Was soll nun geschehen, mein Herr?"
"Sie glauben wirklich daran, Pytharas finden zu können. Dies wird nicht geschehen. Ich habe dafür Sorge getragen, dass Tysandra ihren Sohn befreien will. Außerdem habe ich Claudius genau dort getroffen, wo sie ihren Plan verfolgen will. Tysandra läuft in eine Falle. Hohenfels bewacht schon die Katakomben. Wir müssen gehen", antwortete der Mann hinter dem Vorhang, hob den Arm und legte eine Hand in das Wasser. Das Gesicht floss in seine Robe, und der Brunnen war leer. Dann nahm der Mann hinter dem Vorhang seinen Stab und stützte sich darauf, als er das Gewölbe durch eine Geheimtür verließ. Im Brunnen hatte er gesehen, dass Esthelion schon in Skjöldbur eingetroffen war. Zhaerius hatte Yphilia zur willigen Dienerin gemacht, und die Schatten aus der Anderwelt hatten eine neue Herrin. Er schmeckte Blut. Es war eigentlich kein Blut, es war Rache. Für alles, was geschehen war. Und seine Rache war Blut, und Blut war seine Rache. Scharlachrot war sie. Genau wie seine Kleidung, sein Stab, sein Haar und besonders seine Augen. Der Scharlachrote Tod erreichte die Oberfläche und blickte auf die Burg, die sich in der Ferne erhob. Einst hatte sein Banner dort geweht.
Belfos verliert ein Wettrennen
Der Gehilfe Jorgans lief schnell wie der Wind. Sein Verfolger hatte zwar keine Waffe in der Hand, aber die Art, wie er ihn angegrinst hatte, bevor er seinen Arm gepackt hatte, war Belfos unmissverständlich erschienen: Der Kerl mit dem irren Blick wollte ihn umbringen! Ob es etwas mit dem Verschwinden seines Meisters zu tun hatte? Er hatte wirklich keine Zeit, großartig nachzudenken - der Unbekannte war wirklich schnell zu Fuß. Belfos lief um eine Ecke, sah das Getümmel am Marktplatz und stürzte sich hinein. Schnell klaute er einen Umhang, als ein Händler nicht genau hinsah, dann lief er durch die Menge zur anderen Seite. Er hatte sich so lange erfolgreich versteckt. Und nun kam da so ein Typ, den er nicht kannte und der ihm ans Leder wollte. Auf der anderen Seite schnitt er ihm den Weg ab. Schnell drehte Belfos sich um, machte kehrt und rannte durch den Hintereingang einer Taverne, wo er sich unter einen Tisch warf. Er sah nur noch die Stiefel und Schuhe der Gäste. Sobald er diese schwarzen Stiefel sehen würde, nähme er die Beine wieder in die Hand und wäre auf und davon. Aber sie waren nicht zu sehen. Er hatte ihn endlich abgeschüttelt. Erleichtert blieb er einen Moment dort sitzen.
"Vertrau mir, ich will dir helfen", sagte die Stimme des Mannes. Aber er war nicht zu sehen. Da war nur eine kleine Maus.
"Hast du gerade was gesagt?", fragte Belfos leise und ungläubig.
Die Maus kicherte. "Ja, sicher. Mein Name ist Jan. Hohenfels schickt mich. Wir wollen dir helfen, Kleiner."
Caldorvan
Der Untote Lord schritt durch die Reihen seiner neuen Armee. Die Macht der Erschaffung, die er Hrabanus geraubt hatte, war ihm so schnell wieder genommen worden wie er sie auf der Insel der Finsternis erlangt hatte. Die Armee war ihm jedoch geblieben. Er hatte Aran und Saban auf eine besondere wichtige Reise geschickt, um eine ebenso wichtige Aufgabe zu erfüllen. Lathias und Sylthir führten die Verteidiger an, Liranus hatte er zur Nebelküste und in das nördliche Tal Beltain entsandt, um die Truppen zu versammeln. Den Bau dieser irrsinnigen und lächerlichen Hauptstadt an der Küste hatte er schnell abgebrochen, und die Gefangenen, die unverwandelt waren, in die Armee eingegliedert. Hier und da hatte er tatsächlich noch Bauern und Tagelöhner, Räuber und Wegelagerer entdeckt, die noch nicht in den Tiefenwald oder die Kernlande geflohen waren. Sie alle waren nun treue Gefolgsleute. Und jetzt gab es keinen Sicarion Grauwind, der seine Macht brechen würde. Keinen Mercutio, der ihn benutzen würde, keinen Dybbuk und keinen anderen, der es mit ihm aufnehmen könnte. Die Malstromwesen folgten bedingungslos. Sogar Aran hatte auf den Befehl nur geantwortet: "Ja, Vater."
Alles spielte ihm zu. Es war fast schon zu leicht. Der Zwischenfall im Seelenmoor, als er bedauerlicherweise den Stab der Erschaffung an Mithraniel verloren hatte, war ein leichter Rückschlag gewesen. Das Angebot Tysandras, an ihrem Hofstaat eine Rolle zu spielen, würde er den Schlüssel im Lager der Winterkrieger im Wilderland benutzen, hatte er zum Schein angenommen. Es war ihm als eine simple Art erschienen, an das Nebelgefäß zu gelangen, um am Ende den Weißen Wolf - Lucius war das - zu rufen. Dass es das Ende seiner neuen Armee wäre, wenn erst die elf Lieder gefunden wären, war ihm bewusst. Dies war eine Armee auf Zeit. Auch das war ihm klar. Aber er brauchte sie nicht für immer. Nur jetzt... jetzt war sie wichtig. Etwas, das Hlifa eines Tages verstehen würde; vorausgesetzt sie würde etwas mehr Verstand als ihr Bruder beweisen. Wenn Bjartur, Mithraniel und die anderen nicht aufgetaucht wären, hätte er sein Schauspiel glaubhaft weiterspielen können. Denn die Söldner Crenns waren dumm genug gewesen, ihm zu vertrauen. Glaubten sie wirklich, er bräuchte einen Emporkömmling wie Tysandra, um sein Endziel zu erreichen? Es war so lachhaft gewesen, dass er sogar hinter dem schwarzen Visier sein Grinsen unterdrückt hatte. Aber dann waren die Turmherrin und ihre Begleiter gekommen. Wieder einmal hatten sie den Mund nicht halten können. Es war beinahe tragisch, wie gedankenlos und närrisch die Sterblichen handelten, wenn sie glaubten, alles zu wissen. Dass schließlich Mithraniel den Kampf begann, war für ihn ein Zeichen gewesen, dass sie wirklich nicht wussten, was er da versucht hatte. Von keinem verlangte er je Vertrauen. Und wenn er es tat, dann in dem Wissen, dass derjenige es bereuen würde. Aber dies war so dumm gewesen, dass er bereitwillig in den Kampf gegangen war. Vorher hatte er seinen Kriegern durch seine Gedanken befohlen, den Schlüssel in Sicherheit zu bringen - zu spät, denn Mithraniel transportierte ihn durch ihre elendige Zauberei fort. Also hatte er befohlen, jeden einzelnen der Angreifer zu verwandeln. Es wäre die gerechte Strafe für ihre mangelnde Unterwürfigkeit vor ihrem wahren König.
Caldorvan hatte nicht vergessen, was er vor vielen Jahren in den Nordlanden erfahren hatte. Und nun war die Zeit gekommen - endlich - seinen Anspruch durchzusetzen. Wenn auch nicht auf die Weise, wie man sie von ihm erwarten würde. All die Zeit hatte er geschwiegen, auch wenn er oft versucht gewesen war, die Wahrheit um den Thron auszusprechen. Aran hatte er die Wahrheit sagen wollen, aber er hörte niemals zu. Saban war zu plump dafür. Aurelia zu unschuldig - sie war das einzige seiner Kinder, für das er so etwas wie Zuneigung fühlte, auch heute noch. Und bei allen anderen Gelegenheiten, zu sagen, was er wusste, hatte er sich zum Schweigen gezwungen. Selbst im Thronfolgekrieg, selbst als Sicarion ihn unterworfen hatte. Dem Lethos gegenüber hatte er seine Gedanken verborgen, so wie er es bei Zhaerius getan hatte, als dieser vergeblich versucht hatte, ihn zu bezwingen. Im Bürgerkrieg hatte er ebenso geschwiegen. Und als er Phaeron von Yrens Gegenwart gespürt hatte, kurz nachdem er die Malstromwesen unter seine Kontrolle gebracht hatte, hatte Caldorvan seine Gedanken tief verborgen unter dem Schwert und Blut Lebans.
"Wir marschieren im Morgengrauen", sprach er nach einer Weile.
"Jawohl, mein König", erwiderte Lathias.
Es war so leicht. Caldorvan lachte. Plötzlich erschien einer seiner Kundschafter. "Sie sind fort."
"Wo sind Aran und Saban? Wieso berichtest DU mir und keiner von ihnen?", grollte Caldorvan.
"Saban muss etwas zugestoßen sein. Es sind Tirinaither dort. Vermutlich haben sie ihn entdeckt."
"Und Aran?"
"Unauffindbar."
Caldorvan fluchte leise. Er versuchte, seine Söhne durch seine Gedanken zu rufen. Saban erneuerte sich in einem Weiher nahe Witrins. Es war keine Magie, die ihn niedergerungen hatte. Aran indes war nicht mehr zu spüren. Da war nur ein Licht, reine Energie. Zauberei. Sonst war da nichts mehr. "Findet ihn!", befahl er.
Dann hörte er Lärm. Er sah hinauf zu den Zinnen. Eine seiner Wachen stürzte in die Tiefe, schlug mit dem Kopf auf und zerplatzte. "Was geht hier vor? Zu den Waffen!", rief der Untote Lord.
Lathias zog sein Schwert und deutete zum Horizont. "Es sind die Bretonen. Sie brechen den Pakt!"
Esthelion
Aus Maga Theralias Aussagen war nichts zu erfahren. Dass die Skjöldburer ihm etwas verheimlichten, dass sie etwas Entscheidendes wussten, war ihm mehr als deutlich geworden. Vielleicht kannten sie Nachfahren seiner Mutter, die ihn mit Dholon gezeugt haben musste. Oder sie wussten, wo die Inschriften waren, die Weissagungen, die Esthelion auf seiner Reise nach Midgard gesehen hatte. Etwas, das ebenso dafür sprach, dass sie ihn belogen, war die Tatsache, dass Maga Theralia eher auswich denn antwortete, eher zu Abschweifungen neigte als kurz und knapp zu sagen, was sie wusste. Weder erfuhr er etwas über seine Ahnen noch etwas über seine Mutter, die wohl eine Nordfrau gewesen sein musste. Und doch fühlte Esthelion eine Präsenz. Es war etwas, das er bei der Frau, die er immer für seine Mutter gehalten hatte, nie gefühlt hatte. Nicht Liebe oder Zuneigung - nein, es war einfach nur die Gewissheit ihrer Nähe. Vielleicht war Skjöldbur also keine schlechte Wahl gewesen.
Aber wenn sie ihm etwas vorenthielten, was war es? Und wenn es wirklich Wissen über seine Mutter oder die Herkunft der Weissagungen war, wieso sollten sie ihm derartig misstrauen? Weil er dem Eis gedient hatte, im Thronfolgekrieg. Einen anderen Grund konnte er sich nicht denken. "Elf Kinder. Eines überlebt, eines erbt, eines siegt, eines wird glücklich", flüsterte Esthelion auf dem Weg in das Gemeinschaftshaus, wo man ihm eine Schlafstätte hergerichtet hatte. "Wie meinen?", fragte der Bretone. Esthelion erkannte ihn. "Sir Allyen... nein, schon gut. Es ist nichts."
Dann begab er sich auf die Schlafbank, lehnte sich an die Wand und ging immer wieder die Weissagung im Kopf durch. Die Kinder, sie waren zuzuordnen. Das glückliche Kind aber konnte er nicht einordnen. Ein Zyniker würde wohl antworten, dass jedes Kind dieser Welt dazu verdammt wäre, eines Tages Opfer eines Krieges zu werden, denn gerade Menschen schafften es immer wieder, einander das Leben zur Hölle zu machen. Gründe für Kriege gab es immer. Der Thronfolgekrieg war eine Notwendigkeit gewesen, denn er stellte endlich Ordnung her. Das Eis hatte Theresia auf dem Thron des Reiches sehen wollen, und Esthelion hatte aus einem bestimmten Grund den Befehl der Wesen nie hinterfragt: Es schien ihm gerecht. Also hatte er alles dafür getan. Die Kraft der Menschen, die Welt in den Krieg zu stürzen, sie war nicht von der Hand zu weisen. Und selbst jetzt gab es durchaus Ansatzpunkte, die darauf hinwiesen, dass auch heute ein großer Teil der Schwierigkeiten, in denen alle steckten, von Menschenhand begründet worden waren. "Die Menschen zerstören sich selbst. Wir sind nur die Stimme", hatte das Eis gesagt.
Und welches Kind würde siegen? Auch hier gab es kaum eine einleuchtende Antwort. Der Erbe jedenfalls könnte Tysandras Sohn sein. Das wäre natürlich wenig erfreulich. Wenn die Weissagung aus einem bestimmten Grund zu ihm gekommen war, dann wohl, weil sie ihn betraf. Er bliebe dann übrig als der Überlebende. Das Kind, das überlebt. Dies würde voraussetzen, dass zu irgendeinem Zeitpunkt in der Geschichte, in seiner eigenen Vergangenheit, jemand sein Leben hätte beenden wollen. Nun, das hatten viele versucht - mit eher geringem Erfolg. Es musste also jemand oder etwas gewesen sein, das nicht nur den Willen und die Macht dazu gehabt hätte, sondern auch ein Ziel, das über einen reinen Sieg hinausgegangen wäre. Mercutio hatte die Macht dazu, aber keinen besonderen Grund. Aenthalas, der Rote Narr, hatte im Thronfolgekrieg dem Feuer gedient. Sie hatten sich als ebenbürtige Gegner erwiesen - nicht überzeugend, nicht eindeutig genug. Und andere wollten ihm nicht einfallen. Vielleicht lag es weiter zurück? In der Heimat? Oder auf seinem Weg durch... das Jorganschelf! Damals war er von einem Jäger verfolgt worden, einem Valkyn. Erst als Esthelion den Thron des Winters erreicht hatte, war der Valkyn umgekehrt. Der Thron war verlassen gewesen (dies dachte er damals - heute war es wohl anders). Und dahinter hatte er das Eis gesehen. Was, wenn jemand ihn damals schon hatte aufhalten wollen? Jemand aus dem Orden Argans? Nein, zu lang her. Das Obsidianorakel vom grauen Wall? Unwahrscheinlich, denn das Feuer schwieg in den ersten Jahren. Gleich was Esthelion auch überlegte - nichts schien wirklich zu passen. Den Verfolger hatte er damals als eine zufällige Begegnung abgetan. Und wenn sie es nicht gewesen war? Es war so lang her. Vielleicht hatte dieser Ormur damit zu tun? Das wiederum hätte voraussetzen müssen, dass der Valkyn etwas wusste - dass er heute ebenso etwas wusste. Einen Moment verfluchte sich Esthelion, dass er nicht in Brulund geblieben war. Das Ecaloscop Skjöldburs konnte er nicht benutzen, und Derkos unterdrückte seine Zauberkunst. Und wenn erst das Schutzamulett für ihn fertig wäre, wüsste der Runenleser ohnehin jederzeit, wo er sich aufhielte. Genaugenommen war Esthelion also ein Gefangener ohne Ketten. Ein Gast unter steter Beobachtung. Er schmunzelte. Es war wie immer. Niemand vertraute ihm. Dies war schon immer seine Schwäche und gleichsam größte Stärke gewesen. Es machte das Lügen sehr einfach - aber heute, hier, hatte er nur die Wahrheit gesprochen, die unverfälschte Wahrheit. Während man ihn belog. Als er die Ironie in ihrer Gänze erfasste, musste er lauthals lachen.
"Es gibt hier Leute, die wollen schlafen", murrte Allyen.
Schlafen. Esthelion nickte kurz. "Verzeiht, Ihr habt recht."
Er schloss die Augen und fiel in seine Trance, wie es alle Ledharthien und Elaya vermochten. Aber nun rief er hervor, was er zuletzt im Krieg um die bretonische Krone eingesetzt hatte. Auf diese Weise hatten er und Aenthalas Kontakt aufgenommen. Darüber konnte er das Eis erreichen, wenn da noch eine Verbindung bestand. Er sah den Erstarrten Baum, die Felder von Thanryss und den Reifwald, die Eiswüste und die Klamm. Ein großer Mann, an der Seite baumelte ein Keule aus Knochen, stieg die Treppen des Schwarzen Walls hinauf. Im Tal, am Abstieg in die Klamm, war ein Heerlager. Valkyn waren dort zu sehen. Die Krähe der Vestfold. Ein Elementarwesen. Das Eis fand er nicht. Enttäuscht wollte er aufwachen, als er einen Schatten bemerkte, der in seiner Hand einen Bogen aus Eis trug. "Esthelion...", flüsterte der Jäger.
Varcus
Manchmal gönnte ihm die Herrin eine Pause. Dann lockerte Nour die Schrauben, die an dem Gestell um seinen Kopf befestigt waren und sich tief in seinen Schädel gruben wie die Maden, die sie ihm zu Essen gab. In diesen Augenblicken ließen die Schmerzen nach, und auch die Stimmen, die ihn sonst pausenlos plagten, wie auch das schrille Geräusch von kratzenden Fingernägeln, die über eine Schiefertafel schnitten, verschwanden für eine kleine Weile. Aber selbst dann, wenn er in der Lage war, nachzudenken, lag er wie ein Hund an Deck des Schiffes und fraß verdorbenes Fleisch. Als ihr Hund genoss er die Gaben und war so erniedrigt, dass er sich selbst für die Schmerzen und das abgestandene Wasser, versetzt mit Speichel, bedanken wollte - könnte er sprechen. Er kauerte sich zusammen, ließ seine Zunge herausbaumeln und lauschte dem Rauschen des Meeres, über das er von Tectaria nach Bretonia gekommen war; bereit, Dakhil Al Khan zu töten, Königin Theresia als Geisel zu nehmen und den Tod des Heiligen Vaters zu planen. In den lichten Momenten fragte sich Varcus, ob dies eine Strafe des Herrn wäre. War sein Weg der falsche gewesen? Nein, das war nicht möglich, denn das Sigillum Dei hatte eindeutig den Tod von Gregorianus befohlen. An die Legenden über den Fischer aller Fischer hatte Varcus nie geglaubt. Und die Rache an Dakhil für den Fluch, den er nur ihm zu verdanken hatte, konnte sie so falsch sein? Dakhil war gottlos, ein Heide, ein stinkender minderwertiger Mann, weniger wert als ein Wurm oder eine Schabe.
"Und du, was bist du?", fragte die Stimme, als Nour die Schrauben wieder in seinen Kopf bohrte. Der klirrende Ton, welcher die Worte begleitete, war wie Eis, das auf steinernen Boden fällt. Varcus schmeckte sein eigenes Blut, als er antworten wollte, aber nur das Bellen eines Gossenköters hervorbringen konnte. Er konnte die Antwort nur denken. "Ich bin Varcus, Präfekt Varcus. Diener des Herrn."
"Du hast Frauen geschändet und gequält, Mädchen gefoltert und verbrannt, Kinder geschlagen. Wie kannst du dem Herrn auf diese Weise dienen? Er ist ein Herr voller Liebe und Gnade."
Varcus sah einen Rosenstrauch, der in Flammen stand, aber nicht verbrannte. Für Tectarier war dies ein Zeichen, das von der Nähe eines Engels kündete. Aber Engel waren hier nicht. Nur die See, das Schiff, die Ketten und Schrauben. Und Nour, die Herrin ohne Gnade. Er sah auf seine gebrochenen Hände und Finger. "Gnade für die Schwachen?"
"Für alle, denn ich bin, der ich bin. Du willst mir ein Diener sein? Dann erkenne dich selbst. Erkenne, was du getan hast und was du tun musst, Sünder."
"Wenn ich ein Leben in Sünde geführt habe, was tut dann sie?", fragte er und meinte seine neue Herrin.
"Sie lebt nicht fromm. Auch sie ist in Sünde. Aber du hast ihr den Weg bereitet. Bald wird sie sehen, wie sehr sie irrt. Aber dann ist es vielleicht zu spät für dich."
"Ich will nicht sterben, und ich will nicht leben wie ein Hund", antwortete er und fühlte seine Scham, die stärker war als sein Wunsch, auszubrechen. Er war ganz unbekleidet, als Nour ihn unter Deck brachte, an ein Fass kettete und eine Kugel aus Metall in der Hand hielt. Er erkannte eine Mundbirne. Das Gerät aus Eisen hatte an den Seiten Flächen, die dank eines recht einfachen Mechanismus ausgeklappt werden konnten und immensen Schaden anrichteten. Nour stopfte ihm die Kugel in den Rachen, dann legte sie einen Finger an den Auslöser. Varcus hatte die Mundbirne in Tectaria benutzt. Insbesondere dann, wenn er eine der Hausdienerinnen genommen hatte, aber verhindern wollte, dass sie es seinem Vater berichten würde. "Du kennst es, nicht wahr?", fragte sie und lockerte mit der anderen Hand die Schrauben. Varcus spürte den Drang, sich zu verteidigen, sich zu verwandeln und der Hure die Kehle aufzureissen. Aber es gelang ihm nicht. Was ihn hinderte, war ein unbekannter Fluch, den er wie einen Kakerlak spürte, der durch seinen Kopf spazierte und sich darin erleichterte. Er roch Kot und Pisse, aber es war er selbst, der sich gerade erleichterte. Dann nickte er. "Ich gebe dich frei, wenn Erec uns braucht. Danach wirst du sterben. Aber du sollst mir nun sagen, was du weißt, was für ihn wichtig sein kann."
Varcus zeigte auf die Kugel, die ihn am Sprechen hinderte. Nour lachte. "Ich habe die Tür verschlossen. Aethel und Fynn werden dir nicht helfen können, wenn du schreist. Hast du mich verstanden?"
Er nickte, und sie nahm die Kugel wieder heraus. Vielleicht sollte er sich ja nur daran erinnern, was er den Mädchen im Haus seines Vaters angetan hatte. "Was willst du wissen?", fragte er, nachdem sie die Schrauben ganz entfernt hatte. "Alles. Angefangen beim Heiligen Vater, deinen Plänen mit ihm, dem Fluch von Mond und Nebel. Einfach alles. Vorzugsweise auch über das Sigillum Dei."
"Du weißt davon?", fragte er überrascht.
"Zhaerius hat davon gesprochen. Rede nun!", befahl sie.
Es war die Furcht vor weiteren Schmerzen, die ihn zum Reden brachte. "Das ist es, was ich weiß, darum kamen wir her", sagte er zum Schluss.
Nour tätschelte seinen Kopf. In dem Moment hätte er sie am liebsten erschlagen, aber es war ihm nicht möglich. "Das hast du gut gemacht. Ich habe schon lang keinen Mann mehr gehabt. Jeden anderen hätte ich nun beglückt, seinen Schwanz gelutscht und ihn anschließend in meine Lenden geführt. Aber du hast mir wehgetan, du hast mir Schmerzen bereitet, die ich nicht einmal Tysandra gewünscht habe. Schmerzen, die keine Frau spüren soll."
Gerade wollte Varcus etwas tun, was er nie erwartet hätte. Er wollte um Vergebung und Gnade winseln. Doch schon war die Kugel wieder in seinem Mund. Nour lächelte, als sie auf den Auslöser drückte. Die Seiten klappten auf, und verfehlten ihre Wirkung nicht, als nach einem metallischen Geräusch andere Töne angeschlagen wurden. Nach allen Seiten hin klappte Varcus Kiefer unter Gespei von Blut und Speichel auf. Erst war es ein Knarren in den Knochen, dann fielen die Zähne wie Eicheln heraus, am Ende brach der gesamte Kieferknochen, bis Varcus die Augen verdrehte und in Ohnmacht fiel.
Ormur
Er hatte die Krone, die Claudius ihm gegeben hatte, Mellwen zur Aufbewahrung gegeben. Dholon hatten sie in eine Starre versetzt, und Liurroccar zeichnete die Träume des Elaya auf. Ofeigur hatte erfahren, dass die Krieger des Winterkönigs Dholon auf eine Reise vorbereitet hatten, vermutlich zum Thron des Winters. Denn wenn der Winterkönig seelenlos war, dann suchte er wohl genau diese eine Seele, um vollständig zu werden. Immer wieder dachte Ormur an die Ereignisse von vor langer Zeit, wie ihm der Thron genommen wurde; wie das Eis die Krone zerbrochen hatte. Und plötzlich war dieser Diener des Meeres im Lager des Feindes aufgetaucht, und er hatte die Krone bei sich, die ihm angeblich Pytharas gegeben hatte - jener Mann, in dessen Körper der Geist Jorgans gefahren war. Es hatte sich herausgestellt, dass man Claudius betrogen hatte. Irgendjemand hatte sich als Pytharas ausgegeben, und das sehr überzeugend. Es war Ormur egal, wer dies getan hatte. Die Krone würde er nach seiner Rückkehr untersuchen lassen, und wer immer der Betrüger wäre, dieser Claudius würde bald schon den Blauen Turm Ghundras in Kenntnis setzen. Wichtiger für ihn war, dass der echte Pytharas irgendwo wartete. Worauf er wartete und wieso er sich noch nicht gezeigt hatte, das war etwas, das Ormur nicht verstehen konnte. Musste Pytharas nicht alle Antworten kennen? Er glaubte daran, dass Jorgan seinen Frevel bereute. Aber weshalb trat er nicht offen hervor, um zu büßen, zu helfen? Das Faulwasser suchte nach dem Mysterium, dem großen Geheimnis. Der Winterkönig marschierte, und das Eis war zurück. Der Schwarzstern versuchte, in das Mysterium zu gelangen. Die Krähenfrau, die Dholon einst verführt hatte, war gekommen - und Jorgan schwieg.
Also hoffte Ormur, der Hüter Alt-Blyrtindurs hätte Antworten. Immerhin hatte Erec berichtet, dass er die Zahlen enträtselt hatte. Sie ergaben nicht nur das Lied des Schwarzsterns, sondern ebenso eine Umkehrform. Als Erec das Lied spielte, erinnerte sich Ormur an die Lieder, die er gemeinsam mit Gylwar am Feuer gesungen hatte. Die Lieder, die Jorgan ihnen beigebracht hatte. Eines davon hatte von einem Jäger gehandelt, der den rechten Pfad verlassen hatte und sein Rudel getötet hatte. Er fragte sich nun, ob es der Jäger aus der Kälte war, von dem das Lied gehandelt hatte. Er, dem sein Name genommen worden war, den man verbannt hatte, nachdem er seine Mutter hatte vergiften wollen. Jorgan hatte ihm vor langer Zeit ein Bildnis gezeigt. Es war in einen Fels gebrannt worden. Ein Feuerberg war im Land erwacht, und nur der Grauwall, ein Neffe Varathessas, hatte ihn mit seinen Händen erstickt. Das schwarze Glas war seitdem im Wall zu sehen. Es hatte die Gestalt des Jägers in den Stein gemalt. Dunkel, groß, mit einem Bogen aus purem Eis. Aber wo war der Zusammenhang zwischen dem Lied, das Erec spielte und dieser Geschichte? Ormur wartete einen Moment, dann stellte er seine Frage. "Du hast dieses Lied aus den Zahlen entschlüsselt?"
Erec legte die Flöte zur Seite und gab Ormur einen Krug Met. "Ja. Ich habe mich lange damit befasst. Der Drudenfuß ist unendlich. Eine endlose wundersame Wiederholung des Gleichen. Gleich und doch nicht gleich. Ein Symbol, wie die Zahl 8, die für das Unendliche steht. Aber ungleich gewaltiger. Dort habe ich Geburtstage gefunden. Meiner, deiner, die unserer Freunde. Und viele andere. Einige sind auf dem Weg hierher. Sie überschneiden sich mit unseren."
"Was bedeutet das, Hüter?"
"Nenn mich einfach nur Erec. Ich weiß noch nicht, was es bedeutet. Aber es muss etwas Großes sein."
Ormur schüttelte den Kopf. "Ich nenne dich Hüter, weil dies deine Aufgabe ist. Wenn du Respekt erwartest, vor deiner Bürde, dann bestehe auch darauf, dass man dich so nennt. Ich wäre nie König geworden, wenn ich mir den Respekt nicht erarbeitet hätte, Hüter."
Erec lächelte. "Wie du möchtest. Ich selbst würde mich als einen Hirten bezeichnen. Ein Diener der Erde, Gwayan, nannte mich so. Um genau zu sein, er ging noch weiter..."
"Ach ja?", fragte Ormur verwundert. Es war, als wäre ein Teil seiner Suche zu einem Ende gekommen. Jorgan hatte von den Hirten gesprochen. Sie bewahrten das Geheimnis. Aber er beschloss, erst auf die anderen zu warten, bevor er dies offenbaren würde.
"Leider ist mir noch nicht klar, was dies bedeutet. Du siehst, es gibt viel zu ergründen. Aber wenn Aethel und Fynn hier sind, werden wir vielleicht mehr herausfinden. Ich hoffe, dass Nour sich zurückhält. Die Hüter werden ihr die Öllampe nicht geben."
"Die Waffe gegen den Schwarzstern", murmelte Ormur.
"Zhaerius. Der Mann in Schwarz. Ja..."
"Unser Volk betrachtet den Schwarzstern als ein großes Übel. Die Plagen, gleich welche, kommen von ihm. Er will das Geheimnis vergiften. Er sucht Erkenntnis für sich allein", erklärte Ormur dann.
"Das Mysterium darf niemals geöffnet werden. Ich bin mir sicher, ich war dort. Aber auch ich erinnere mich nicht daran. Aus gutem Grund, wie ich denke. Es ist nicht für uns Sterbliche gedacht."
Irgendwie gefiel ihm dieser Hüter. Dass Erec einer der Hirten war, behielt er aber für sich. Er konnte noch nicht ganz sicher sein. "So ist es. Es wurde nicht umsonst in der Leere geboren."
"In der Leere geboren?", fragte Erec mit Verwunderung in den Augen.
"Alles hat irgendwo einen Anfang. Selbst deine Götter, meine, und ja, auch das Geheimnis. So sagen es die Legenden meiner Heimat. In der Leere hinter dem Ende der Welt ist es geboren worden aus den Träumen der Träumenden. Ich nehme an, dies ist auch der Grund dafür, dass Traumleser in der Lage sind, die Tür zu erreichen. Es ist auch der Grund dafür, dass das Faulwasser sich erhofft, im Geheimnis die Antwort auf ihr Sein zu bekommen, Seelen zu bekommen. Ich habe dieses Wissen für mich behalten, lange. Ich habe es Jorgan versprochen. Aber er antwortet nicht - und jemand sollte davon wissen. Dir sage ich es, weil du eine Aufgabe hast", erklärte Ormur - damit wollte er seine Offenbarung, dass Erec ein Hirte war, vorbereiten.
Erec nickte leicht. "Ich sehe, es war weise, dich hierher einzuladen. Wollen wir ein paar Worte mit meinem Golem wechseln?"
"Wenn es notwendig ist..."
"Er hat Wissen, das uns helfen wird. Es muss einen Grund für die Überschneidungen geben."
Ormur ahnte den Grund. Sie alle waren Hirten. Sogar diese Nour und ihr Begleiter.
Der Mann in Schwarz
"Was soll mit ihr geschehen, wenn sie... fertig ist?", fragte der kahlköpfige Diener. Die Loyalisten der Zendavesta waren im Augenblick die einzigen, die ihm folgten. Nachdem der Mann in Schwarz die Malstromwesen geschaffen hatte, weit oben in den Himmeln Midgards, im Kreis der Zendavesta, waren die gezüchteten Krieger dieser magischen Kreaturen zu seinem Gefolge geworden. Sie dienten, ohne einen einzigen Befehl zu hinterfragen. Es waren nicht viele, vielleicht tausend. Aber es war genug für den nächsten Schritt. Die Malstromwesen folgten nun Caldorvan. Also musste der Mann in Schwarz seinen Plan ohne sie verfolgen.
"Wenn Yphilias Aufgabe getan ist, werde ich ihr geben, was sie immer wollte. Sie wird sterben. Ihr habt eine ganz andere Aufgabe. Ist der Traumdieb eingetroffen?", fragte er.
"Ja. Er wartet auf deinen Befehl, Meister."
"Bring ihn her."
Als der Loyalist zurückkehrte, in Begleitung einer schimmernden Gestalt, deren Augen so schwarz waren wie ihre Seele, die der Mann in Schwarz aus der Anderwelt gerufen hatte, roch der Mann in Schwarz den süßen Duft von Traumwasser. "Ich lasse dich gehen, wenn du mir einen Dienst erwiesen hast. Du sollst in den Traum eines Elaya eindringen. Sein Name ist Dholon. Raube mir seine Seele, und du darfst gehen. Bring sie zu mir. Wirst du tun, worum ich bitte?"
"Ich habe keine Wahl. Ich bin ein Geist, den man herbeirufen kann. Dies ist mein Los. Einst war ich wie die, die ihr Schatten aus der Anderwelt nennt. Nun bin ich zum Dienen verdammt", antwortete der Geist mit offener Verachtung für den Herrn aller Plagen.
"Gut. An die Arbeit!", rief der Mann in Schwarz und ließ den Geist von einigen Loyalisten bewachen.
"Warum benötigst du seine Seele?", fragte der Loyalist.
"Ich brauche weitere Verbündete. Und wenn der Winterkönig Dholons Seele, seine Seele, sucht, werde ich sie ihm anbieten. Im Gegenzug werde ich dafür sorgen können, dass seine Krieger ein bestimmtes Ziel angreifen und ebenso ein bestimmtes Angebot ausschlagen", erklärte der Mann in Schwarz. "Jetzt, da Tysandra marschiert und angreift, darf sie nicht noch mehr bekommen. Es reicht, dass Brylod und Garrilton ihren Worten verfallen sind. Die Schatten aus der Anderwelt dienen ihr. Sie ist die Krähe, sie ist Morrighan und ist es gleichsam nicht."
"Ich verstehe nicht, Meister."
"Unwichtig. Gehen wir zu Yphilia. Es ist Zeit."
Unter der Androhung, sie den gefangenen Werwölfen zum Fraß vorzuwerfen und mit der Erkenntnis, ihre Ziehtochter nie wiederzusehen, sollte sie nicht tun, was er will, war sie am Ende doch zu überzeugen gewesen. Der Mann in Schwarz betrachtete die Karte, die Yphilia angefertigt hatte. "Das sind alle Seitenarme und Kanäle?", fragte er.
"Ja. So will sie vorgehen. Wenn sie erfährt, dass ich schwach wurde, wird sie mich töten lassen", flüsterte die Gefangene und hatte tatsächlich Tränen in den Augen.
"Aber, aber... sie ist immerhin deine Tochter, in gewisser Weise. Sicher wird sie verstehen, dass du lebend mehr wert bist als tot. Sorge dich nicht, Yphilia", antwortete der Mann in Schwarz und lächelte.
"Was bist du...?", fragte sie.
"Ich? Ein bescheidener Mann. Im Gegensatz zu dir und Tysandra tue ich nur, was notwendig ist. Was schon lang hätte geschehen müssen. Weißt du wie lange ich darauf gewartet habe? All die Zeit. All die Jahre. Ich habe es bei Jorgan versucht, ich habe es bei Erec und Hrabanus versucht, sogar bei der Finsternis, bei Varcus und all den anderen. Und am Ende war es so leicht: Am Ende brauchte ich nur dich dafür."
"Du wirst mich nicht mehr gehen lassen..."
"Wer sagt das?", fragte der Mann in Schwarz und sah zum Loyalisten, der ihn fragend ansah, hatte er doch zuvor noch von Yphilias Tod gesprochen.
"All deine Worte klingen danach. Töte mich endlich. Aber verbrenne mich. Ich will keiner von ihnen werden."
Wieder lachte er. "Du hattest die Absicht, die Flüsse und Kanäle zu vergiften, alle zu infizieren, damit Tysandra als Heilerin die Gunst der wenigen Überlebenden gewinnt. Und nun weinst du und willst davor verschont werden, vor dem, was du allen anderen ohne Mitleid und Gnade antun wolltest?"
"Und du? Was ist mit dir? Du hast die Pestilenz erschaffen. Ohne dich wäre nichts von allem hier geschehen, nichts!"
"Ja, das könnte man so sehen. Aber als ich vom Aufmarsch des Winterkönigs und seines Klirrenden Heerwurmes hörte, da wurde mir klar, dass die Krähenfrau vor langer Zeit Dholon verführte, so wie ich Jorgan in Versuchung geführt habe. Ich glaube, das Schicksal will uns. Wir sind Gegner, in allen Zeiten, gleich wo wir sind. Und noch etwas bemerkte ich: Wenn das Eis zurück ist, das Dunkel vom Ende der Welt, dann ist es auch ein anderer."
"Wer?", fragte sie.
"Der Jäger aus der Kälte."
"Was... wer ist das?"
"Unwichtig für dich", sagte der Mann in Schwarz. Dann sah er zu seinem Diener. "Ist die Kammer vorbereitet?"
"Ja, Meister."
"Kammer, was für eine Kammer? Was hast du vor mit mir, Zhaerius?"
Er ließ die Gefangene in eine Kammer aus reinem Licht führen. Darum war eine Blase aus magischem Wasser. Etwas, das der Mann in Schwarz bei den Loyalisten gefunden hatte, als sie bereitwillig zu ihm gekommen waren. Sie sperrten Yphilia ein und lauschten ihren Schreien, als ihr Leben erlosch. Nach einigen Augenblicken öffnete der Loyalist die Kammer. Yphilia trat heraus. Ihr Haar hatte sie verloren. Sie sah den Mann in Schwarz an. "Meister?"
"Begleite meine Loyalisten nach Samariq."
Aran
War es die Macht der Zendavesta, die er aufgesaugt hatte? Ein Wink des Schicksals? Oder war es doch Leban, der immer noch ein Auge auf ihn hatte, selbst jetzt noch, da er ein Malstromwesen war? Aran kannte die Antwort nicht. Doch selbst als die anderen, Saban, Liranus, Lathias und die vielen Verwandelten Hrabanus noch ihren Gott genannt hatten, war ein Teil von Aran wenig davon überzeugt gewesen. Er war nicht darauf aus, selbst Macht zu erlangen - sein Ziel war es, zu bewahren, was noch menschlich an ihm war. Szynric musste es wohl geahnt haben, denn bei jedem Streit über die sinnlose Absicht von Liranus, eine Stadt an der Nebelküste zu errichten, hatte Aran betont, wie dümmlich dieses Vorgehen war. Wozu eine Stadt errichten und Kräfte verschwenden, wenn sie eingekreist waren durch den Pakt? Nordwestlich vom Eisenwall lag die Stadt, direkt an der Grenze war die Abtei, und jenseits der Marmorbrücke waren die Nordlande, prall gefüllt mit Nordmannen, die sicher nur darauf warteten, dass Elyarn den Pakt brechen würde. Die Armeen aus Bretonia, Midtjord und Tilhold würden nicht zögern. Und Wilderberg? Nördlich davon lag das Wilderland. Was, wenn die Drow - immun gegen die Verwandlung - sich entscheiden würden, die Festung von Szithlin aus anzugreifen? Wer wusste schon, ob es dort nicht irgendeinen verborgenen Tunnel gab, den niemand kannte? Sicher war lediglich Witrin. Der Blaue Turm war keine militärische Bedrohung, und die Magier der Tirinaither würden sich wohl kaum trauen, die Burg der Torbrins anzugreifen. Auch nicht mit keltischer Unterstützung aus dem Tiefenwald - denn keiner von ihnen wusste, wieviele Malstromwesen sich im Tal Beltain und an der Nebelküste versammelt hatten, bereit, die Burg zu schützen. Die Lage war nicht optimal, auch wenn Saban es nicht erkennen wollte. Genau wie Liranus war er ein blinder Verehrer des Weinenden Gottes gewesen, hatte den Worten des Propheten Zhaerius geglaubt, bis Aran endlich einen Beweis für dessen Lügen gefunden hatte.
Und nun? Nun folgten sein Bruder und alle anderen Caldorvan, seinem eigenen Vater, dem Untoten. Eigentlich war es nicht wichtig, was Aran vor Caldorvans Einfluss beschützte. Solange er es nicht bemerkte, lief alles hervorragend. Natürlich erkannte Aran die interessante Ironie: Wieder einmal hatte sein Vater alle Karten in der Hand, eine Armee im Rücken, die durch den Kampf selbst in einer Niederlage nur noch mehr Mannstärke erhielt - so wie es im Thronfolgekrieg bis zum Erscheinen Sicarions gewesen war - und wieder einmal stand Aran im Verborgenen gegen ihn. Wieder einmal würde kein anderer ihm glauben, ihn verachten wie eh und je, ihn hassen und als Übel dieser Welt betrachten. Im Thronfolgekrieg hatte Caldorvan eine Armee untoter Krieger geführt. Gefallene Krieger hatte er in seine Armee eingegliedert, so wie es jetzt auch geschehen war. Bis damals Sicarion Grauwind gekommen war, der tectarische Inquisitor und Usurpator. Er hatte Caldorvan die Stirn geboten und anschließend Hohenfels in Besitz genommen. Drei Tage hatte der Kampf um die Burg gedauert, und mit dem Tode Sicarions hatte auch der Bürgerkrieg ein Ende gefunden. Und jetzt? Wer würde ihm nun die Stirn bieten? Theresia? Baelon? Tysandra? Oder der Winterkönig und das Eis? Nein, Aran sah zu viele Parteien, zu viele Optionen. Und Aussicht auf ein Bündnis zwischen den verschiedenen Kräften bestand nicht. Außerdem war Caldorvan gerade dabei, seine militärische Macht auf dramatische Weise zu verstärken. "Bringt dies den Schatten aus der Anderwelt. Es ist ein Geschenk", hatte sein Vater befohlen, als er Saban eine Truhe übergeben hatte. "Was ist darin?", hatte sein Bruder gefragt. "Etwas, das sie überzeugen wird, an meiner Seite zu stehen. Und du Aran, du hast die Zauberkraft der Zendavesta. Da der Kreis nicht nur die Kuppel Samariqs erschaffen hat, sondern auch die Barriere, die sie in einen Käfig sperrt, wirst du sie befreien. Hast du mich verstanden, und wirst du tun, was ich dir sage?" "Ja, Vater", hatte Aran gelogen.
Als er und Saban den Weiher in den Kernlanden im Schutze der Nacht erreicht hatten, sahen sie mehrere Tirinaither, die am Weiher lagerten. Von den Schatten war nichts zu sehen. "Sieh nach, was dort geschieht", befahl Aran seinem jüngeren Bruder, und Saban wandelte sich zum Faulwasser und kroch wie eine flüssige stinkende Natter näher an den Weiher. Aran spürte, wie groß seine Verachtung war. Er verabscheute das, was sie geworden waren - und konnte es nicht ändern. Aber es gab vielleicht Verbündete. Nicht für Caldorvan, nicht für die Wesen des Malstroms. Für ihn. "Was hast du entdeckt?", fragte er, als Saban zurückgekehrt war.
"Die Schatten, sie sind fort. Die Zauberer sprechen Formeln. Sie suchen Spuren. Wenn wir sie verwandeln, wissen wir, was sie erfahren haben..."
"Nein. Das ist nicht unser Auftrag", knurrte Aran.
"Unser Auftrag ist es, die Armee zu vergrößern. Vater will es so. Sein Wort ist Gesetz. Er hat die Macht des Weinenden Gottes. Er ist der wahre Prophet!"
"Ach, Saban... Du warst schon immer ein leichtes Opfer", murmelte er.
"Was redest du da?"
"Nichts...", antwortete Aran, nahm einen Dolch und stieß ihn in Sabans Schädel. Sein Bruder zerfloss zum Faulwasser, um irgendwann irgendwo neu zu entstehen, wie sie es alle taten. Darum und weil Aran einfach genug davon hatte, empfand er kein Mitleid. Er bedauerte nur, dass er sich so früh schon gegen Caldorvan stellen musste, ohne Vorbereitung. Die Truhe öffnete er. Darin war Moos. Es roch wie Mutter Kelar. Aran verschloss das Behältnis wieder und trug es mit sich, als er sich auf den Weg nach Brulund machte.
Phaeron
Der Untote hatte die Macht über die Malstromwesen genommen - aber wie? Phaeron von Yren hatte so etwas wie einen Schicksalsschlag gespürt, als würden die Dinge sich grundlegend verändern. Welche Folgen diese Übernahme hatte, das konnte man zur Zeit nur ahnen. Während des Bürgerkrieges gegen das Haus Torbrin und seine Verbündeten war Phaeron ein junger Mönch gewesen, der sich kaum hatte vorstellen können, eines Tages Hohepriester zu werden. Nach der Schlacht bei Thyms Rast war er zusammen mit einigen anderen Mönchen von Torbrinern aufgegriffen worden. Im Krieg hatten stets die Regeln gegolten, dass Kaplane, Mönche und Priester, sofern sie sich nicht an den Kämpfen beteiligt hatten, unantastbar wären. Nicht in diesem Bürgerkrieg. Die Auseinandersetzungen zwischen den Häusern waren immer blutiger geworden, sodass gegnerische Armeen ihre Verluste mit allem aufstockten, was sie bekommen konnten; gleich ob es Kinder, Bauern oder Geistliche waren. Selbst Prinz Lerhon hatte zu diesen Maßnahmen greifen müssen: Es war nicht selten, dass einzelne Verbände aus zwangsrekrutierten Kämpfern bestanden. Phaeron hätte aber lieber in Lerhons Reihen gestanden als in Torbrins.
"Da an die Wand. Ausziehen. Streckt die Arme aus", brüllte der Peitschenschwinger. Von ihm sagte man, er wäre einst ein einfacher Knecht gewesen, der statt Menschen Vieh getrieben hatte. Jetzt war er Torbrins Knecht geworden. Die Gefangenen befolgten den Befehl. Denn was geschehen würde, wenn man auch nur zögerte, hatte der Peitschenschwinger an Melnas bewiesen. Der junge Mönch hatte sich geweigert, ein Schwert zu tragen. Der Peitschenschwinger hatte ihm erst ein paar Narben verpasst, um ihn dann in einem Trog zu ertränken. Einfach so. Melnas war fünfzehn gewesen.
Phaeron befolgte jeden Befehl. Soldaten übergossen ihn und die anderen mit Essig, dann warfen sie ihnen Schwämme zu, dass sie sich reinigten. Danach kam eiskaltes Wasser. "Euren Kameraden haben wir die Rüstungen abgenommen. Kleidet euch an, Soldaten! Willkommen in der Miliz!", rief der Peitschenschwinger. "Heute habt ihr Glück, Lord Torbrin wird euch persönlich begutachten."
Als Phaeron und die anderen die viel zu schweren Rüstungen angelegt hatten, kam eine Gruppe Reiter in das Feldlager. An der Spitze ritt ein großer kräftiger Mann mit Spitzbart und einem dunklen Schwert an der Seite. Es war Caldorvan, der dem Prinzen die Treue versagte. Die Zügel seines Rappen, den er 'Tod' nannte, drückte er einem Knappen in die Hand.
"Mylord, wir haben Beute gemacht", sagte der Peitschenschwinger und präsentierte ihm die Geistlichen, die er mit Keulen hatte bewaffnen lassen. Was für ein klägliches Bild sie abgaben, konnte Phaeron leicht aus den Augen des Lords lesen und noch leichter an seinen Worten hören: "Damit soll ich also einen Krieg gewinnen", stellte Caldorvan fest.
"Soll ich sie stärker bewaffnen?", fragte der Peitschenschwinger. Die Dummheit seiner Worte spiegelte sich in seiner aufgedunsenen Fratze und den blutunterlaufenen Augen.
"Damit ich sie an einen Wanderzirkus verkaufen kann?", fragte Caldorvan und schüttelte den Kopf. "Nein, so ist es recht. Stellt sie in die vorderen Reihen, dass ich sie nicht wiedersehen muss."
"Ihr habt es gehört, Maden! Ab mit euch, meldet euch bei den Speerträgern!"
Gerade hatte Phaeron sich in sein neues Schicksal als Bauernopfer gefügt und folgte den anderen, da packte ihn jemand an der Schulter. Es war Caldorvan, und er sah ihm direkt in die Augen. "Du nicht."
"Mylord?"
"Wie ist dein Name, Mönch?"
"Phaeron ist mein Name."
"Du bist Trellorns Sohn. Wie geht es Lord Yren? Hat er immer noch nicht gesehen, dass meine Sache gerecht ist?"
Phaeron wusste keine richtige Antwort. "Krieg ist niemals gerecht, Mylord."
Caldorvan lachte. "In mein Zelt mit ihm."
Ein paar Augenblicke später, man hatte ihm die Waffe abgenommen, fand Phaeron sich im Hauptzelt wieder, allein mit Lord Torbrin, der sein Schwert auf einen Tisch legte, sich selbst der Rüstung entledigte und beiden einen Krug Wein füllte. "Trink."
Phaeron befolgte den Befehl. "Danke, Mylord."
"Du hast mir nicht geantwortet, Yren."
"Mylord?"
"Du hast gesagt, Krieg sei niemals gerecht. Wenn der Anlass gerecht ist, dann ist der Krieg es auch", sagte Caldorvan mit seiner harten kalten und unverwechselbaren Stimme.
"Wie Ihr meint, Mylord", antwortete Phaeron und trank noch einen Schluck Wein. Er hatte nicht die Absicht, ihm zu widersprechen.
Caldorvan schmetterte die Faust auf den Tisch. "Antworte mir."
Er zögerte. "Mylord?"
"Du sollst sagen, was du denkst! Du bist ohnehin meine Geisel. Was könnte dir Schlimmeres passieren?"
Phaeron dachte an Melnas. "Ich habe da durchaus gewisse Ideen."
Wieder lachte Caldorvan. "Meine Männer sind Dummköpfe. Ich würde euch Mönche laufenlassen oder töten, aber nicht in den Kampf hetzen. Doch Lerhon lässt mir keine Wahl."
"Und da sagt Ihr, der Krieg und Eure Sache wären gerecht?", fragte Phaeron mutig.
"Erkläre das."
"Ihr verweigert dem Prinzen die Treue. Er besitzt Anspruch auf den Thron. Woher kommt der Eure? Verzeiht meine Offenheit."
"Ich habe dir erlaubt, zu sprechen. Und darum antworte ich dir auch: Mein Anspruch begründet sich auf verschiedene Punkte, die ich alle vorgebracht habe. Aber man wollte mich nicht anhören. Zuerst: Wo ist Samgard? Wo ist des Königs Schwert?", fragte Caldorvan.
"Man munkelt, Ihr hättet es geraubt, Mylord..."
Caldorvan trank einen großen Schluck. "Zweitens, sage mir", fuhr er fort, ohne auf den Vorwurf zu antworten, "es besteht eine Verwandschaft zwischen dem Hause Breton und meinem Haus. Aber Lerhon weigert sich, mir eine Position am Hof zu geben. Es steht mir zu. So will es das Gesetz. Ich verlange, was mir gehört!", polterte er, als würde er sich vor Phaeron rechtfertigen müssen.
"Und ist dies nicht etwas, das Ihr mit ihm besprechen müsst und nicht in einem Krieg ausfechten solltet? Tausende Unschuldige fallen jeden Tag."
"Niemand ist unschuldig", brummte er.
"Vor den Göttern sind wir es."
"Das ist Ansichtssache."
"Sind dies all Eure Punkte? Ich bin erstaunt. Ich hätte mit mehr gerechnet", sagte Phaeron vorsichtig. Die gute Stimmung Caldorvans könnte jeden Moment umschlagen.
"Es gibt einen weiteren. Aber es ist spät geworden. Ich benötige Ruhe. Bete zu den Göttern, dass sie dich für unschuldig halten. Dann wirst du den morgigen Tag in der ersten Reihe vielleicht überstehen."
Phaeron glaubte nicht, was er da hörte. "Mylord..."
"Was willst du noch?"
"Ihr sagtet, ich wäre eine Geisel. Wäre es nicht sinnvoll, mich am Leben zu halten?"
"Du fürchtest dich? Deine Zuversicht in die Götter ist nicht sehr groß, hm?", spottete Caldorvan.
"Ihr könntet mit meinem Vater verhandeln und ihm Eure Gründe nennen. Der dritte Grund muss wahrlich überzeugend sein..."
Caldorvan sah ihn eine Weile an. Jeden Moment könnte er einen seiner berüchtigten Ausbrüche bekommen. Aber er blieb ruhig. "Vielleicht."
Die Stimme des Nordmärkers riss Phaeron aus seinen Erinnerungen. "Wir sind da."
Phaeron nickte seinem Begleiter zu, stieg vom Pferd und verabschiedete sich. Dann näherte er sich der Feste Lord Dagharns.
Baelon
Er ritt an der Spitze seiner Männer. Emes führte die rechte Flanke an, die ausschließlich mit Bretonianern besetzt war. Auf der linken Seite ritten Sir Theornon, Roymar und Lady Hlifa mit den Truppenverbänden aus Hohenfels. Stunden hatten sie darüber beraten, was die beste Lösung wäre. Theornon hatte vorgeschlagen, nicht einzugreifen. "Wenn wir das tun, brechen wir unter Umständen den geschlossenen Pakt, ohne es mit Absicht zu tun. Es ist eine Frage der Deutung, Mylord", hatte er gemahnt. Emes war ganz anderer Ansicht gewesen: "Ist er nicht ohnehin schon gebrochen? Mit dem Angriff auf die Festung wurde alles, was vorher als besiegelt galt, vernichtet. Was sagt Ihr dazu, Lord Brioless?"
Martus von Brioless hatte in dieser Sache ein erhebliches Mitspracherecht. "Es geht hier nicht mehr um den Pakt. Jetzt geht es darum, dem Gegner die Stirn zu bieten."
Lethos Mercutio nickte bedächtig. "Wir müssen uns fragen, welchen Schritt sie als nächstes tun. Ich habe bereits versucht, mit Lord Caldorvan in Verbindung zu treten. Entweder haben seine Fähigkeiten sich exponentiell gesteigert oder jemand verhindert einen Kontakt."
"Jemand?", fragte Baelon.
"Es ist möglich, dass der Mann in Schwarz... dass Zhaerius von Maegranth einen Weg gefunden hat, den Untoten entgegen unserer Meinung doch noch zu beherrschen. Oder es ist Tysandra."
Emes schüttelte den Kopf. "Dann wäre aber ein Angriff unnötig gewesen."
"Das ist korrekt", murmelte Theornon, "in dem Fall wäre es unherheblich gewesen. Wir dürfen nicht vergessen, wer hier marschiert ist. Sie hat sich ganz und gar rausgehalten."
"Zumindest offiziell", brummte Hlifa, "sie ist allerdings auch beschäftigt."
Emes hob eine Braue. "Ach ja?"
"Wir erhielten eine Nachricht von meinem Bruder. Also beobachten wir den Eingang zu einem alten Fluchttunnel. Einst war er wohl eine Verbindung zwischen Hohenfels und der Straße nach Thyms Rast. Ist aber schon lange verschüttet. Man hat gesehen, wie Tysandra den Tunnel betreten hat. Wir warten aber noch. Vielleicht finden wir noch heraus, was da vor sich geht."
"Interessant. Nun, was haltet ihr alle für die beste Entscheidung? Es muss etwas getan werden", sagte Baelon.
"Ich sage, wir greifen an", antwortete Brioless. Dass er so entscheiden würde, war für Baelon keine Überraschung. Hier ging es immerhin um Wilderberg.
Theornon schüttelte den Kopf. "Das wäre gedankenlos, mit Verlaub. Noch gab es keine Reaktion Caldorvans auf den Angriff. Wenn er tatsächlich die Malstromwesen nun anführt, dann betrifft es ihn. Außerdem sehe ich für ihn keinen Grund, den Pakt mit Bretonia zu brechen."
"Er war schon immer darauf aus, dem Hause Breton zu schaden", erwiderte Emes.
"Ja, aber er hat es nicht getan. Im Moor hatte er die Gelegenheit, ein Artefakt an sich zu bringen und im Gegenzug einen Platz in Tysandras Hofstaat zu erhalten, sollte sie - was wir verhindern werden - tatsächlich zum Thron des Reiches vordringen. Aber das ist nicht passiert. Es kam zum Kampf gegen ihn, aber er hat ebenso die Söldner Yphilias angegriffen", erklärte Hlifa.
"Wo wir gerade davon reden: Wo befindet sich Yphilia Crenn?", fragte Baelon dann.
Hlifa trank noch einen Schluck Wein. "In der Gewalt von Zhaerius. Warum, wissen wir nicht."
"Wer hat die Attacke auf Wilderberg in Brylods Namen angeführt? Jemand von Crenns Leuten?", fragte Emes.
"Soweit wir wissen, nein. Es war ein Heermeister von Brylod", erklärte Brioless.
Dann brach Roymar sein Schweigen. "Wenn wir jetzt Wilderberg angreifen, werden so viele weitere Malstromwesen aus unseren und deren Gefallenen entstehen, dass die Feste bald wieder unter Caldorvans Kontrolle ist - sollte er die Wesen anführen, und danach sieht es ja aus. So betrachtet brechen wir keinen Pakt, wenn wir marschieren. Aber letztlich werden wir nichts gewinnen."
Theornon und Hlifa stimmten ihm zu. Der Lethos schien nachzudenken. Emes hingegen antwortete sofort: "Wollt Ihr damit sagen, dass es am Ende gleich ist, welcher Eroberer die Festung hält?"
Roymar nickte leicht. "Ist es nicht so? Ich sehe keine großen Chancen. Es würde uns schwächen, wenn wir nun marschieren. Außerdem könnte Caldorvan es ausnutzen, dass wir Kräfte von der Nordgrenze her abziehen. Die Stadt wäre nackt, sie wäre Eisenwall ausgeliefert. Und dort hat Caldorvan Tausende Malstromwesen, Geschütze und weiß Liras welche Ungeheuer noch."
"Das setzt voraus, dass Caldorvan keinen Wert mehr auf den Pakt legt", gab der Lethos erneut zu bedenken. "Aber ich möchte dennoch anmerken, dass in dem Falle auch die Abtei zwar nicht gänzlich ungeschützt, aber durchaus ein Ziel sein würde. Lord Phaeron ließ mir eine Nachricht zukommen, nachdem er sich mit Lord Dagharn besprochen hatte: Er ist davon überzeugt, dass Caldorvan den Stab der Erschaffung an sich gebracht hat. Er muss auf der Insel der Finsternis gewesen sein. Fest steht, der Untote hat Pläne. Welche, kann man jetzt unmöglich voraussagen. Zwar bin ich dafür, dass wir handeln, aber es muss mit Weitsicht geschehen."
Brioless schlug die Faust auf den Tisch. "Hier geht es um den Sitz meiner Familie!"
"Ja. Und zu welchem Preis wollt Ihr jetzt in eine Schlacht ziehen? Gingen die Gefallenen in Lebans Hallen ein, dann würde ich sagen: Jeder Soldat weiß, was geschehen kann, was die Risiken im Kampf sind. Aber jeder Soldat wird nicht sterben, sondern sein wie die Malstromwesen, unter Caldorvans Befehl. Die des Reiches genau wie die Soldaten Brylods", sagte der Lethos. Und Brioless senkte schweigend das Haupt.
Baelon betrachtete ihn einen Augenblick. Die Familie Brioless, eine der ältesten Blutlinien Tectarias, hatte dem bretonischen Reich immer treu gedient, ohne Vorbehalte. Martus wäre der perfekte Kanzler gewesen, aber im Thronfolgekrieg hatte er klargestellt, dass er keinerlei Ansprüche stellte. Er wollte dem Reich an vorderster Front dienen, wie er es immer getan hatte. Und nun war er ein Mann ohne Besitz.
"Lord Brioless, wir alle verstehen Euch. Aber Ihr müsst ebenso erkennen, dass wir zwar gute Chancen haben, Wilderberg zu befreien. Aber wir werden sehr viele Männer an Caldorvan verlieren. Ich halte das für ein sehr großes Risiko. Das ist einer der Gründe, weshalb ich Lord Dagharn befohlen habe, weder Brylod noch Garrilton anzugreifen."
"Ich verstehe das, Mylord. Wirklich. Aber es ist schwer, tatenlos mitanzusehen, was hier geschieht."
"Ja, das ist es. Wir sind momentan verdammt, nichts zu tun, sondern abzuwarten", sagte ausgerechnet Theornon, der nicht unbedingt Konfrontationen scheute.
Emes nickte langsam. "Wir dürfen eines nicht vergessen: Einzig Brylod hat Wilderberg angegriffen. Nicht Garrilton, nicht Tysandra, nicht die Söldner Crenns. Nur Brylod."
"Heißt"?, fragte Baelon, auch wenn er sich die Antwort denken konnte.
"Es bedeutet, dass der Feind eine ganz bestimmte Strategie verfolgt hat. Er hat kalkuliert. Da Brylod mit Tysandra verbündet ist und da die Söldner der Witwe ebenso Tysandra folgen, hätten sie mit einer noch größeren Streitmacht vorgehen können, als sie die Malstromwesen in Wilderberg angegriffen haben. Das haben sie aber nicht. Stattdessen gingen sie das Risiko ein, zu scheitern. Dass sie jetzt die Festung halten, ist ein erfreulicher Nebeneffekt für Tysandra. Ich sage: Mit purer Absicht hat ausschließlich Brylod angegriffen. Um den Pakt zu brechen. Denn aus Caldorvans Sicht ist Brylod Teil des Reiches. Für uns ist er ein elender Verräter, aber nicht für ihn. Es ging um den Pakt."
Baelon sah durch die Runde. Allgemeine Zustimmung war zu erkennen. Wie sehr wünschte er sich nun seinen Vater herbei. Aber Allyen war immer noch in Midgard. Und was man von dort gehört hatte, war wenig ermutigend: Malstromwesen und die Krieger des Winterkönigs führten dort Krieg, und die Menschen waren dazwischen. Das Eis war zurück, und es schien die Winterkrieger zu führen. Aber Wünsche wurden selten wahr. Lariena war eine große Ausnahme. Er hatte ihr Herz erobert, und sie seines. Doch dafür war nun keine Zeit. So hatte er sie gebeten, ein Auge auf Alysare zu halten, bis er zurück wäre.
"Wir sind uns also einig? Lord Brioless?"
"Ja, das sind wir", antwortete er matt.
"Dann ist unser Ziel nicht Wilderberg, sondern der Eisenwall. Wollen wir sehen, ob sie uns einlassen, um mit ihrem neuen Herrn zu sprechen!"
Als sie schließlich die Grenze erreichten, erschienen gleich mehrere Malstromwesen. Einst waren sie vielleicht Milizionäre gewesen, Händler, Bauern oder Handwerker. Und nun waren sie die Erben der Finsternis, die dem dienten, der vor vielen Jahren Lerhon die Treue versagt hatte.
"Was willst du, Kanzler? Noch einmal den Pakt brechen, den du ausgehandelt hast?", fragte eines der Wesen und sah ihn mit leeren Augen an.
"Nein. Aber ich bin bereit, mir den Weg freizukämpfen, bis ich deinen Herrn gefunden habe!"
Noch mehr Wesen kamen. Sie zogen ihre Waffen. Bald standen sich zwei Armeen gegenüber.
Gwayan
Sie hatten einen weiteren Angriff überstanden. Es waren viele Krieger des Winterkönigs gewesen, aber nun hatten Gwayan, die Alte Krähe und das Elementar Beistand. Gemeinsam mit Wyreg und seinen Kriegern hatten sie die Angreifer in die Flucht geschlagen. Nachdem Wyreg die kleine Schar in der Höhle gewittert und aufgespürt hatte, waren sie durch die Klamm gezogen, um in einem Lager, das noch Gylwar vor langer Zeit errichtet hatte, Kraft zu schöpfen. Gwayan hatte Wyreg auf dem Weg den Grund ihrer langen und beschwerlichen Reise erklärt. Wyreg war der Sohn Gylwars, der seinerseits der Heermeister des rechtmäßigen Winterkönigs war. "Ormur ist der wahre König. Ihm dienen wir", hatte Wyreg erklärt. Dann war seinen Worten die Geschichte Ormurs gefolgt. Einst war er bloß einer von vielen Jägern gewesen, die durch das Schelf, das sie Jorgans Rücken nannten, wanderten. Wenn Wyreg von Ormur sprach, dann veränderte sich die tiefe brummende und kehlige Stimme in eine höhere Tonlage, die von Ehrfurcht zeugte. Die Männer im Heerlager schwiegen und lauschten der Geschichte, als würde sie ihnen das erste Mal erzählt werden, obwohl sie ihnen sicher mehr als nur bekannt war. Wyreg nahm noch etwas Fleisch vom heißen Stein, trank etwas und sprach leise weiter.
"Sein Name war nicht immer Ormur gewesen. Seine Eltern tauften den kräftigen Welpen Varungar. Schon früh lernte er die Kunst der lautlosen Jagd und des waffenlosen Kampfes. Als er zehn mal zehn Monde zählte, erschlug er einen Riesen im Zweikampf. Aus einem Rippenknochen fertigte er die Waffe, die er heute noch trägt. Nach dem Tod seines Vaters machten drei große Valkyn ihm den Platz des Anführers streitig, aber den ersten erschlug er, den zweiten warf er gegen einen Fels und den dritten besiegte er, aber er verschonte ihn und machte ihn zu seinem Heermeister - seitdem dient mein Vater ihm treu. Das Rudel wanderte viele Monde über Jorgans Rücken. Und in einer Nacht schien der Mond hell, und der Nebel kam. Beide vereinten sich und stiegen in das Herz unseres Königs. Sie schenkten ihm die Gabe, die Sprache der Menschen, die gerade selbst sprechen lernten, zu verstehen. Alle fühlten, dass Varungar zu Höherem bestimmt war. Mond und Nebel zu beschützen, das große Geheimnis zu beschützen, das ihr Mysterium nennt. Sie haben ihm gesagt, dass er ein Hirte wäre. Ein Hirte seines Volkes, ein Hirte vom großen Geheimnis und ein Hirte des Landes, in dem es seinen Anfang hat. Aber sie sagten auch, dass es Hirten in anderen Völkern geben würde, auch unter den Menschen. Und eines Tages würde man ihn rufen. Aber der Tag war in dieser Nacht noch fern. Im Morgengrauen hörte er eine weitere Stimme. Es war das Land, es war Jorgan, der zu ihm sprach und ihm alles beibrachte, was er wusste. Von seinen Geschwistern hat er gesprochen, von Marja, Tector und allen anderen. Und das Land krönte Varungar zum Winterkönig, der den Weißen Wolf und die Klirrende Krone behüten sollte - für den Kampf gegen das Faulwasser. Denn das Faulwasser, vom Schwarzstern in die Welt gebracht, es würde das Geheimnis vergiften, wenn es nicht aufgehalten werden würde. Als Jorgan fiel, erkannte Varungar, dass es der Schwarzstern war, der ihm seinen Lehrmeister genommen hatte. Und als der Winterkönig den Thron raubte, da sah Varungar das Eis, wie es seine Krone zerschmetterte. So zog Varungar mit seinem Gefolge durch das Land, auf der Suche nach den anderen Hirten vom großen Geheimnis. Sein Weg führte nach Blyr. Ob er dort einen Hirten gefunden hat, können wir nur erahnen. Aber seinen Namen trägt er heute nicht mehr. Heute nennen wir ihn Ormur, denn mit bloßer Hand hat er eine Seeschlange erwürgt, die ihn und die anderen töten wollte, auf dem langen Weg über das gefrorene Meer. Diese Schlange war eine alte Bestie aus den Kriegen zwischen den Elfen und Zwergen. Der Verstand der Bestie war von Dholon vergiftet worden. Dholon, der erste Elaya, den Ormur getötet hatte, denn er war vom rechten Pfad abgekommen und hat seinesgleichen geopfert für die Krähenfrau. Es war die erste Elayafrau, die Dholons Tod wollte, um ihr Volk und auch alle anderen zu schützen. Aber weil Mellwen in Gefahr war und es nicht über ihr großes Herz bringen konnte, Dholon selbst zu töten, hat Ormur es getan. Wir Valkyn halten wenig von den Haarlosen, aber diese eine Frau hat unserem König viel bedeutet. Also ehren wir sie, in dem wir einen der Monde nach ihr benannt haben. Heute nacht ist Mellwen-Mond", sagte Wyreg und zeigte auf den Vollmond.
Gwayan schwieg lange, um die Andacht der Krieger nicht zu unterbrechen. Als einige wieder aßen und tranken, ergriff er endlich das Wort. "Es ist möglich, dass Ormur einem der Hirten begegnet ist. Sein Name ist Erec. Ich kenne ihn."
"Erec? Den Namen haben wir schon einmal gehört", antwortete Wyreg.
Das Elementar hielt Wache, und die Alte Krähe saß auf seiner Schulter. "Tatsächlich?", fragte sie verwundert.
"Eine Frau hat diesen Namen ausgesprochen. Vor langer Zeit, als Jorgan schon gefallen war, als die schwarze Quelle im Süden entstand."
"Wo ist diese Frau jetzt? Ich muss sie sehen", sagte Gwayan. Vielleicht hatte sie noch mehr Antworten auf die tausend Fragen, die ihn und die anderen bewegten.
"Ihre Antworten sind immer mit einem Preis verbunden, Gwayan. Bist du dir also sicher?"
"Ja, das bin ich. Unsere Reise war beschwerlich, wir sind weit gekommen. Aber noch lang nicht am Ziel."
"Ich führe dich morgen zu ihr", sagte Wyreg und nickte.
In der Nacht sangen die Valkyn fremdartige Lieder. Gwayan konnte kein Wort verstehen, und doch wusste er, dass sie alle von Ormur handelten, vom Thron des Winters und Jorgan. Dass das Mysterium hier irgendwie seinen Ursprung hatte, wunderte ihn nicht. Alle Wege schienen hoch in den Norden zu führen. Er fragte sich nur, was sie wirklich dort erwarten mochte. Am nächsten Morgen brach er gemeinsam mit Wyreg auf. Vom Lager aus wanderten sie ein paar Stunden ostwärts, bis sie die Felswand erreichten. "Dies ist der Schwarze Wall", erklärte Wyreg und zeigte hinauf. Zwischen den glatten kahlen Gesteinen waren Adern aus Obsidian zu sehen. Der Berg war nicht schwarz, sondern eher grau. Dazwischen lagen schwarze Streifen aus Vulkanglas. Als hätte der Wall einen feurigen Berg mit bloßer Hand zum Erlöschen gebracht. "Siehst du den Aufstieg dort?"
"Ja", antwortete Gwayan, nachdem er dem Blick Wyregs gefolgt war und eine steile Treppe entdeckt hatte. "Dort ist sie?"
"Dort lebt sie. Ich werde hier unten auf dich warten. Sei vorsichtig. Sie ist sehr alt", sagte Wyreg und gab ihm etwas Wasser mit.
Gwayan stieg die glatten Stufen hinauf. Das Vulkanglas glänzte im fahlen Zwielicht, das sich über Jorgans Rücken wie ein Wintermantel ausbreitete. Es dauerte fast zwei Stunden, da fand er eine Öffnung im Wall. Dort endete auch die Treppe. Fackeln aus Eisen entzündeten sich wie von Geisterhand, und Gwayan fühlte die Wärme der Erde, die bis nach oben in die Höhle stieg. Es war ein natürliches Gewölbe, geformt von Lava und Feuer. Langsam folgte er dem Pfad. Obsidian war überall in den Wänden. Die Waffe gegen das Eis. Ob es sich an diesen Ort wagte?
Am Ende des Ganges breitete sich die Höhle aus, die in der Mitte durch einen scharlachroten Vorhang geteilt war. Er blieb stehen und wartete. Das Brodeln der Erde und ein dumpfes Grollen waren zu hören. Plötzlich spürte er, wie etwas an seinen Füßen krabbelte. Ein Salamander, hier in Eis und Schnee? Gerade wollte er die kleine Echse aufheben, da hörte er die Stimme einer Frau. Sie war tief und zischend, aber dennoch weiblich, verführerisch und abwartend. "Berühre ihn nicht - oder ich werfe dich den Wall hinab wie einen Stein."
"Wer spricht dort?", fragte Gwayan, als er einen Schatten hinter dem Vorhang sah. Der Schatten wurde etwas kleiner, als er sich näherte. Dann sah er ein gelbes Augenpaar, wie es sich aus der Dunkelheit des hinteren Gewölbes näherte. Er erkannte einen Kopf, schwarz, etwas lang gezogen. Darunter war ein dunkler Körper, an dessen Ende der Leib einer Schlange zu sehen war - alles dunkel, denn das Licht der Fackeln konnte nur einen Teil der Höhle erleuchten. "Komm nicht näher, Diener der Erde", zischte die Schlangenfrau.
Er rührte sich nicht. "Ich habe viele Fragen."
"Du hast nur eine einzige Frage."
Gwayan verstand nicht. "Wir sind einen weiten Weg gegangen. Der Thron des Winters... es ist Zeit, ihn und den Weißen Wolf zu befreien."
"Ist es das... ist es das...", zischte sie.
"Es ist meine Überzeugung. Wenn du nicht helfen kannst oder willst, dann werde ich einfach gehen", brummte Gwayan.
"Niemand kommt oder geht ohne meine Erlaubnis."
"Wer bist du?"
"Du hast nur eine einzige Frage", wiederholte sie.
"Du erlaubst mir nur eine?"
"Nein. Aber du hast nur eine einzige Frage", sagte sie wieder. Sie zischte, und schwarze Arme hielten sich am Vorhang fest.
"Aber es sind so viele Dinge, die wir noch nicht wissen."
"Nein. Nur eine einzige Frage bewegt dich. Eine, die du noch nicht kennst. Aber du willst die Antwort wissen."
Und ohne dass er sich irgendwann erinnert hätte, wie er auf die eine Frage gekommen war, stellte er sie doch: "Was ist das Ziel des Jägers aus der Kälte?"
"Alles hat seinen Preis", zischte die Schlangenfrau.
"Nenne ihn."
"Wie lautet der Name deiner Mutter?"
Gwayan wollte Mutter Erde nicht in Gefahr bringen. "Das darf ich nicht sagen."
"Dann verschwinde, und finde die Antwort anderswo!", krächzte sie. Der Vorhang zitterte.
"Nenne einen anderen Preis. Mutter Erde ist das, was ich beschütze."
Die Schlangenfrau lachte. Für einen Moment brannten die Flammen heller. Gwayan erkannte, dass der ganze Körper aus Obsidian war. Die Augen der Schlangenfrau waren in Wahrheit kleine Flammen, die in einem spitz zulaufenden Gesicht züngelten, das entfernt an eine Mischung aus einer Frau und einer Schlange erinnerte. "Dann bist du nicht gut darin, sie zu schützen. Denn sie ist auf dem Weg hierher. Sie hat beinahe den Reifwald erreicht."
"Was? Warum tut sie das? Was willst du ihr antun?", fragte er beunruhigt.
"Nichts. Aber ich möchte ihren Namen wissen, falls sie hierherkommen sollte. Sie und ich, wir sind alte... Freunde. Aber ihren Namen nannte sie nie. Da sie aber meinen kennt, möchte ich den Nachteil ausgleichen. Ein geringer Preis, findest du nicht?"
"Ich warne dich. Sollte ihr etwas geschehen, dann komme ich zurück. Und wir werden nicht reden. Ich werde dich mit aller Macht bekämpfen."
"Wir stehen auf derselben Seite. Es gibt keinen Grund für Hass oder Zorn", zischte sie, als die Flammen wieder kleiner wurden.
"Kelar. Ihr Name ist Kelar, wenn sie in menschlicher Gestalt reist."
Der Vorhang verschwand plötzlich. Die Gestalt kam näher. Gwayan nahm die Keule in die Hand. Er war bereit, sich zu verteidigen. Aber die Schlangenfrau, die ihn um mehr als einen Schritt überragte, beugte sich vor und flüsterte die Antwort auf die gestellte Frage in sein Ohr. "Jetzt... jetzt darfst du gehen."
"Hast du Antworten bekommen?", fragte Wyreg, nachdem Gwayan die Treppe hinabgestiegen war.
"Ja. Ich muss unseren steinernen Begleiter in den Reifwald schicken. Mutter Kelar ist auf dem Weg hierher. Sie darf nicht in die Hände des Winterkönigs gelangen."
Wyreg nickte. "Ein paar meiner Männer werden das Elementar begleiten. Auf welche Fragen hast du eine Antwort erhalten, Gwayan?"
"Der Jäger aus der Kälte... ich weiß, was er will. Wer er ist."
"Er war ein Bruder Jorgans, der Varathessa verraten hat. Das wissen wir bereits", sagte Wyreg.
Gwayan nickte. Als er ihm dann erklärte, wie die Antwort auf die Frage gelautet hatte, sah er denselben entsetzten Blick, den man wohl auch bei ihm selbst gesehen hätte. Es war mehr als das. Es war eine Erschütterung von allem, was alle bisher zu wissen glaubten und niemals hinterfragt hatten. Als sie wieder das Gylwar-Lager erreichten, war aus dem Zwielicht finsterste Nacht geworden. Es war, als würde Jorgans Rücken die Antwort ebenso gehört haben und bereits in die endlose Leere fallen wollen, die hinter dem Thron des Winters lauerte.
Der Mann hinter dem Vorhang
"Es ist ein Reiter eingetroffen, Herr", sagte Claudius Hilmon, der durch Lariena, Aethel und ihre Gefährten aus Tectaria gerettet worden war. Er hatte verschwiegen, dass er Jorgans Versteck kannte.
"Was hast du zu berichten?", fragte Jorgan den Boten.
"Der erste Golem ist in Sicherheit, Pytharas."
"Du sollst mich nicht so nennen. Dazu ist es zu früh."
Nachdem der Mann hinter dem Vorhang, der sich dem Tölpel Claudius gegenüber als Pytharas ausgegeben hatte, den Diener des Meeres wieder fortgeschickt hatte, sah er wieder in den Brunnen. Das Wasser wirbelte umher, und er sah wieder sein Spiegelbild. Der Mann hinter dem Vorhang verwandelte sich zurück. Der Diener im Brunnen lachte. "Du bist wirklich der wahre Meister."
"Ich habe viel zu tun. Ich bin vorbereitet."
"Was soll nun geschehen, mein Herr?"
"Sie glauben wirklich daran, Pytharas finden zu können. Dies wird nicht geschehen. Ich habe dafür Sorge getragen, dass Tysandra ihren Sohn befreien will. Außerdem habe ich Claudius genau dort getroffen, wo sie ihren Plan verfolgen will. Tysandra läuft in eine Falle. Hohenfels bewacht schon die Katakomben. Wir müssen gehen", antwortete der Mann hinter dem Vorhang, hob den Arm und legte eine Hand in das Wasser. Das Gesicht floss in seine Robe, und der Brunnen war leer. Dann nahm der Mann hinter dem Vorhang seinen Stab und stützte sich darauf, als er das Gewölbe durch eine Geheimtür verließ. Im Brunnen hatte er gesehen, dass Esthelion schon in Skjöldbur eingetroffen war. Zhaerius hatte Yphilia zur willigen Dienerin gemacht, und die Schatten aus der Anderwelt hatten eine neue Herrin. Er schmeckte Blut. Es war eigentlich kein Blut, es war Rache. Für alles, was geschehen war. Und seine Rache war Blut, und Blut war seine Rache. Scharlachrot war sie. Genau wie seine Kleidung, sein Stab, sein Haar und besonders seine Augen. Der Scharlachrote Tod erreichte die Oberfläche und blickte auf die Burg, die sich in der Ferne erhob. Einst hatte sein Banner dort geweht.
Alea iacta est.
Die Würfel sind gefallen!
Die Würfel sind gefallen!
Re: Ein scharlachroter Tod
5
Gwendor erkennt seinen Fehler
"Ich glaube, das hier ist eine Falle. Draußen sind Soldaten aus Hohenfels", sagte ein Söldner Yphilias.
"Tysandra selbst hat uns hierhergeschickt. Also wird sie uns auch beschützen", antwortete Gwendor.
"Und woher wissen die davon...?"
Darauf hatte Gwendor von Brylod nicht die geringste Antwort. Und das beunruhigte ihn doch sehr...
Allyens Brummschädel und eine schlaflose Nacht
"Wie meinen?", fragte Allyen. "Sir Allyen... nein, schon gut. Es ist nichts", antwortete Esthelion, der sich dann auf seine Schlafstätte begab. Allyen hatte den ganzen Tag bei den Wachgängen geholfen, danach in der Taverne mit Alikir und Sven Björnbard etwas über den Durst getrunken. Er hatte etwas Kopfschmerzen und war darum höchst erleichtert und erfreut, dass der Ledharthien anschließend seinen Mund hielt und wohl ebenso versuchte, Schlaf zu finden. Im Thronfolgekrieg hatte das Spitzohr dem Eis gedient. Zwar hatte es Theresia auf dem Thron sehen wollen, aber Allyen war weder überzeugt von der ehrenhaften Absicht der eisigen Kreaturen gewesen noch von Esthelions Behauptungen, alles für die Königin getan zu haben. Nein, er hatte etwas vor. Allyen würde wachsam bleiben. Aber nicht heute, denn er brauchte den Schlaf. Nicht wegen der Unmengen Met, zu denen Alikir einen leicht bringen konnte. Es waren die Sorgen um das Reich. Die Zonen, der Pakt, den sein Sohn mit den Wesen geschlossen hatte. Wie lange würden sie noch bestehen, und was würde geschehen, wenn die Gerüchte, dass Caldorvan die Wesen nun führte, stimmten? Dann waren da noch die Schergen dieses Winterkönigs. Hier in Midgard war ein Krieg zwischen den Mächten ausgebrochen. Und wenn das, was man über Tysandra von Aestrinor hörte, wahr wäre - waren es nicht Krähen, die das Fleisch der Gefallenen herbeisehnten? Allyen war kein Freund von Symbolen und Metaphern, aber diese Umstände ließen den Schluss zu, dass die Sagen stimmten; dass Morrighan selbst gekommen war, um zu herrschen und zu speisen. Corvus Corone. Das war der Name, den Abt Aldwyn den Krähen gegeben hatte, wie man sie aus dem Tiefenwald kannte. Allein das Wort wirkte furchteinflößend. Doch dann schüttelte er den Kopf, dankte den Göttern für einen weiteren überstandenen Tag und sprach sein Gebet für das Reich, seine Königin und Kanzler Baelon, seinen Sohn. Und jetzt wollte er schlafen. Als er schon mit einem Bein in seinen Träumen stand, riss ihn hysterisches Gelächter heraus. "Es gibt hier Leute, die wollen schlafen", murrte Allyen. Esthelion nickte kurz. "Verzeiht, Ihr habt recht." Selbst wenn der nichts im Schilde führte, er hatte Allyen zumindest schonmal so weit gereizt, dass er in Gedanken dem Ledharthien die Ohren abschnitt und an Sigandis Ziegen verfütterte! Ärgerlich drehte er sich zur Wand, nachdem er gesehen hatte, wie Esthelion die Augen wieder geschlossen hatte.
"Was verlangst du?", fragte eine Stimme, von der sich Allyen erst überzeugen musste, dass sie nicht Teil eines Traumes war. Als er bemerkte, dass er davon geweckt worden war, vermutete er wieder Esthelion. Aber es war Cleophos, der sprach. Instinktiv hielt Allyen die Augen geschlossen und drehte sich auf die andere Seite, um Cleophos zu zeigen, dass er immer noch schlief. Esthelion antwortete ihm nicht. Mit wem sprach Cleophos dann? Allyen lauschte. Einzig Cleophos sprach, sodass Allyen sich zusammenreimen musste, was hier besprochen wurde: "Gehorsam hat schon einmal jemand von mir verlangt; schau, wohin es geführt hat... Du weißt, was ich will. Und ich weiß, was du willst. Aber was verlangst du von mir, wenn du von Gehorsam sprichst? Da ist mehr... Es ist auf dem Weg hierher?... Was soll getan werden?... Sie werden mich endgültig hassen... Seit du gekommen bist, sehe ich mein Ende voraus... Kannst du es mir beweisen?... Ja, so wird es geschehen..."
Mehr sagte Cleophos nicht. Er berührte die Stirn Esthelions, wie Allyen erkannte, als er vorsichtig blinzelte. Esthelion und Cleophos.
Allyen konnte die ganze Nacht nicht mehr schlafen. Am nächsten Tag wartete er, bis Dakhil abgereist war und Hrafna in die Ostfold aufbrach. Dakhil sollte herausfinden, wohin die Krieger des Winterkönigs den Jungen brachten, der auf seiner Reise nach Midgard von den Winterkriegern entführt worden war. Allyen lief hinaus und folgte Hrafna.
"Wir haben ein Problem, Hetman."
Cleophos
In den Tagen darauf hörte er immer wieder die Stimme, die ihn verführen wollte. Ob sie ihm wirklich das geben könnte, was er sich am meisten wünschte? Wäre es nicht die Stimme der Verführung, Cleophos würde ihr ohne weiteres glauben. Denn seine Sehnsucht war so groß. Dass Skjöldbur auf einer Quelle lag, machte es noch schwerer, nicht den Verstand zu verlieren. Damals, als Jorgan ihm gesagt hatte, dass seine Zeit als Hüter begrenzt wäre, hatte er es akzeptiert. Und die Frau, die er heiraten sollte, sie war wunderschön gewesen. Tysandra. Aber schon in der ersten Nacht war das Bett kalt geblieben. So schön und begehrenswert er sie auch gefunden hatte, weder war er in der Lage gewesen, Liebe zu empfinden noch hatte er den Drang verspürt, ihre vollen Brüste zu berühren oder gar einzudringen in das warme Lager zwischen ihren Schenkeln. Anfangs hatte sie noch geglaubt, er würde ihre Unschuld nicht ausnutzen wollen - so hatte sie es gesagt.
Aber irgendwann war ihr wohl aufgegangen, dass er gar nicht willens war, mit ihr zu schlafen. Sie waren Mann und Frau in einem Gefängnis gewesen. Wenn er in der Nacht an ihrer Seite gelegen hatte, hatte er nicht ihren Herzschlag gehört. Es war zwar ein Pochen gewesen, aber in Wahrheit waren es die Rufe der Quelle, die ihn hatten zurückholen wollen. Warum hatte Jorgan ihn erst zum Hüter gemacht, nur um ihn anschließend bis heute zu quälen? Für Tysandra hatte er damals eine Lösung gefunden. Da er daran geglaubt hatte, dass die Worte Jorgans eine Art Gesetz waren, er also seine Ehefrau nicht verlieren durfte, hatte er zuvor Junker und andere Burschen des Hofes eingeladen, um die Nächte mit ihr zu verbringen, dass sie zufrieden wäre. Die Jünglinge waren es zumindest gewesen. Einmal hatte Cleophos beobachtet, wie sie einem das Gemächt in die Höhe gerieben hatte, um es dann zwischen ihren Lippen zu beglücken. Dann hatte sie sich auf den Bauch gelegt. Eine einzige Regel hatte Cleophos ihr aufgestellt: "Er soll nicht dort eindringen, wo ich als Ehemann meine Aufgabe habe." Also hatte sie den Schwanz des Jünglings in ihren Po gelassen und sich willig am Leib des Burschen gerieben. Aber zufrieden hatte es sie nie gemacht. "Sie braucht einen Sohn", hatte Jorgan befohlen. Wie hatte er erwarten können, dass Cleophos den Willen hätte, einen Nachfolger zu zeugen, wenn er weder die Frau liebte, die er geheiratet hatte noch den Wunsch hatte, ein Kind zu machen? Als er sie mit dem Jüngling beobachtet hatte, da hatte Cleophos seinen eigenen Schwanz gerieben. Aber wie er es auch angestellt hatte, sein Schwanz blieb so kalt und schlaff wie die Lagen kühl und glatt geblieben waren, wenn er selbst im Bett mit Tysandra gelegen hatte.
Eines Tages war ihm Velas in den Sinn gekommen. Er hatte eines der seltenen Treffen mit ihm arrangieren lassen und Tysandra mit ihm bekanntgemacht. Schnell war Cleophos aufgefallen, dass beide einander erkannt hatten. Es war die beste Idee gewesen. Ein Nachkomme, aus Velas Lenden. Von seinen Hausmagiern und am Ende sogar von Esthelion, der nun in Skjöldbur war und seine versprochene Diskretion bis heute aufrechterhalten hatte, hatte Cleophos immer wieder prüfen lassen, ob sie schwanger geworden war. Und nun war das Kind zur Welt gekommen und Tysandra war von Nour ermordet worden. Jetzt gab es Weissagungen, die vielleicht auch dieses Kind betrafen, in dem ein Dybbuk ruhte. Und Tysandra war zurückgekehrt. Als Dienerin Morrighans. Oder Morrighan selbst?
In seinen Gedanken versunken und die Stimme zu ignorieren versuchend, saß Cleophos auf seiner Schlafstätte und lehnte an der Wand des Gemeinschaftshauses. Hier war er nun. Wenn die Spiegel eingesetzt worden wären, dann würde Sir Allyen ihn mitnehmen und Kanzler Baelon übergeben. Für Verbrechen, die er begangen hatte für Jorgan. Weil Jorgan - oder Pytharas? - ihm befohlen hatte, was tun wäre. Der Handel mit Lirhan, das Herz, sich Dakhil zum Schein anzuschließen, die Insel verlassen, eine Frau heiraten, die er weder mit seinem Herzen noch mit seinem Gemächt lieben konnte; den Fischer aller Fischer ermorden und so viele andere Dinge. Und wozu hatte es geführt? Ja, hier war er nun.
Ein scharrendes Geräusch riss ihn aus den trübsinnigen Gedanken und Erinnerungen. Esthelion hatte auch sein Lager im Gemeinschaftshaus aufgeschlagen. Sir Allyen schlief wieder, nachdem er sich vorher über Esthelions Gelächter beschwert hatte - denn offenbar war auch der Ledharthien in Gedanken verloren. Cleophos hatte es kaum gehört. Aber das Scharren wirkte viel lauter. Er sah, wie Esthelion, der in eine Trance versunken war, sich am Holz seiner Schlafstätte festhielt; daher kam das Geräusch. Vorsichtig näherte sich Cleophos. Der Schweiß auf der Haut Esthelions war kalt, wie er durch eine langsame Berührung feststellte. Aber er wachte nicht auf. Manchmal sagte er unverständliche Dinge in seiner Sprache. Theralia unterdrückte Cleophos Kräfte des Traumlesens. Zu schade. Vielleicht hätte er etwas herausgefunden, es den anderen berichten können und sie würden ihm glauben, dass er nichts im Schilde führte. Denn auch wenn sie sagten, dass sie ihm glaubten, aber nur seine Methoden missachteten, er hielt das für wenig überzeugend. Wenn Allyen ihn mitnehmen würde, niemand würde ihn vermissen oder den Ritter der Königin aufhalten, ihn wenigstens bitten, alles zu überdenken. Allyen könnte behaupten, Cleophos wäre entkommen und die Suche wäre wegen der Malstromwesen und der Krieger des Winterkönigs sinnlos und zu riskant. Aber das würde nicht geschehen. Die Selbstgerechtigkeit derjenigen, die ihn verurteilten, war so vollkommen, dass sie als Ehre und Weisheit erschien. Niemand sonst schien das zu bemerken. Keiner schien es zu erkennen und sich daran zu stören. Er hatte alles für Jorgan getan. Alles. Aber niemand erkannte es. Niemand wollte verstehen, wie groß und einflussreich allein die Stimme dieses Mannes gewesen war. Darum hatte Cleophos ein Detail verschwiegen, als sie ihn kürzlich am Feuer nach Jorgan gefragt hatten. Nicht nur deshalb. Auch weil sie es verdienten: Nur wenn sie etwas brauchten, weihten sie ihn in die Ereignisse ein. An allen anderen Tagen war Cleophos für sie nur ein fehlgeleiteter Narr, der einzig auf seiner eigenen Seite stand. Dass er in Wahrheit helfen wollte, wer von ihnen würde das schon ernsthaft denken?
"Ich lasse dich sehen, was Esthelion sieht. Aber ich verlange einen Gefallen von dir...", flüsterte die Stimme der Verführung.
"Was verlangst du?", fragte Cleophos leise. Allyen drehte sich zur Seite. Er schlief. Gut. Die Stimme antwortete.
Nach einer kurzen Unterhaltung hatte Cleophos zugestimmt. Es war ein annehmbarer Preis dafür, dass er sein Wissen über Esthelions Traum preisgeben würde für ein wenig mehr Vertrauen. Außerdem: Was hatte er schon zu verlieren?
So sah Cleophos alles, was Esthelion sah. Und noch mehr. "Du bist ein Scharlachroter Tod", sagte das Obsidianorakel zu ihm. "Ich kenne diese Worte. Was bedeuten sie?"
Die Schlange verwandelte sich in Jorgan - oder in den, den er immer dafür gehalten hatte. "Habe ich mit dir gesprochen?", fragte er feindselig und zeigte auf ihn. Cleophos sah an sich herab. Er trug scharlachrote Kleidung und einen Stab. An der Spitze glühte ein roter Schädel.
Erec
Nachdem er Ormur erklärt hatte, was er in den letzten Tagen und Wochen herausgefunden hatte, gingen sie zum Golem. Erec sprach das Losungswort, und der eiserne Kumpan bewegte den Kopf. Sein treuer Begleiter, der Luchs, musterte derweil den stolzen Valkyn. "Du hast einen interessanten Gefährten", brummte Ormur, "er versteht jedes Wort."
"Ja, dieses Gefühl habe ich auch. Nicht nur wittert er jede Gefahr und ist ein guter Kämpfer, er leistet mir Gesellschaft. Hier ist es oft einsam, auch wenn ich die Einsamkeit bewusst gesucht habe", sagte Erec, und der Golem schien zu warten, bis er und Ormur bereit wären.
"Auch ich habe nach meiner größten Niederlage die Einsamkeit gesucht. Wäre nicht Mellwen gewesen, ich hätte nimmer mehr zu meiner alten Kraft gefunden. Damals wanderte ich allein und ohne Träume über Jorgans Rücken, denn alle Träume waren vom Eis vernichtet worden."
Erec nickte. "Auch ich wandelte durch ein solch finsteres Tal. Nach dem ...Tod... meines Bruders wollte ich sterben. Aber gleich wie ich es versuchte, gleich wie ich meinem Leben ein Ende setzen wollte, es gelang mir nicht. Ich konnte nicht sterben. Meine Mutter empfing mich, nachdem die Finsternis mein Herz in Versuchung geführt hatte. Sie und Enyra waren es, die mir neuen Mut gaben. Und wenn ich recht überlege, vielleicht war ich es selbst. Vielleicht wusste ich, dass meine eigentliche Aufgabe noch vor mir lag. Und ich glaube, dass ich sie gefunden habe, hier, als Hüter dieses Eilandes, seiner Quelle und seines Wissens."
"Alles, was heute geschieht, hat vor langer Zeit angefangen. Vielleicht mit dem Geheimnis. Oder dem Schwarzstern. Oder... dem Eis", sagte Ormur, und der Luchs musterte ihn.
"Mit Mond und Nebel, nicht wahr?", fragte Erec. Denn wenn es einen Anfang gab, dann war er dort. Was auch immer es war, es schien sich durch die Jahrhunderte gebohrt zu haben wie eine Raupe, die ihren Weg in die Freiheit sucht, um als Schmetterling neu geboren zu werden. Dann erschrak Erec, als er die Bedeutung dieses Vergleiches bemerkte. Aber Ormur schien dies großzügig zu überhören.
"Mond und Nebel sind unsere steten Begleiter. Ich persönlich glaube, dass sie das Geheimnis sind."
"Ja, das ist möglich. Ich hoffe, dass wir bald Antworten bekommen. Wenn schon Jorgan nicht gefunden werden will, müssen wir es auf diese Weise versuchen."
Ormur schien nun sehr besorgt. "Ich frage mich, wieso er nicht antwortet. Jorgan muss von meiner Rückkehr erfahren haben. Er muss doch sehen, wie die Menschen leiden, wie das Eis und Dholon, der Winterkönig, marschieren. Und sieht er nicht das Elend, das die Plage des Malstroms über alle Länder gebracht hat? Beinahe macht es mich zornig. Und dann muss ich hören, dass ein Betrüger sich für Jorgan ausgibt."
"Vielleicht finden wir auch darüber etwas heraus", sagte Erec, gab dem Luchs ein Stück Fleisch und sah dann zum Golem. Ormur nickte und lauschte, die Arme verschränkt und abwartend.
"Hüter", sagte die metallene Stimme des Golems.
Erec erinnerte sich an Ormus mahnende Worte, dass sein Titel Respekt bedeuete. Also korrigierte er den Golem heute nicht mehr. "Ich grüße dich. Mein Begleiter und ich haben Fragen. Zuerst beantworte mir diese Frage: Wie erklärst du Unendlichkeit?"
Der Golem antwortete: "Unendlichkeit bezeichnet die Negation oder Aufhebung von Endlichkeit, weniger präzise auch deren Gegenteil. Das Unendliche – im Sinne von: das Nichtendliche – ist der direkten menschlichen Erfahrung unzugänglich und am ehesten mit dem Begriff der unbegrenzten Weite zu assoziieren."
Ormur runzelte die Stirn. "Das bringt uns weiter?", fragte er skeptisch.
Erec musste schmunzeln. "Mal sehen... Golem, wie stellt man die Unendlichkeit dar?"
"Das Symbol für die Unendlichkeit ist die liegende 8. In der Zahlenmystik ist diese Zahl ein Begriff des Unendlichen."
"Kennst du andere Wege, die Unendlichkeit darzustellen?", fragte Erec.
"Nein."
Schließlich zeigte Erec dem Golem seine Zeichnungen des sich ewig wiederholenden Drudenfußes und der Bäume des Pytharas. "Und das hier? Ist dies nicht Unendlichkeit?"
"Nein."
"Was ist es dann?", brummte Ormur etwas ungeduldiger. Erec gab dem Golem zu verstehen, dass er auch Ormurs Fragen beantworten könne.
"Dies ist Selbstähnlichkeit."
"Was ist das?", fragte Erec.
Der Golem erklärte: "Selbstähnlichkeit im engeren Sinne ist die Eigenschaft von Gegenständen, Körpern, Mengen oder geometrischen Objekten, in größeren Maßstäben, also bei Vergrößerung dieselben oder ähnliche Strukturen aufzuweisen wie im Anfangszustand. Diese Eigenschaft wird unter anderem von der pytharischen Lehre untersucht, da pytharische Objekte eine hohe und manchmal gar perfekte Selbstähnlichkeit aufweisen."
"Die Bäume, die Druden, sie sind also nicht unendlich, sondern selbstähnlich. Eine endlose Wiederholung. Ist dies nicht Unendlichkeit?"
"Nein."
"Erkläre das", sagte Erec.
"Unendlichkeit ist ein Mittel, eine Selbstähnlichkeit zu entdecken. Daraus ersieht man verschachtelte und sich ewig wiederholende Strukturen. Im Makrokosmus wie im Mikrokosmus."
"Also müssen wir in die Unendlichkeit sehen, um dies zu entdecken, um diese Selbstähnlichkeit zu verstehen, die Wiederholung des ewig Gleichen?", fragte Erec.
"Ja."
Er nickte. "Ist das Mysterium also nicht Unendlichkeit, sondern die Wiederholung von... Geschichte?"
"Ja."
"Gut. Erkläre mir, wieso ich in den Druden - in der Selbstähnlichkeit - diese Geburtstage entdeckt habe. Dies ist kein Zufall, oder?"
Der Golem antwortete: "Von Zufall spricht man dann, wenn für ein einzelnes Ereignis oder das Zusammentreffen von mehreren Ereignissen keine kausale Erklärung gegeben werden kann. Als kausale Erklärungen für Ereignisse kommen in erster Linie allgemeine Gesetzmäßigkeiten oder Absichten handelnder Personen in Frage. Die Erklärung Zufall ist also gerade der Verzicht auf eine Erklärung."
"Ist das ein Ja oder ein Nein?", fragte Ormur, nun weniger ärgerlich als neugierig.
"Dies ist kein Zufall", sagte der Golem.
"Also hat eine Person oder ein Gesetz damit zu tun", schloss der Valkyn.
"Ja."
"Wer?", fragte Erec.
"Du, Hüter."
Erec hob verwundert beide Brauen. "Bitte... erkläre das."
"Du hast Berechnungen angestellt und Noten in Zahlen und Gleichungen gesetzt. Dann hast du die Wiederholung, die Selbstähnlichkeit entdeckt. Du warst es, der dieses Gesetz aufgestellt hat."
Ormur schüttelte den Kopf. "Erec hat etwas entdeckt, ja. Aber es war schon vorher da - oder nicht?"
"Ja."
"Dann sag uns, Golem", fuhr Ormur fort, "wer hat es verursacht?"
"Pytharas."
"Aha...", knurrte Ormur und sah zu dem Luchs, der Erecs Pergamente betrachtete.
Erec hingegen stellte sofort eine weitere Frage. "Pytharas war ein Mathematiker. Wir wissen, dass er Jorgans Geist aufgenommen hat. Wo ist er nun?"
"Unbekannt."
"Dann sage mir, Golem, hat auch er dieses Gesetz nur entdeckt oder hat er es verursacht?"
"Pytharas hat es verursacht, als er die Geburt des Mysteriums gesehen hat."
"Die Geburt?", fragten Ormur und Erec gleichzeitig, sodass der Golem einen Augenblick irritiert schien, bevor er beiden antwortete. "Ja."
"Was bedeutet das?", fragte Erec dann.
"Das Mysterium ist auf dieser Karte zu sehen", erklärte der Golem und zeigte auf Erecs Pergamente, "die Karte zeigt, wer die Hirten sind."
Erec bemerkte, wie Ormur den Atem anhielt, aber er stellte dem Golem und nicht ihm seine Frage. "Die Hirten... alle, die hier zu sehen sind oder nur die Überschneidungen?"
"Nur die, die sich überschneiden."
"Einer fehlt uns noch. Weißt du, wer es ist?"
"Der Scharlachrote Tod und der Jäger aus der Kälte."
"Das wären zwei...", sagte Ormur, der bei beiden Begriffen geknurrt hatte. Auch der Luchs schien beunruhigt und fauchte leise.
"Der Scharlachrote Tod wird kommen, wenn der Bann über den Roten gebrochen ist, und seine Sehnsucht kennt keine Grenze, hat er doch nur ein Kleid. Der Jäger aus der Kälte wird kommen, wenn der Bann über den Roten gebrochen ist, und seine Sehnsucht kennt keine Grenze, hat er doch nur ein Kleid", antwortete der Golem, obwohl niemand eine Frage gestellt hatte. Aber bevor Erec oder Ormur eine stellen konnten, schlug Grann die Tür zur Taverne auf. Der alte Kelte war ganz außer Atem. "Wir werden angegriffen", rief er.
Schnell schaltete Erec den Golem aus und versteckte die Pergamente in einer Truhe. Der Luchs knurrte und wich ihm nicht von der Seite, als Erec Ormur nach draußen folgte. "Warte hier", rief er Grann zu und nahm seinen Stab zur Hand. Ormur trat zuerst hinaus. Draußen auf dem Platz sahen sie die Krieger des Winterkönigs. Es waren sieben Krieger, die sich im Halbkreis der Taverne näherten. "Verschwindet! Hier ist der wahre Winterkönig, ihr Diener eines seelenlosen Emporkömmlings!", knurrte Ormur und nahm die Waffe zur Hand. Aber die Krieger wichen nicht und stürmten heran. Bevor einer von ihnen Erec erreichen konnte, hatte Ormur seinen Schädel gespalten. Der Luchs machte einen großen Satz und biss in die Kehle des nachfolgenden Kriegers. Ormur nahm sich einen weiteren vor. Erec parierte einen Angriff mit dem Stab, aber es waren zuviele. Zwar waren Ormur und der Luchs sehr schnell, aber im Gegensatz zu Hrabanus war Erec nie ein guter Kämpfer mit dem Stab gewesen. Eine Klinge aus Mondeisen traf seine Schulter und er musste den Stab fallenlassen, als er nach hinten stolperte. Dann warf ein anderer Krieger ein Beil. Der Luchs erreichte ihn zwar und warf ihn zu Boden, während Ormur einen anderen Krieger niederstreckte, aber das Beil schien seinen Weg zu finden. Erec hörte Schritte hinter sich. "Nein, nicht!", rief er, als Grann sich dazwischen warf und von dem Wurfbeil zu Boden gerissen wurde. "Nein!"
Ormur sah kurz hinter sich, als die verbliebenen Krieger sich alle Erec näherten. Zusammen mit dem Luchs versperrte er ihnen den Weg. Das war das Ende. Doch plötzlich ging einer der Krieger zu Boden, als ein Pfeil ihn getroffen hatte. Ein Feuerball folgte aus weiterer Entfernung, jenseits des antimagischen Bereiches, den die Krieger als ihren Verbündeten stets mit sich trugen. Ormur schwang seine Waffe und tötete einen Krieger, während der Luchs bei Erec blieb, der sah, wie Grann die Augen für immer geschlossen hatte. Ein schwarzer Panther kam aus dem Dickicht und streckte den letzten Krieger nieder, als Erec wieder nach vorn sah und Fynn und Aethel erblickte, die sich schnell näherten. Der Luchs fauchte und ging in Angriffshaltung, als der Panther sich langsam näherte. Beide Katzen waren bereit, zu kämpfen.
"Nicht!", rief Aethel, während Fynn seinen Bogen auf den Panther richtete. Nur langsam konnte sich die schwarze Katze beruhigen und fauchte leise, bis sie sich verwandelte und Nour die toten Krieger des Winterkönigs betrachtete. Erec stand auf und warf einen traurigen Blick zu Grann. "Er ist tot...", sagte er leise.
"Die Waffen des Winterkönigs lassen Gefallene nicht verwandeln, aber ich möchte sichergehen", sagte Aethel. Erec nickte, und sie ließ den alten Mann verbrennen. Damit war der einzige Mensch, den Erec hier kannte, von ihm gegangen. "Danke, dass ihr gekommen seid", sagte Erec. Von den Bergen her hörten sie ein lautes Knurren. Grennwyr und seine Wölfe eilten herbei. "Freunde von dir?", fragte Nour. "Ja."
Die Werwölfe sicherten das Dorf. "Dass sie jetzt kommen, die Winterkrieger, sagt mir, dass wir auf der richtigen Spur sind. Wo ist Varcus?", fragte Erec. "Auf dem Schiff. Ich werde ihn gleich holen", antwortete Nour. Der Luchs blieb bei Erec, als er gemeinsam mit Ormur, Aethel und Fynn die Taverne betrat.
Velas
Als er die Nachricht von Ofeigur bekommen hatte, war Velas sofort gemeinsam mit Bephemos aufgebrochen. Brulund war zum Glück nicht weit von Terra Brumalis entfernt. Es war ihnen gelungen, Dholon aus den Händen der Krieger des Winterkönigs zu befreien. Aber sie hatten etwas mit dem Elaya gemacht. Um ihn vor sich selbst zu schützen und herauszufinden, was genau geschehen war, hatten die Brulunder Dholon in eine Starre versetzt und anschließend durch Traumwasser schlafen lassen. Ein Ecaloscop zeichnete seine Träume auf. Aber es waren Albträume, die ihn plagten. Und es schien, als würde jemand auf diese Weise versuchen, Dholons Seele zu stehlen. Wenn der Winterkönig der erste Elaya Dholon war, ohne Seele, musste er der Dieb sein. Ein weiterer Versuch, das Kostbarste zu stehlen, was Sterbliche zu bieten hatten. Liurroccar hatte alles vorbereitet, um gemeinsam mit den Hütern und ihren Gefährten in Dholons Traum einzudringen, um ihn zu verteidigen. Velas sollte nun alles mit dem Ecaloscop überwachen und im Notfall einschreiten. Sie würden Türen finden müssen, um bis in das Traumzimmer zu gelangen, in welchem Liurroccar Dholon eingesperrt hatte. Es war der sicherste Weg, das wusste auch Velas. Ein Traumzimmer war ein künstlich erschaffenes Konstrukt mit kontrollierten Bedingungen - der beste Weg, die Träume eines anderen zu erkunden, ohne ihm zu schaden. Nur die mächtigsten Traumleser wären in der Lage, dem Träumenden hier zu schaden. Velas warnte Bephemos, dass niemand aufwachen dürfte. Und wenn er selbst einschlafen würde, wäre es Herons und Bephemos Aufgabe, das Ecaloscop zu steuern. Das Traumlesen war eine komplizierte Angelegenheit; das Eindringen in einen Traum war noch schwieriger, denn der Träumende würde jeden Eindringling - egal ob Freund oder Feind - als Bedrohung deuten und sich verteidigen. In Träumen war alles möglich. Es wäre ein gefährliches Unternehmen: Für jeden Traumleser, für jeden Träumer und auch für den Dieb.
Der süße Duft des Traumwassers stieg als dampfender Rest aus dem Kessel, nachdem Liurroccar und die anderen daraus getrunken hatten. Velas wartete, bis alle Eindringlinge eingeschlafen waren, dann erstellte er eine geistige Übersichtskarte der Traumlandschaften, die wie die Schalen einer Zwiebel den Kern, das Traumzimmer, umschlossen. Besorgt schaute er immer wieder zu Liuroccar. Nicht etwa, weil er nicht an ihre Kraft glauben würde, denn sie war mindestens so fähig geworden wie er selbst. Beide hatten an Kraft gewonnen, und ihm war es, als wäre es seine Liebe zu ihr, die dies möglich gemacht hatte. Liuroccar hatte ihn Tysandra und die Vergangenheit vergessen lassen. Erst recht, seit er wusste, dass Tysandra zurückgekehrt war als Dienerin Morrighans oder gar Morrighan selbst. Nein, für Tysandra empfand er nichts mehr. Vielleicht Bedauern, dass es so hatte enden müssen - aber selbst sein Bedauern wurde überragt von seinen unbestreitbaren Gefühlen für Liurroccar, die für Velas gleichsam Heilung wie auch Neubeginn bedeutete. Als die Krähe ihm in Brumalis erschienen war, hatte Namid sie verjagt. Doch selbst wenn sie geblieben wäre, sie hätte es niemals geschafft, Velas zu täuschen. Voller Zuversicht sah er nun in eine neue Zukunft, in der er mit Liurroccar zusammen wäre, fern vom Krieg, fern von den dunklen Geschehnissen, die sie zur Zeit umgaben.
Die erste Traumlandschaft entstand in Brulund. Er sah stets, was die Träumenden sahen. Und sie erblickten Velas in riesiger Gestalt. So etwas geschah oft in den Träumen: Perspektiven wechselten oder verzerrten sich. Ausdruck der Albträume, die den eigentlich Träumenden plagten; Zeichen für das Verschieben von Ansichten, das Verändern von feststehenden Dingen. Wandel. Velas fand die erste Tür und ließ sie in der Nähe von Albertus entstehen. Die zweite Landschaft war die Insel der Finsternis. Dholon bemerkte die Eindringlinge und rief Malstromwesen herbei, damit sie die Brulunder töten würden. Wer in einem Traum sterben würde, der würde aufwachen - dies durfte nicht geschehen. Ein Komet näherte sich der Insel der Finsternis, um sie zu versenken. Die schwarze Wolke war dort und griff die Brulunder an. Hrabanus hatte den Komet gerufen und wollte die Tür, die Velas gefunden hatte, verschließen. Die Brulunder kämpften gegen die Traumgestalten Dholons. Plötzlich erkannte Velas, was hier geschehen war: Caldorvan hatte auf der Insel der Finsternis die Macht der Erschaffung und den Stab gestohlen, der einst Hrabanus zum Verhängnis geworden war. Durch seine Gier und seinen Wunsch, geliebt zu werden, war Hrabanus der Finsternis verfallen. Dies alles war ein Plan von Zhaerius gewesen, dem Mann in Schwarz. Nachdem Velas diese Ereignisse binnen einer Sekunde gesehen hatte, ließ er ein Traumbild Caldorvans entstehen. Das Traumbild der Finsternis erschrak und erstarrte. Es gelang schließlich, die Tür zu betreten, nachdem Liurroccar die durch die Nähe des Kometen schäumende See benutzt hatte, sich selbst und die anderen fortzuspülen.
In der dritten Traumlandschaft fanden sich die Brulunder in dem Gewölbe wieder, das in den Vulkan östlich Blyrtindurs geführt hatte. Dholon ließ Wächter entstehen, um die Eindringlinge loszuwerden. Während Velas nach der nächsten Tür suchte, erschien Esthelions Traumbild. Er nannte Dholon seinen Vater. Der Winterkönig war der Vater Esthelions.
Aber Velas sah noch mehr: Plötzlich blendete ihn ein Licht, das kein Licht war. Es waren Eis und Schnee, denn vor ihm breitete sich eine endlose Ödnis aus, die von Reif und Frost benetzt war und an einem Wald endete. Wie der Wind reiste Velas weiter in den Norden, bis er zu seiner Linken eine Klamm sah, überschattet von einem schwarzen Felsen, so riesig wie das Land, in dem er wandelte. Eine Treppe führte in eine Höhle, und dort fand Velas eine Schlange. Sie war schwarz wie Obsidian, und ihre Augen waren Feuer. Bevor ein Zischen der Obsidianschlange ihn hinauswarf, erblickte er einen Mann. Er trug ein scharlachrotes Gewand und einen Stab gleicher Farbe. An der Spitze des Stabes war ein glühender Totenschädel angebracht. Das Haar des Mannes loderte in Flammen, und in der anderen Hand hielt er ein Gesicht. Es sah aus, als hätte jemand einen Stein in einen Weiher geworfen, und die sich in Kreisen ausbreitenden Wellen würden Augen, Wangen, eine Nase und ein Lächeln zaubern. Während Velas in die Tiefe stürzte, entdeckte er die Tür. Er konnte nur warten, bis die anderen sie endlich betreten würden. Als er unten am Wall gelandet war, trieb ihn ein Sturm weiter in den Norden. Er passierte einen Palast aus Eis, und dahinter war es dunkel. Das fahle Licht des Schwarzsterns formte einen schwachen Strahl, der die einzige sichtbare Quelle für die Augen eines Sterblichen war. Dort sah er ein Wesen, ganz aus Eis geformt. In der Hand des Jägers war ein eisiger Bogen zu sehen, und ein Pfeil verließ eine Sehne aus Reif. Es regnete Mondeisen, als das Geschoss den Stern traf. Der Jäger lag am Boden und hatte die Augen geschlossen. War er der Seelendieb? Wollte er Dholons Seele stehlen? Nein, es war etwas anderes. Im Sternenhimmel formte sich eine Tür, und Velas Name stand darauf. Er öffnete sie und sah einen anderen Mann. Es war Cleophos.
Dann verschwanden die Bilder. Es hatte nur eine Sekunde gedauert, da waren die Brulunder durch die letzte Tür gegangen. Da war es, das Traumzimmer. Albtraumwesen bewachten die schwebende Ruine in den Sternen. Im Zentrum lag Dholon, daneben war der Traumdieb zu sehen, der Seelendieb. Entfernt erinnerte die Kreatur an einen Schatten aus der Anderwelt. Jemand hatte aus der Welt hinter dem Schleier einen Geist gerufen, um Dholons Seele zu rauben. Aber es war nicht der Winterkönig, es war nicht der Jäger aus der Kälte. Der Komet, der die Insel vernichten sollte, näherte sich den Ruinen. Als Velas den Schwarzstern sah, wie er sein schwaches Licht auf das Gewölbe warf, erkannte er den Dieb: Es war der Mann in Schwarz!
Während die Brulunder sich zum Zentrum vorkämpften, spürte Velas, wie ein Stich seine Schläfen durchfuhr. Er hielt sich am Ecaloscop fest. "Bephemos... Zhaerius..., er versucht, mich zu fangen. Heron muss weitermachen, ich verliere... das Bewusstsein..." Dann sah er noch, wie Heron eilig das Ecaloscop bediente und spürte, wie Bephemos seine Schultern hielt und ihn zu Boden sinken ließ. Velas fand sich auf einem Platz wieder. Er roch Feuer, wie es einen Mann verbrannte. Scheiterhaufen konnte er sehen. Die Bürger der unbekannten Stadt jubelten, als die Flammen größer wurden, und der Brennende sang ein Lied. "Es war einmal ein kleines Ei, das lag auf einem grünen Blatt. Eine Raupe klein wohnte darin fein und die wollte ganz schnell raus. Es wurde ihr darin zu eng. Sie stieß sich aus dem Ei geschwind. Und sie krabbelt schnell. Und sie krabbelt flink. Denn der Hunger war sehr groß. Sie begann mit einem grünen Blatt, doch das macht sie noch lang nicht satt. Und sie krabbelt schnell. Und sie krabbelt flink. Denn der Hunger war sehr groß. Am Montag fraß sie einen Apfel, Dienstag dann die Birnen. Mittwoch Pflaumentag, oh, wie sie das mag. Doch der Hunger ging nicht weg. Die Erdberr'n kamen Donnerstag, Orangen dann am Freitag. Samstag Kuchentag. Sonntag war sie satt. Und der Hunger war gestillt. Da baute sie sich schnell ein Haus, Kokon kannst du auch sagen. Zwei Wochen lang schlief sie tief und fest in diesem Kokon. Doch was war da geschehen? Heraus kam keine Raupe mehr. Ein Schmetterling! Ein Schmetterling! Ein Schmetterling flog raus." Bevor er das Lied wiederholen konnte, war der Mann vollständig verbrannt. Aber nachdem alle Menschen den Platz verlassen hatten, flog seine Asche durch den Wind davon, formte sich zu einer Krähe und stieg in den Himmel. In der Menge hatte Velas wieder den anderen Mann gesehen, in scharlachroter Gewandung, mit dem Stab in der Hand. In seiner anderen Hand war aber nicht mehr das Gesicht gewesen, sondern eine Öllampe. Der Name Ricardus Schwarzstern stand darauf, und auf der anderen Seite hatte Velas die Zahlen gesehen.
Er hatte keine Zeit, das Gesehene zu ordnen, da geschah etwas Neues: Wieder sah er Cleophos, dessen Kleidung dem Fremden ähnelte. "Du bist ein Scharlachroter Tod", sagte ein alter Mann zu Cleophos, der gerade aus der Quelle Blyrtindurs getrunken hatte. Plötzlich stand Tysandra an der Quelle. Sie trug das rote Kleid, das Velas ihr geschenkt hatte. "Du bist ein Scharlachroter Tod", wiederholte der alte Mann. Und er sagte es wieder, als Velas sich selbst an der Quelle sah - der Ort wandelte sich, und Velas sah wieder die Insel der Finsternis. Cleophos saß auf einem Thron und neben ihm war Tysandra. Schließlich veränderte sich das Gesicht seines Bruders - Velas sah, wie er selbst über die Insel herrschte. "Wenn das, was nimmer frei sein durfte, frei ist, nur um auffällig unfrei zu werden, auf einem Eiland aus Eisen, wächst der Unfrieden heran, der von einer Krähe getragen wird, nur um als scharlachroter Tod dort einzukehren, wo die Dunkelheit den Namen eines verwunschenen Mönches trägt", sagte der alte Mann.
Esthelion trat an Velas Seite. Der alte Mann lächelte, als Tysandra zwei Kinder in ihren Armen hielt. Velas sah seinen eigenen Sohn. Das andere Kind kannte er nicht. "Wer ist der Jäger aus der Kälte?", fragte eine unbekannte Stimme, die einem Oger gehörte. Velas war wieder in der Höhle. Aber die Antwort kam nicht von der Obsidianschlange, sondern von dem alten Mann, als Velas zurück auf der Insel der Finsternis war:
"Vier Kinder. Eines überlebt, eines erbt, eines siegt, eines wird glücklich." Esthelion lächelte und zeigte auf einen Valkyn - es war Ormur. Die Umgebung veränderte sich wieder.
Ormur und Erec sprachen mit einem Golem. War dies Alt-Blyrtindur? Der alte Mann beobachtete die beiden und hielt die Hand einer alten Frau. "Ich bin Alysare", sagte sie. Dann sah Velas ein Mädchen. Die Räumlichkeiten wandelten sich im nächsten Moment in die Kanzlei Bretonias. Das Mädchen spielte mit einem kleinen Holzpferd. Es nahm ein Pergament zur Hand, das aus dem Pferd gefallen war.
"Das ist, was ich brauche", sagte der alte Mann zu Velas, der die Kleidung des Kanzlers trug. Baelon lag auf einer Totenbahre, getragen von Frauen, deren Haare wie Flammen loderten. Daneben sah Velas die Königin. Ihre Bahre wurde von keinem getragen. Tysandra, Cleophos und der Fremde standen im Kreis und betrachteten die Toten. "Wer ist der Jäger aus der Kälte?", fragte die Stimme des Ogers, der nicht zu sehen war. "Er ist der Feind dessen, der aus Feuer geboren wurde. Sein Banner hatte auf hohen Felsen geweht. Sein Zeichen. Und ich sage dir noch mehr...", sprach eine weibliche Stimme. Es war die Schlange. Aber Velas konnte sie nicht mehr verstehen. "Wer ist der Scharlachrote Tod?", fragte er plötzlich, ohne es zu wollen. Der alte Mann antwortete: "Er ist der, der aus Feuer geboren wurde."
Yassir gewinnt ein Wettrennen
"Keine Sorge, Alim. Dein Vater wird diesen Krieg nicht führen müssen", sagte der Korsar und musterte die besorgten Augen des jungen Prinzen. Sie hatten die Küste erreicht und waren auf ein Lager Qabels gestoßen. An jedem anderen Tag, erst recht in diesen Zeiten, hätte Alims Vater der Horde und ihren Verbündeten, Yassirs Bande, den Angriff befohlen, und sie hätten unter großen Verlusten den Sieg errungen. Aber die Zeiten waren andere. Jeder Tote verwandelte sich in einen Diener des Fahlen Skorpions. Ihre Augen wurden dann leer, ihre Haut grau, und sie verloren ihr Haar. Auf dem Weg zur Kuppel hatten sie die Auswirkungen der Plage erlebt, als sie gegen die Krieger vom Schwarzen Kreuz gekämpft hatten. Die Plage betraf auch sie. Jeder Krieger, den Yassir mit seinen schnellen Bewegungen und dem Wassertanz in die Welt jenseits des Lebens schicken wollte, erwachte nach kurzer Zeit als stinkendes und seelenloses Wesen. Garraz-Bahal hatte sie alle vor der Abreise gewarnt. Die alte Hexe aus den Silberdünen diente den Flammen, die nicht Amur gehörten. Amurs Feuer war ein lodernder Wall aus Gnade für seine Diener und Hass gegen die Ungläubigen. Aber das Feuer von Garraz-Bahal loderte nicht in Amurs Namen. Die Kräfte, die in den Silberdünen am Werke waren, sie lauschten auf andere Namen, die niemand kannte und welche die Hexe niemals preisgegeben hätte. "Geht nicht zur Küste, denn hinter dem Glas der Zendavesta lauert der Jäger aus der Kälte. Und jeder Tote wird sein wie er oder wie der fahle Skorpion." Das waren ihre Worte gewesen, bevor sie am gleichen Abend versucht hatte, Iskander zu vergiften. Der Heermeister des Khagans hatte es gewagt, ihre Höhle zu betreten und sie in ihrer wahren Gestalt gesehen. Eine Schlange, doch mit einem menschlichen Kopf. Ihre Haut glänzte schwarz, und in den Augen war ihr Feuer. Amils Vater war in die Höhle eingedrungen und mit dem Schwert des Vaters seines Vaters hatte er die Hexe niedergestreckt. Als sie wie Glas zersprungen war, wurden ihre Überreste flüssig und glühten. Sie setzte sich wieder zusammen, wie in den Legenden, die Yassir von den Priestern im Tal des Feuers gehört hatte. Ja, ihre Reise stand unter schlechten Sternen. Aber auch wenn Yassir wenig von den starren Begriffen wie Ehre, Blut und Jihad hielt, es ging nun um das Überleben des Volkes.
"Er wird dich besiegen. Dieser Krieger, er ist kein Mensch", flüsterte Alim, als sie sich berieten, um Yassirs beste Strategie gegen den Vertreter der Flammenreiterinnen herauszufinden. Als sie das Lager entdeckt hatten, waren ihnen die Scheiterhaufen am Ufer zuerst aufgefallen. Erst hatten sie geglaubt, dass Qabel hier seine Toten verbrennen würde, dass sie sich nicht verwandelten. Denn dies schien der einzige Weg zu sein. Aber es brannten keine Kranken in den roten Flammen, die sich im Meer spiegelten, als wäre eine Armee Ifriti den Fluten entstiegen. Yassir und Hamit hatten sich im Schutze der Nacht herangeschlichen, um die Anzahl der Wachen zu bestimmen und herauszufinden, ob Khagan Qabel auch dort wäre. Zweihundert Bewaffnete hatten sie ausgemacht. Aber etwas anderes bereitete nun Alims Vater größere Sorgen: Dort verbrannten keine Toten, keine von der Plage befallenen Krieger. Es waren lebende gesunde Menschen. Auf jedem der Pfähle, woran sie festgebunden waren, hatten Krähen gesessen. Nicht irgendwelche Krähen. Yassir hatte auf seinen Fahrten, die ihn bis in den großen Wald im Bretonenland geführt hatten, von Morrighan gehört, der Krähenfrau. Ihre Dienerinnen, die Krähen, waren schlauer und stärker als die gewöhnlichen Vertreter ihrer Art. Und die Vögel, die auf den Pfählen dem Feuer zugesehen hatten, sie waren nicht verbrannt. Die Haut der Krieger hatte erst Blasen geworfen, war angeschwollen, verflüssigte sich und schälte sich dann von verkohlenden Knochen und brennendem Fleisch wie man eine Dattel schälte. Aber sie waren nicht gestorben. Jeder der Krieger, die alle freiwillig durch das Feuer gegangen waren, hatte sich danach wie ein neuer Mensch erhoben. Mit scharlachroter Haut und Augen aus Feuer. Qabel hatte zufrieden zugesehen, im Kreise von Reiterinnen, deren Pferde aus Flammen waren.
Nachdem Yassir und Hamit berichtet hatten, hatte Amils Vater einen Unterhändler in das Lager entsandt. "Sie drohen uns. Sie bieten einen Zweikampf an. Wenn wir gewinnen, lassen sie uns ziehen. Verlieren wir, werden wir Teil ihrer Flammen. Qabel hat einen Pakt mit dem Feuer geschlossen, das nicht Amur ist", hatte der Unterhändler nach seiner Rückkehr gesagt. Und Amils Vater hatte entschieden: "Wir nehmen die Herausforderung an. Aber wenn wir diesen Zweikampf verlieren, müssen wir uns beugen. Dies erfordert die Ehre." "Dann lasst uns lieber einen Angriff wagen. Wenn wir fallen, werden wir zu den Wesen des Fahlen Skorpions. Verlieren wir diesen Zweikampf, fallen wir gleichermaßen und werden wie sie. Ein offener Kampf ist unsere beste Chance, mein Khagan", hatte Iskander zu Bedenken gegeben. Aber das Wort des Khagans war Gesetz. Er hatte selbst den Zweikampf bestreiten wollen, doch Hamit, Iskander und Hassan hatten natürlich Einwände vorgebracht.
Eine wilde Diskussion war entbrannt, die ausgerechnet Yassir beendet hatte. Jetzt fragte er sich zwar, wie dumm er war, es zu tun, aber sein Herz sagte ihm, dass es der einzige Weg wäre, Amils Vater zu retten. Yassir mochte den jungen Prinzen. Er hatte es verdient, wenigstens noch ein paar Wochen etwas von seinem Vater zu haben, bevor sie vermutlich an der Kuppel ertrinken oder jenseits von ihr durch diesen Jäger aus der Kälte getötet werden würden. Ihre Reise war eine Reise mit einem einzig denkbaren Ende: Tod. Aber sie waren Hun. Und sie kämpften bis zum Ende. "Ich werde es tun. Ich bin nur ein Pirat. Aber ich bin ein schlauer Räuber, ein fähiger Mann. Lasst mich es tun. Amur mag meine Methoden verachten, aber ich bin ebenso sein Diener wie ihr alle. Das weiß er, das wisst ihr ebenso." So war es entschieden worden.
"Und wenn schon. Von mir aus kann er ein Riese sein oder sogar Feuer scheißen. Ich weiche nicht", antwortete Yassir und schmunzelte.
Iskander nickte. "Nutze deine Schnelligkeit. Ich glaube, das ist alles, was du gegen ihn vorbringen kannst, Korsar."
"Es liegt in deiner Hand", sagte Hamit.
"Für Amur", sprach der Khagan schlicht.
"Für Amur", wiederholten alle.
Am Ufer versammelten sich die Krieger beider Horden. Die Reiterinnen bildeten einen Kreis um Qabel, so wie es die Krieger von Amils Vater bei ihrem Khagan taten. Yassir nahm Schild und Säbel zur Hand. Sein langes Haar hatte er zu einem Zopf gebunden, und eine Rüstung lehnte er ab. "Macht langsam."
Qabel hatte seinen stärksten Krieger in den Zweikampf berufen. Auch er war im Feuer gewesen. Seine Haut leuchtete wie Feuer, seine Waffen waren aus schwarzem Glas. Aus brennenden Augen grinste er seinen Gegner an. Yassir war sicher zwei Köpfe kleiner als der Hüne der Flammen. "Du hast den ersten Schlag, Feuermann. Aber sage mir, bist du nun immer noch ein Hurensohn, ein Sohn der Flammen oder beides?", fragte Yassir und erwiderte das Grinsen. Dann tänzelte er leichtfüßig umher, bis der erste Hieb seinen Schild zerteilte. "Den brauche ich sowieso nicht, Schweinenase", rief er. Dem zweiten Schlag wich er aus, dann rollte er zur Seite und führte einen lustlos scheinenden Stoß gegen die Seite des Hünen aus. Wütend schnaubte sein Gegner, fuhr herum und setzte den nächsten Schlag in den Sand. Yassir sprang über das Obsidianschwert hinweg und schlug mit der flachen Seite des Säbels gegen die Rüstung seines Gegners. "Leuchtet dein Schwanz wie deine Augen? Muss er, sonst findest du ihn nicht. Du weiß ja, was man so sagt..."
Als der Hüne brüllte, loderten die Feueraugen wie ein großer Brand - Yassir war für einen Moment abgelenkt, und das Schwert traf seine Schulter. Brennender Schmerz durchfuhr ihn, als er stolperte und der Gegner die Klinge erhob und sie niedersausen ließ. Yassir hatte seinen Säbel verloren und rollte durch den Sand. Das Schwert verfehlte ihn. Qabel und die seinen lachten und klatschten. Yassir blieb liegen. Er suchte Amils Blick, der besorgt die Faust ballte. Dann zwinkerte Yassir ihm zu. Er nahm etwas Sand und warf ihn dem Hünen in die feurigen Augen. Er war geblendet. Schnell sprang Yassir auf und trat dem Gegner in den Hintern, duckte sich weg, wenn er nach ihm schlug. Er lief rückwärts. "Na komm schon, hier bin ich!" "Nimm deinen Säbel, beende es, jetzt!", rief Amils Vater. Aber Yassir dachte nicht daran, die Ufernähe, die er nun erreicht hatte, zu verlassen. Als er das kühle Meer an den Knöcheln spürte, musste er grinsen. Wassertanz. Der Hüne hatte seine Sicht wieder und stapfte wütend voran. Yassir lief noch ein paar Schritte, dann sprang er in die Fluten. Er tauchte einmal herab, dann warf er sich nach oben wie ein fliegender Fisch. Schon tanzte er auf dem Wasser, das wie ein sanfter Teppich unter ihm lag. Erst stieg Dampf auf, als der Feuerkrieger das Meer berührte. Dann wurde das Glühen in den Augen schwächer. Der Hüne wurde langsamer. Yassir nahm Anlauf, sprang mehr als zwei Schritt hinauf und landete auf den Schultern des Kriegers, dessen Haut an Farbe verloren hatte. Er packte den Kopf und drückte den Rumpf des Kriegers mit seinem Gewicht unter Wasser. Yassir stand nun bis zu den Hüften im Meer und drehte den Kopf seines Gegners einmal herum. Er hatte gesiegt.
Der Mann hinter dem Vorhang
"Es ist ein Reiter eingetroffen, Herr", sagte Claudius Hilmon, der durch Lariena, Aethel und ihre Gefährten aus Tectaria gerettet worden war. Er hatte verschwiegen, dass er Jorgans Versteck kannte.
"Was hast du zu berichten?", fragte Jorgan den Boten.
"Der erste Golem ist in Sicherheit, Pytharas."
"Du sollst mich nicht so nennen. Dazu ist es zu früh."
Nachdem der Mann hinter dem Vorhang, der sich dem Tölpel Claudius gegenüber als Pytharas ausgegeben hatte, den Diener des Meeres wieder fortgeschickt hatte, sah er wieder in den Brunnen. Das Wasser wirbelte umher, und er sah wieder sein Spiegelbild. Der Mann hinter dem Vorhang verwandelte sich zurück. Der Diener im Brunnen lachte. "Du bist wirklich der wahre Meister."
"Ich habe viel zu tun. Ich bin vorbereitet."
"Was soll nun geschehen, mein Herr?"
"Sie glauben wirklich daran, Pytharas finden zu können. Dies wird nicht geschehen. Ich habe dafür Sorge getragen, dass Tysandra ihren Sohn befreien will. Außerdem habe ich Claudius genau dort getroffen, wo sie ihren Plan verfolgen will. Tysandra läuft in eine Falle. Hohenfels bewacht schon die Katakomben. Wir müssen gehen", antwortete der Mann hinter dem Vorhang, hob den Arm und legte eine Hand in das Wasser. Das Gesicht floss in seine Robe, und der Brunnen war leer. Dann nahm der Mann hinter dem Vorhang seinen Stab und stützte sich darauf, als er das Gewölbe durch eine Geheimtür verließ. Im Brunnen hatte er gesehen, dass Esthelion schon in Skjöldbur eingetroffen war. Zhaerius hatte Yphilia zur willigen Dienerin gemacht, und die Schatten aus der Anderwelt hatten eine neue Herrin. Er schmeckte Blut. Es war eigentlich kein Blut, es war Rache. Für alles, was geschehen war. Und seine Rache war Blut, und Blut war seine Rache. Scharlachrot war sie. Genau wie seine Kleidung, sein Stab, sein Haar und besonders seine Augen. Der Scharlachrote Tod erreichte die Oberfläche und blickte auf die Burg, die sich in der Ferne erhob. Einst hatte sein Banner dort geweht.
Der Scharlachrote Tod entfernte sich und fand einen Ruheplatz in der Ebene der Vergessenen. Dort entfachte er mit dem Stab ein Feuer und schaute in die Flammen. Schon sah den Leib aus Obsidian, aus dem er geboren war, nachdem man ihn verbrannt hatte. "War er bei dir, Mutter?", fragte er. "Ja." "Hast du ihm seine Frage beantwortet?" "Ja." "Gut. Es wird ihm helfen, meinen Feind zu finden...", sagte der Scharlachrote Tod, der Jäger aus dem Feuer. Gwayan hätte die Macht, den Jäger aus der Kälte zu vernichten - das ideale Werkzeug.
Als die Obsidianschlange, die ihn ausgebrütet hatte, aus den Flammen verschwand, schaute der Jäger aus dem Feuer über das Land hinweg. Damals war er als Mensch gekommen, um als Mensch zu herrschen. Heute trug er einen neuen Namen. Er lächelte, als er Kanzler Baelon und seine Begleiter sah, wie sie sich dem Eisenwall näherten, um in den Krieg gegen die Plage zu ziehen. Dass der Mann in Schwarz aus Feuer geboren wurde, machte ihn in gewisser Weise zu seinesgleichen. Wie töricht von Ricardus Schwarzstern, zu glauben, er hätte eine Chance gegen das wahre Feuer.
Gwendor erkennt seinen Fehler
"Ich glaube, das hier ist eine Falle. Draußen sind Soldaten aus Hohenfels", sagte ein Söldner Yphilias.
"Tysandra selbst hat uns hierhergeschickt. Also wird sie uns auch beschützen", antwortete Gwendor.
"Und woher wissen die davon...?"
Darauf hatte Gwendor von Brylod nicht die geringste Antwort. Und das beunruhigte ihn doch sehr...
Allyens Brummschädel und eine schlaflose Nacht
"Wie meinen?", fragte Allyen. "Sir Allyen... nein, schon gut. Es ist nichts", antwortete Esthelion, der sich dann auf seine Schlafstätte begab. Allyen hatte den ganzen Tag bei den Wachgängen geholfen, danach in der Taverne mit Alikir und Sven Björnbard etwas über den Durst getrunken. Er hatte etwas Kopfschmerzen und war darum höchst erleichtert und erfreut, dass der Ledharthien anschließend seinen Mund hielt und wohl ebenso versuchte, Schlaf zu finden. Im Thronfolgekrieg hatte das Spitzohr dem Eis gedient. Zwar hatte es Theresia auf dem Thron sehen wollen, aber Allyen war weder überzeugt von der ehrenhaften Absicht der eisigen Kreaturen gewesen noch von Esthelions Behauptungen, alles für die Königin getan zu haben. Nein, er hatte etwas vor. Allyen würde wachsam bleiben. Aber nicht heute, denn er brauchte den Schlaf. Nicht wegen der Unmengen Met, zu denen Alikir einen leicht bringen konnte. Es waren die Sorgen um das Reich. Die Zonen, der Pakt, den sein Sohn mit den Wesen geschlossen hatte. Wie lange würden sie noch bestehen, und was würde geschehen, wenn die Gerüchte, dass Caldorvan die Wesen nun führte, stimmten? Dann waren da noch die Schergen dieses Winterkönigs. Hier in Midgard war ein Krieg zwischen den Mächten ausgebrochen. Und wenn das, was man über Tysandra von Aestrinor hörte, wahr wäre - waren es nicht Krähen, die das Fleisch der Gefallenen herbeisehnten? Allyen war kein Freund von Symbolen und Metaphern, aber diese Umstände ließen den Schluss zu, dass die Sagen stimmten; dass Morrighan selbst gekommen war, um zu herrschen und zu speisen. Corvus Corone. Das war der Name, den Abt Aldwyn den Krähen gegeben hatte, wie man sie aus dem Tiefenwald kannte. Allein das Wort wirkte furchteinflößend. Doch dann schüttelte er den Kopf, dankte den Göttern für einen weiteren überstandenen Tag und sprach sein Gebet für das Reich, seine Königin und Kanzler Baelon, seinen Sohn. Und jetzt wollte er schlafen. Als er schon mit einem Bein in seinen Träumen stand, riss ihn hysterisches Gelächter heraus. "Es gibt hier Leute, die wollen schlafen", murrte Allyen. Esthelion nickte kurz. "Verzeiht, Ihr habt recht." Selbst wenn der nichts im Schilde führte, er hatte Allyen zumindest schonmal so weit gereizt, dass er in Gedanken dem Ledharthien die Ohren abschnitt und an Sigandis Ziegen verfütterte! Ärgerlich drehte er sich zur Wand, nachdem er gesehen hatte, wie Esthelion die Augen wieder geschlossen hatte.
"Was verlangst du?", fragte eine Stimme, von der sich Allyen erst überzeugen musste, dass sie nicht Teil eines Traumes war. Als er bemerkte, dass er davon geweckt worden war, vermutete er wieder Esthelion. Aber es war Cleophos, der sprach. Instinktiv hielt Allyen die Augen geschlossen und drehte sich auf die andere Seite, um Cleophos zu zeigen, dass er immer noch schlief. Esthelion antwortete ihm nicht. Mit wem sprach Cleophos dann? Allyen lauschte. Einzig Cleophos sprach, sodass Allyen sich zusammenreimen musste, was hier besprochen wurde: "Gehorsam hat schon einmal jemand von mir verlangt; schau, wohin es geführt hat... Du weißt, was ich will. Und ich weiß, was du willst. Aber was verlangst du von mir, wenn du von Gehorsam sprichst? Da ist mehr... Es ist auf dem Weg hierher?... Was soll getan werden?... Sie werden mich endgültig hassen... Seit du gekommen bist, sehe ich mein Ende voraus... Kannst du es mir beweisen?... Ja, so wird es geschehen..."
Mehr sagte Cleophos nicht. Er berührte die Stirn Esthelions, wie Allyen erkannte, als er vorsichtig blinzelte. Esthelion und Cleophos.
Allyen konnte die ganze Nacht nicht mehr schlafen. Am nächsten Tag wartete er, bis Dakhil abgereist war und Hrafna in die Ostfold aufbrach. Dakhil sollte herausfinden, wohin die Krieger des Winterkönigs den Jungen brachten, der auf seiner Reise nach Midgard von den Winterkriegern entführt worden war. Allyen lief hinaus und folgte Hrafna.
"Wir haben ein Problem, Hetman."
Cleophos
In den Tagen darauf hörte er immer wieder die Stimme, die ihn verführen wollte. Ob sie ihm wirklich das geben könnte, was er sich am meisten wünschte? Wäre es nicht die Stimme der Verführung, Cleophos würde ihr ohne weiteres glauben. Denn seine Sehnsucht war so groß. Dass Skjöldbur auf einer Quelle lag, machte es noch schwerer, nicht den Verstand zu verlieren. Damals, als Jorgan ihm gesagt hatte, dass seine Zeit als Hüter begrenzt wäre, hatte er es akzeptiert. Und die Frau, die er heiraten sollte, sie war wunderschön gewesen. Tysandra. Aber schon in der ersten Nacht war das Bett kalt geblieben. So schön und begehrenswert er sie auch gefunden hatte, weder war er in der Lage gewesen, Liebe zu empfinden noch hatte er den Drang verspürt, ihre vollen Brüste zu berühren oder gar einzudringen in das warme Lager zwischen ihren Schenkeln. Anfangs hatte sie noch geglaubt, er würde ihre Unschuld nicht ausnutzen wollen - so hatte sie es gesagt.
Aber irgendwann war ihr wohl aufgegangen, dass er gar nicht willens war, mit ihr zu schlafen. Sie waren Mann und Frau in einem Gefängnis gewesen. Wenn er in der Nacht an ihrer Seite gelegen hatte, hatte er nicht ihren Herzschlag gehört. Es war zwar ein Pochen gewesen, aber in Wahrheit waren es die Rufe der Quelle, die ihn hatten zurückholen wollen. Warum hatte Jorgan ihn erst zum Hüter gemacht, nur um ihn anschließend bis heute zu quälen? Für Tysandra hatte er damals eine Lösung gefunden. Da er daran geglaubt hatte, dass die Worte Jorgans eine Art Gesetz waren, er also seine Ehefrau nicht verlieren durfte, hatte er zuvor Junker und andere Burschen des Hofes eingeladen, um die Nächte mit ihr zu verbringen, dass sie zufrieden wäre. Die Jünglinge waren es zumindest gewesen. Einmal hatte Cleophos beobachtet, wie sie einem das Gemächt in die Höhe gerieben hatte, um es dann zwischen ihren Lippen zu beglücken. Dann hatte sie sich auf den Bauch gelegt. Eine einzige Regel hatte Cleophos ihr aufgestellt: "Er soll nicht dort eindringen, wo ich als Ehemann meine Aufgabe habe." Also hatte sie den Schwanz des Jünglings in ihren Po gelassen und sich willig am Leib des Burschen gerieben. Aber zufrieden hatte es sie nie gemacht. "Sie braucht einen Sohn", hatte Jorgan befohlen. Wie hatte er erwarten können, dass Cleophos den Willen hätte, einen Nachfolger zu zeugen, wenn er weder die Frau liebte, die er geheiratet hatte noch den Wunsch hatte, ein Kind zu machen? Als er sie mit dem Jüngling beobachtet hatte, da hatte Cleophos seinen eigenen Schwanz gerieben. Aber wie er es auch angestellt hatte, sein Schwanz blieb so kalt und schlaff wie die Lagen kühl und glatt geblieben waren, wenn er selbst im Bett mit Tysandra gelegen hatte.
Eines Tages war ihm Velas in den Sinn gekommen. Er hatte eines der seltenen Treffen mit ihm arrangieren lassen und Tysandra mit ihm bekanntgemacht. Schnell war Cleophos aufgefallen, dass beide einander erkannt hatten. Es war die beste Idee gewesen. Ein Nachkomme, aus Velas Lenden. Von seinen Hausmagiern und am Ende sogar von Esthelion, der nun in Skjöldbur war und seine versprochene Diskretion bis heute aufrechterhalten hatte, hatte Cleophos immer wieder prüfen lassen, ob sie schwanger geworden war. Und nun war das Kind zur Welt gekommen und Tysandra war von Nour ermordet worden. Jetzt gab es Weissagungen, die vielleicht auch dieses Kind betrafen, in dem ein Dybbuk ruhte. Und Tysandra war zurückgekehrt. Als Dienerin Morrighans. Oder Morrighan selbst?
In seinen Gedanken versunken und die Stimme zu ignorieren versuchend, saß Cleophos auf seiner Schlafstätte und lehnte an der Wand des Gemeinschaftshauses. Hier war er nun. Wenn die Spiegel eingesetzt worden wären, dann würde Sir Allyen ihn mitnehmen und Kanzler Baelon übergeben. Für Verbrechen, die er begangen hatte für Jorgan. Weil Jorgan - oder Pytharas? - ihm befohlen hatte, was tun wäre. Der Handel mit Lirhan, das Herz, sich Dakhil zum Schein anzuschließen, die Insel verlassen, eine Frau heiraten, die er weder mit seinem Herzen noch mit seinem Gemächt lieben konnte; den Fischer aller Fischer ermorden und so viele andere Dinge. Und wozu hatte es geführt? Ja, hier war er nun.
Ein scharrendes Geräusch riss ihn aus den trübsinnigen Gedanken und Erinnerungen. Esthelion hatte auch sein Lager im Gemeinschaftshaus aufgeschlagen. Sir Allyen schlief wieder, nachdem er sich vorher über Esthelions Gelächter beschwert hatte - denn offenbar war auch der Ledharthien in Gedanken verloren. Cleophos hatte es kaum gehört. Aber das Scharren wirkte viel lauter. Er sah, wie Esthelion, der in eine Trance versunken war, sich am Holz seiner Schlafstätte festhielt; daher kam das Geräusch. Vorsichtig näherte sich Cleophos. Der Schweiß auf der Haut Esthelions war kalt, wie er durch eine langsame Berührung feststellte. Aber er wachte nicht auf. Manchmal sagte er unverständliche Dinge in seiner Sprache. Theralia unterdrückte Cleophos Kräfte des Traumlesens. Zu schade. Vielleicht hätte er etwas herausgefunden, es den anderen berichten können und sie würden ihm glauben, dass er nichts im Schilde führte. Denn auch wenn sie sagten, dass sie ihm glaubten, aber nur seine Methoden missachteten, er hielt das für wenig überzeugend. Wenn Allyen ihn mitnehmen würde, niemand würde ihn vermissen oder den Ritter der Königin aufhalten, ihn wenigstens bitten, alles zu überdenken. Allyen könnte behaupten, Cleophos wäre entkommen und die Suche wäre wegen der Malstromwesen und der Krieger des Winterkönigs sinnlos und zu riskant. Aber das würde nicht geschehen. Die Selbstgerechtigkeit derjenigen, die ihn verurteilten, war so vollkommen, dass sie als Ehre und Weisheit erschien. Niemand sonst schien das zu bemerken. Keiner schien es zu erkennen und sich daran zu stören. Er hatte alles für Jorgan getan. Alles. Aber niemand erkannte es. Niemand wollte verstehen, wie groß und einflussreich allein die Stimme dieses Mannes gewesen war. Darum hatte Cleophos ein Detail verschwiegen, als sie ihn kürzlich am Feuer nach Jorgan gefragt hatten. Nicht nur deshalb. Auch weil sie es verdienten: Nur wenn sie etwas brauchten, weihten sie ihn in die Ereignisse ein. An allen anderen Tagen war Cleophos für sie nur ein fehlgeleiteter Narr, der einzig auf seiner eigenen Seite stand. Dass er in Wahrheit helfen wollte, wer von ihnen würde das schon ernsthaft denken?
"Ich lasse dich sehen, was Esthelion sieht. Aber ich verlange einen Gefallen von dir...", flüsterte die Stimme der Verführung.
"Was verlangst du?", fragte Cleophos leise. Allyen drehte sich zur Seite. Er schlief. Gut. Die Stimme antwortete.
Nach einer kurzen Unterhaltung hatte Cleophos zugestimmt. Es war ein annehmbarer Preis dafür, dass er sein Wissen über Esthelions Traum preisgeben würde für ein wenig mehr Vertrauen. Außerdem: Was hatte er schon zu verlieren?
So sah Cleophos alles, was Esthelion sah. Und noch mehr. "Du bist ein Scharlachroter Tod", sagte das Obsidianorakel zu ihm. "Ich kenne diese Worte. Was bedeuten sie?"
Die Schlange verwandelte sich in Jorgan - oder in den, den er immer dafür gehalten hatte. "Habe ich mit dir gesprochen?", fragte er feindselig und zeigte auf ihn. Cleophos sah an sich herab. Er trug scharlachrote Kleidung und einen Stab. An der Spitze glühte ein roter Schädel.
Erec
Nachdem er Ormur erklärt hatte, was er in den letzten Tagen und Wochen herausgefunden hatte, gingen sie zum Golem. Erec sprach das Losungswort, und der eiserne Kumpan bewegte den Kopf. Sein treuer Begleiter, der Luchs, musterte derweil den stolzen Valkyn. "Du hast einen interessanten Gefährten", brummte Ormur, "er versteht jedes Wort."
"Ja, dieses Gefühl habe ich auch. Nicht nur wittert er jede Gefahr und ist ein guter Kämpfer, er leistet mir Gesellschaft. Hier ist es oft einsam, auch wenn ich die Einsamkeit bewusst gesucht habe", sagte Erec, und der Golem schien zu warten, bis er und Ormur bereit wären.
"Auch ich habe nach meiner größten Niederlage die Einsamkeit gesucht. Wäre nicht Mellwen gewesen, ich hätte nimmer mehr zu meiner alten Kraft gefunden. Damals wanderte ich allein und ohne Träume über Jorgans Rücken, denn alle Träume waren vom Eis vernichtet worden."
Erec nickte. "Auch ich wandelte durch ein solch finsteres Tal. Nach dem ...Tod... meines Bruders wollte ich sterben. Aber gleich wie ich es versuchte, gleich wie ich meinem Leben ein Ende setzen wollte, es gelang mir nicht. Ich konnte nicht sterben. Meine Mutter empfing mich, nachdem die Finsternis mein Herz in Versuchung geführt hatte. Sie und Enyra waren es, die mir neuen Mut gaben. Und wenn ich recht überlege, vielleicht war ich es selbst. Vielleicht wusste ich, dass meine eigentliche Aufgabe noch vor mir lag. Und ich glaube, dass ich sie gefunden habe, hier, als Hüter dieses Eilandes, seiner Quelle und seines Wissens."
"Alles, was heute geschieht, hat vor langer Zeit angefangen. Vielleicht mit dem Geheimnis. Oder dem Schwarzstern. Oder... dem Eis", sagte Ormur, und der Luchs musterte ihn.
"Mit Mond und Nebel, nicht wahr?", fragte Erec. Denn wenn es einen Anfang gab, dann war er dort. Was auch immer es war, es schien sich durch die Jahrhunderte gebohrt zu haben wie eine Raupe, die ihren Weg in die Freiheit sucht, um als Schmetterling neu geboren zu werden. Dann erschrak Erec, als er die Bedeutung dieses Vergleiches bemerkte. Aber Ormur schien dies großzügig zu überhören.
"Mond und Nebel sind unsere steten Begleiter. Ich persönlich glaube, dass sie das Geheimnis sind."
"Ja, das ist möglich. Ich hoffe, dass wir bald Antworten bekommen. Wenn schon Jorgan nicht gefunden werden will, müssen wir es auf diese Weise versuchen."
Ormur schien nun sehr besorgt. "Ich frage mich, wieso er nicht antwortet. Jorgan muss von meiner Rückkehr erfahren haben. Er muss doch sehen, wie die Menschen leiden, wie das Eis und Dholon, der Winterkönig, marschieren. Und sieht er nicht das Elend, das die Plage des Malstroms über alle Länder gebracht hat? Beinahe macht es mich zornig. Und dann muss ich hören, dass ein Betrüger sich für Jorgan ausgibt."
"Vielleicht finden wir auch darüber etwas heraus", sagte Erec, gab dem Luchs ein Stück Fleisch und sah dann zum Golem. Ormur nickte und lauschte, die Arme verschränkt und abwartend.
"Hüter", sagte die metallene Stimme des Golems.
Erec erinnerte sich an Ormus mahnende Worte, dass sein Titel Respekt bedeuete. Also korrigierte er den Golem heute nicht mehr. "Ich grüße dich. Mein Begleiter und ich haben Fragen. Zuerst beantworte mir diese Frage: Wie erklärst du Unendlichkeit?"
Der Golem antwortete: "Unendlichkeit bezeichnet die Negation oder Aufhebung von Endlichkeit, weniger präzise auch deren Gegenteil. Das Unendliche – im Sinne von: das Nichtendliche – ist der direkten menschlichen Erfahrung unzugänglich und am ehesten mit dem Begriff der unbegrenzten Weite zu assoziieren."
Ormur runzelte die Stirn. "Das bringt uns weiter?", fragte er skeptisch.
Erec musste schmunzeln. "Mal sehen... Golem, wie stellt man die Unendlichkeit dar?"
"Das Symbol für die Unendlichkeit ist die liegende 8. In der Zahlenmystik ist diese Zahl ein Begriff des Unendlichen."
"Kennst du andere Wege, die Unendlichkeit darzustellen?", fragte Erec.
"Nein."
Schließlich zeigte Erec dem Golem seine Zeichnungen des sich ewig wiederholenden Drudenfußes und der Bäume des Pytharas. "Und das hier? Ist dies nicht Unendlichkeit?"
"Nein."
"Was ist es dann?", brummte Ormur etwas ungeduldiger. Erec gab dem Golem zu verstehen, dass er auch Ormurs Fragen beantworten könne.
"Dies ist Selbstähnlichkeit."
"Was ist das?", fragte Erec.
Der Golem erklärte: "Selbstähnlichkeit im engeren Sinne ist die Eigenschaft von Gegenständen, Körpern, Mengen oder geometrischen Objekten, in größeren Maßstäben, also bei Vergrößerung dieselben oder ähnliche Strukturen aufzuweisen wie im Anfangszustand. Diese Eigenschaft wird unter anderem von der pytharischen Lehre untersucht, da pytharische Objekte eine hohe und manchmal gar perfekte Selbstähnlichkeit aufweisen."
"Die Bäume, die Druden, sie sind also nicht unendlich, sondern selbstähnlich. Eine endlose Wiederholung. Ist dies nicht Unendlichkeit?"
"Nein."
"Erkläre das", sagte Erec.
"Unendlichkeit ist ein Mittel, eine Selbstähnlichkeit zu entdecken. Daraus ersieht man verschachtelte und sich ewig wiederholende Strukturen. Im Makrokosmus wie im Mikrokosmus."
"Also müssen wir in die Unendlichkeit sehen, um dies zu entdecken, um diese Selbstähnlichkeit zu verstehen, die Wiederholung des ewig Gleichen?", fragte Erec.
"Ja."
Er nickte. "Ist das Mysterium also nicht Unendlichkeit, sondern die Wiederholung von... Geschichte?"
"Ja."
"Gut. Erkläre mir, wieso ich in den Druden - in der Selbstähnlichkeit - diese Geburtstage entdeckt habe. Dies ist kein Zufall, oder?"
Der Golem antwortete: "Von Zufall spricht man dann, wenn für ein einzelnes Ereignis oder das Zusammentreffen von mehreren Ereignissen keine kausale Erklärung gegeben werden kann. Als kausale Erklärungen für Ereignisse kommen in erster Linie allgemeine Gesetzmäßigkeiten oder Absichten handelnder Personen in Frage. Die Erklärung Zufall ist also gerade der Verzicht auf eine Erklärung."
"Ist das ein Ja oder ein Nein?", fragte Ormur, nun weniger ärgerlich als neugierig.
"Dies ist kein Zufall", sagte der Golem.
"Also hat eine Person oder ein Gesetz damit zu tun", schloss der Valkyn.
"Ja."
"Wer?", fragte Erec.
"Du, Hüter."
Erec hob verwundert beide Brauen. "Bitte... erkläre das."
"Du hast Berechnungen angestellt und Noten in Zahlen und Gleichungen gesetzt. Dann hast du die Wiederholung, die Selbstähnlichkeit entdeckt. Du warst es, der dieses Gesetz aufgestellt hat."
Ormur schüttelte den Kopf. "Erec hat etwas entdeckt, ja. Aber es war schon vorher da - oder nicht?"
"Ja."
"Dann sag uns, Golem", fuhr Ormur fort, "wer hat es verursacht?"
"Pytharas."
"Aha...", knurrte Ormur und sah zu dem Luchs, der Erecs Pergamente betrachtete.
Erec hingegen stellte sofort eine weitere Frage. "Pytharas war ein Mathematiker. Wir wissen, dass er Jorgans Geist aufgenommen hat. Wo ist er nun?"
"Unbekannt."
"Dann sage mir, Golem, hat auch er dieses Gesetz nur entdeckt oder hat er es verursacht?"
"Pytharas hat es verursacht, als er die Geburt des Mysteriums gesehen hat."
"Die Geburt?", fragten Ormur und Erec gleichzeitig, sodass der Golem einen Augenblick irritiert schien, bevor er beiden antwortete. "Ja."
"Was bedeutet das?", fragte Erec dann.
"Das Mysterium ist auf dieser Karte zu sehen", erklärte der Golem und zeigte auf Erecs Pergamente, "die Karte zeigt, wer die Hirten sind."
Erec bemerkte, wie Ormur den Atem anhielt, aber er stellte dem Golem und nicht ihm seine Frage. "Die Hirten... alle, die hier zu sehen sind oder nur die Überschneidungen?"
"Nur die, die sich überschneiden."
"Einer fehlt uns noch. Weißt du, wer es ist?"
"Der Scharlachrote Tod und der Jäger aus der Kälte."
"Das wären zwei...", sagte Ormur, der bei beiden Begriffen geknurrt hatte. Auch der Luchs schien beunruhigt und fauchte leise.
"Der Scharlachrote Tod wird kommen, wenn der Bann über den Roten gebrochen ist, und seine Sehnsucht kennt keine Grenze, hat er doch nur ein Kleid. Der Jäger aus der Kälte wird kommen, wenn der Bann über den Roten gebrochen ist, und seine Sehnsucht kennt keine Grenze, hat er doch nur ein Kleid", antwortete der Golem, obwohl niemand eine Frage gestellt hatte. Aber bevor Erec oder Ormur eine stellen konnten, schlug Grann die Tür zur Taverne auf. Der alte Kelte war ganz außer Atem. "Wir werden angegriffen", rief er.
Schnell schaltete Erec den Golem aus und versteckte die Pergamente in einer Truhe. Der Luchs knurrte und wich ihm nicht von der Seite, als Erec Ormur nach draußen folgte. "Warte hier", rief er Grann zu und nahm seinen Stab zur Hand. Ormur trat zuerst hinaus. Draußen auf dem Platz sahen sie die Krieger des Winterkönigs. Es waren sieben Krieger, die sich im Halbkreis der Taverne näherten. "Verschwindet! Hier ist der wahre Winterkönig, ihr Diener eines seelenlosen Emporkömmlings!", knurrte Ormur und nahm die Waffe zur Hand. Aber die Krieger wichen nicht und stürmten heran. Bevor einer von ihnen Erec erreichen konnte, hatte Ormur seinen Schädel gespalten. Der Luchs machte einen großen Satz und biss in die Kehle des nachfolgenden Kriegers. Ormur nahm sich einen weiteren vor. Erec parierte einen Angriff mit dem Stab, aber es waren zuviele. Zwar waren Ormur und der Luchs sehr schnell, aber im Gegensatz zu Hrabanus war Erec nie ein guter Kämpfer mit dem Stab gewesen. Eine Klinge aus Mondeisen traf seine Schulter und er musste den Stab fallenlassen, als er nach hinten stolperte. Dann warf ein anderer Krieger ein Beil. Der Luchs erreichte ihn zwar und warf ihn zu Boden, während Ormur einen anderen Krieger niederstreckte, aber das Beil schien seinen Weg zu finden. Erec hörte Schritte hinter sich. "Nein, nicht!", rief er, als Grann sich dazwischen warf und von dem Wurfbeil zu Boden gerissen wurde. "Nein!"
Ormur sah kurz hinter sich, als die verbliebenen Krieger sich alle Erec näherten. Zusammen mit dem Luchs versperrte er ihnen den Weg. Das war das Ende. Doch plötzlich ging einer der Krieger zu Boden, als ein Pfeil ihn getroffen hatte. Ein Feuerball folgte aus weiterer Entfernung, jenseits des antimagischen Bereiches, den die Krieger als ihren Verbündeten stets mit sich trugen. Ormur schwang seine Waffe und tötete einen Krieger, während der Luchs bei Erec blieb, der sah, wie Grann die Augen für immer geschlossen hatte. Ein schwarzer Panther kam aus dem Dickicht und streckte den letzten Krieger nieder, als Erec wieder nach vorn sah und Fynn und Aethel erblickte, die sich schnell näherten. Der Luchs fauchte und ging in Angriffshaltung, als der Panther sich langsam näherte. Beide Katzen waren bereit, zu kämpfen.
"Nicht!", rief Aethel, während Fynn seinen Bogen auf den Panther richtete. Nur langsam konnte sich die schwarze Katze beruhigen und fauchte leise, bis sie sich verwandelte und Nour die toten Krieger des Winterkönigs betrachtete. Erec stand auf und warf einen traurigen Blick zu Grann. "Er ist tot...", sagte er leise.
"Die Waffen des Winterkönigs lassen Gefallene nicht verwandeln, aber ich möchte sichergehen", sagte Aethel. Erec nickte, und sie ließ den alten Mann verbrennen. Damit war der einzige Mensch, den Erec hier kannte, von ihm gegangen. "Danke, dass ihr gekommen seid", sagte Erec. Von den Bergen her hörten sie ein lautes Knurren. Grennwyr und seine Wölfe eilten herbei. "Freunde von dir?", fragte Nour. "Ja."
Die Werwölfe sicherten das Dorf. "Dass sie jetzt kommen, die Winterkrieger, sagt mir, dass wir auf der richtigen Spur sind. Wo ist Varcus?", fragte Erec. "Auf dem Schiff. Ich werde ihn gleich holen", antwortete Nour. Der Luchs blieb bei Erec, als er gemeinsam mit Ormur, Aethel und Fynn die Taverne betrat.
Velas
Als er die Nachricht von Ofeigur bekommen hatte, war Velas sofort gemeinsam mit Bephemos aufgebrochen. Brulund war zum Glück nicht weit von Terra Brumalis entfernt. Es war ihnen gelungen, Dholon aus den Händen der Krieger des Winterkönigs zu befreien. Aber sie hatten etwas mit dem Elaya gemacht. Um ihn vor sich selbst zu schützen und herauszufinden, was genau geschehen war, hatten die Brulunder Dholon in eine Starre versetzt und anschließend durch Traumwasser schlafen lassen. Ein Ecaloscop zeichnete seine Träume auf. Aber es waren Albträume, die ihn plagten. Und es schien, als würde jemand auf diese Weise versuchen, Dholons Seele zu stehlen. Wenn der Winterkönig der erste Elaya Dholon war, ohne Seele, musste er der Dieb sein. Ein weiterer Versuch, das Kostbarste zu stehlen, was Sterbliche zu bieten hatten. Liurroccar hatte alles vorbereitet, um gemeinsam mit den Hütern und ihren Gefährten in Dholons Traum einzudringen, um ihn zu verteidigen. Velas sollte nun alles mit dem Ecaloscop überwachen und im Notfall einschreiten. Sie würden Türen finden müssen, um bis in das Traumzimmer zu gelangen, in welchem Liurroccar Dholon eingesperrt hatte. Es war der sicherste Weg, das wusste auch Velas. Ein Traumzimmer war ein künstlich erschaffenes Konstrukt mit kontrollierten Bedingungen - der beste Weg, die Träume eines anderen zu erkunden, ohne ihm zu schaden. Nur die mächtigsten Traumleser wären in der Lage, dem Träumenden hier zu schaden. Velas warnte Bephemos, dass niemand aufwachen dürfte. Und wenn er selbst einschlafen würde, wäre es Herons und Bephemos Aufgabe, das Ecaloscop zu steuern. Das Traumlesen war eine komplizierte Angelegenheit; das Eindringen in einen Traum war noch schwieriger, denn der Träumende würde jeden Eindringling - egal ob Freund oder Feind - als Bedrohung deuten und sich verteidigen. In Träumen war alles möglich. Es wäre ein gefährliches Unternehmen: Für jeden Traumleser, für jeden Träumer und auch für den Dieb.
Der süße Duft des Traumwassers stieg als dampfender Rest aus dem Kessel, nachdem Liurroccar und die anderen daraus getrunken hatten. Velas wartete, bis alle Eindringlinge eingeschlafen waren, dann erstellte er eine geistige Übersichtskarte der Traumlandschaften, die wie die Schalen einer Zwiebel den Kern, das Traumzimmer, umschlossen. Besorgt schaute er immer wieder zu Liuroccar. Nicht etwa, weil er nicht an ihre Kraft glauben würde, denn sie war mindestens so fähig geworden wie er selbst. Beide hatten an Kraft gewonnen, und ihm war es, als wäre es seine Liebe zu ihr, die dies möglich gemacht hatte. Liuroccar hatte ihn Tysandra und die Vergangenheit vergessen lassen. Erst recht, seit er wusste, dass Tysandra zurückgekehrt war als Dienerin Morrighans oder gar Morrighan selbst. Nein, für Tysandra empfand er nichts mehr. Vielleicht Bedauern, dass es so hatte enden müssen - aber selbst sein Bedauern wurde überragt von seinen unbestreitbaren Gefühlen für Liurroccar, die für Velas gleichsam Heilung wie auch Neubeginn bedeutete. Als die Krähe ihm in Brumalis erschienen war, hatte Namid sie verjagt. Doch selbst wenn sie geblieben wäre, sie hätte es niemals geschafft, Velas zu täuschen. Voller Zuversicht sah er nun in eine neue Zukunft, in der er mit Liurroccar zusammen wäre, fern vom Krieg, fern von den dunklen Geschehnissen, die sie zur Zeit umgaben.
Die erste Traumlandschaft entstand in Brulund. Er sah stets, was die Träumenden sahen. Und sie erblickten Velas in riesiger Gestalt. So etwas geschah oft in den Träumen: Perspektiven wechselten oder verzerrten sich. Ausdruck der Albträume, die den eigentlich Träumenden plagten; Zeichen für das Verschieben von Ansichten, das Verändern von feststehenden Dingen. Wandel. Velas fand die erste Tür und ließ sie in der Nähe von Albertus entstehen. Die zweite Landschaft war die Insel der Finsternis. Dholon bemerkte die Eindringlinge und rief Malstromwesen herbei, damit sie die Brulunder töten würden. Wer in einem Traum sterben würde, der würde aufwachen - dies durfte nicht geschehen. Ein Komet näherte sich der Insel der Finsternis, um sie zu versenken. Die schwarze Wolke war dort und griff die Brulunder an. Hrabanus hatte den Komet gerufen und wollte die Tür, die Velas gefunden hatte, verschließen. Die Brulunder kämpften gegen die Traumgestalten Dholons. Plötzlich erkannte Velas, was hier geschehen war: Caldorvan hatte auf der Insel der Finsternis die Macht der Erschaffung und den Stab gestohlen, der einst Hrabanus zum Verhängnis geworden war. Durch seine Gier und seinen Wunsch, geliebt zu werden, war Hrabanus der Finsternis verfallen. Dies alles war ein Plan von Zhaerius gewesen, dem Mann in Schwarz. Nachdem Velas diese Ereignisse binnen einer Sekunde gesehen hatte, ließ er ein Traumbild Caldorvans entstehen. Das Traumbild der Finsternis erschrak und erstarrte. Es gelang schließlich, die Tür zu betreten, nachdem Liurroccar die durch die Nähe des Kometen schäumende See benutzt hatte, sich selbst und die anderen fortzuspülen.
In der dritten Traumlandschaft fanden sich die Brulunder in dem Gewölbe wieder, das in den Vulkan östlich Blyrtindurs geführt hatte. Dholon ließ Wächter entstehen, um die Eindringlinge loszuwerden. Während Velas nach der nächsten Tür suchte, erschien Esthelions Traumbild. Er nannte Dholon seinen Vater. Der Winterkönig war der Vater Esthelions.
Aber Velas sah noch mehr: Plötzlich blendete ihn ein Licht, das kein Licht war. Es waren Eis und Schnee, denn vor ihm breitete sich eine endlose Ödnis aus, die von Reif und Frost benetzt war und an einem Wald endete. Wie der Wind reiste Velas weiter in den Norden, bis er zu seiner Linken eine Klamm sah, überschattet von einem schwarzen Felsen, so riesig wie das Land, in dem er wandelte. Eine Treppe führte in eine Höhle, und dort fand Velas eine Schlange. Sie war schwarz wie Obsidian, und ihre Augen waren Feuer. Bevor ein Zischen der Obsidianschlange ihn hinauswarf, erblickte er einen Mann. Er trug ein scharlachrotes Gewand und einen Stab gleicher Farbe. An der Spitze des Stabes war ein glühender Totenschädel angebracht. Das Haar des Mannes loderte in Flammen, und in der anderen Hand hielt er ein Gesicht. Es sah aus, als hätte jemand einen Stein in einen Weiher geworfen, und die sich in Kreisen ausbreitenden Wellen würden Augen, Wangen, eine Nase und ein Lächeln zaubern. Während Velas in die Tiefe stürzte, entdeckte er die Tür. Er konnte nur warten, bis die anderen sie endlich betreten würden. Als er unten am Wall gelandet war, trieb ihn ein Sturm weiter in den Norden. Er passierte einen Palast aus Eis, und dahinter war es dunkel. Das fahle Licht des Schwarzsterns formte einen schwachen Strahl, der die einzige sichtbare Quelle für die Augen eines Sterblichen war. Dort sah er ein Wesen, ganz aus Eis geformt. In der Hand des Jägers war ein eisiger Bogen zu sehen, und ein Pfeil verließ eine Sehne aus Reif. Es regnete Mondeisen, als das Geschoss den Stern traf. Der Jäger lag am Boden und hatte die Augen geschlossen. War er der Seelendieb? Wollte er Dholons Seele stehlen? Nein, es war etwas anderes. Im Sternenhimmel formte sich eine Tür, und Velas Name stand darauf. Er öffnete sie und sah einen anderen Mann. Es war Cleophos.
Dann verschwanden die Bilder. Es hatte nur eine Sekunde gedauert, da waren die Brulunder durch die letzte Tür gegangen. Da war es, das Traumzimmer. Albtraumwesen bewachten die schwebende Ruine in den Sternen. Im Zentrum lag Dholon, daneben war der Traumdieb zu sehen, der Seelendieb. Entfernt erinnerte die Kreatur an einen Schatten aus der Anderwelt. Jemand hatte aus der Welt hinter dem Schleier einen Geist gerufen, um Dholons Seele zu rauben. Aber es war nicht der Winterkönig, es war nicht der Jäger aus der Kälte. Der Komet, der die Insel vernichten sollte, näherte sich den Ruinen. Als Velas den Schwarzstern sah, wie er sein schwaches Licht auf das Gewölbe warf, erkannte er den Dieb: Es war der Mann in Schwarz!
Während die Brulunder sich zum Zentrum vorkämpften, spürte Velas, wie ein Stich seine Schläfen durchfuhr. Er hielt sich am Ecaloscop fest. "Bephemos... Zhaerius..., er versucht, mich zu fangen. Heron muss weitermachen, ich verliere... das Bewusstsein..." Dann sah er noch, wie Heron eilig das Ecaloscop bediente und spürte, wie Bephemos seine Schultern hielt und ihn zu Boden sinken ließ. Velas fand sich auf einem Platz wieder. Er roch Feuer, wie es einen Mann verbrannte. Scheiterhaufen konnte er sehen. Die Bürger der unbekannten Stadt jubelten, als die Flammen größer wurden, und der Brennende sang ein Lied. "Es war einmal ein kleines Ei, das lag auf einem grünen Blatt. Eine Raupe klein wohnte darin fein und die wollte ganz schnell raus. Es wurde ihr darin zu eng. Sie stieß sich aus dem Ei geschwind. Und sie krabbelt schnell. Und sie krabbelt flink. Denn der Hunger war sehr groß. Sie begann mit einem grünen Blatt, doch das macht sie noch lang nicht satt. Und sie krabbelt schnell. Und sie krabbelt flink. Denn der Hunger war sehr groß. Am Montag fraß sie einen Apfel, Dienstag dann die Birnen. Mittwoch Pflaumentag, oh, wie sie das mag. Doch der Hunger ging nicht weg. Die Erdberr'n kamen Donnerstag, Orangen dann am Freitag. Samstag Kuchentag. Sonntag war sie satt. Und der Hunger war gestillt. Da baute sie sich schnell ein Haus, Kokon kannst du auch sagen. Zwei Wochen lang schlief sie tief und fest in diesem Kokon. Doch was war da geschehen? Heraus kam keine Raupe mehr. Ein Schmetterling! Ein Schmetterling! Ein Schmetterling flog raus." Bevor er das Lied wiederholen konnte, war der Mann vollständig verbrannt. Aber nachdem alle Menschen den Platz verlassen hatten, flog seine Asche durch den Wind davon, formte sich zu einer Krähe und stieg in den Himmel. In der Menge hatte Velas wieder den anderen Mann gesehen, in scharlachroter Gewandung, mit dem Stab in der Hand. In seiner anderen Hand war aber nicht mehr das Gesicht gewesen, sondern eine Öllampe. Der Name Ricardus Schwarzstern stand darauf, und auf der anderen Seite hatte Velas die Zahlen gesehen.
Er hatte keine Zeit, das Gesehene zu ordnen, da geschah etwas Neues: Wieder sah er Cleophos, dessen Kleidung dem Fremden ähnelte. "Du bist ein Scharlachroter Tod", sagte ein alter Mann zu Cleophos, der gerade aus der Quelle Blyrtindurs getrunken hatte. Plötzlich stand Tysandra an der Quelle. Sie trug das rote Kleid, das Velas ihr geschenkt hatte. "Du bist ein Scharlachroter Tod", wiederholte der alte Mann. Und er sagte es wieder, als Velas sich selbst an der Quelle sah - der Ort wandelte sich, und Velas sah wieder die Insel der Finsternis. Cleophos saß auf einem Thron und neben ihm war Tysandra. Schließlich veränderte sich das Gesicht seines Bruders - Velas sah, wie er selbst über die Insel herrschte. "Wenn das, was nimmer frei sein durfte, frei ist, nur um auffällig unfrei zu werden, auf einem Eiland aus Eisen, wächst der Unfrieden heran, der von einer Krähe getragen wird, nur um als scharlachroter Tod dort einzukehren, wo die Dunkelheit den Namen eines verwunschenen Mönches trägt", sagte der alte Mann.
Esthelion trat an Velas Seite. Der alte Mann lächelte, als Tysandra zwei Kinder in ihren Armen hielt. Velas sah seinen eigenen Sohn. Das andere Kind kannte er nicht. "Wer ist der Jäger aus der Kälte?", fragte eine unbekannte Stimme, die einem Oger gehörte. Velas war wieder in der Höhle. Aber die Antwort kam nicht von der Obsidianschlange, sondern von dem alten Mann, als Velas zurück auf der Insel der Finsternis war:
"Vier Kinder. Eines überlebt, eines erbt, eines siegt, eines wird glücklich." Esthelion lächelte und zeigte auf einen Valkyn - es war Ormur. Die Umgebung veränderte sich wieder.
Ormur und Erec sprachen mit einem Golem. War dies Alt-Blyrtindur? Der alte Mann beobachtete die beiden und hielt die Hand einer alten Frau. "Ich bin Alysare", sagte sie. Dann sah Velas ein Mädchen. Die Räumlichkeiten wandelten sich im nächsten Moment in die Kanzlei Bretonias. Das Mädchen spielte mit einem kleinen Holzpferd. Es nahm ein Pergament zur Hand, das aus dem Pferd gefallen war.
"Das ist, was ich brauche", sagte der alte Mann zu Velas, der die Kleidung des Kanzlers trug. Baelon lag auf einer Totenbahre, getragen von Frauen, deren Haare wie Flammen loderten. Daneben sah Velas die Königin. Ihre Bahre wurde von keinem getragen. Tysandra, Cleophos und der Fremde standen im Kreis und betrachteten die Toten. "Wer ist der Jäger aus der Kälte?", fragte die Stimme des Ogers, der nicht zu sehen war. "Er ist der Feind dessen, der aus Feuer geboren wurde. Sein Banner hatte auf hohen Felsen geweht. Sein Zeichen. Und ich sage dir noch mehr...", sprach eine weibliche Stimme. Es war die Schlange. Aber Velas konnte sie nicht mehr verstehen. "Wer ist der Scharlachrote Tod?", fragte er plötzlich, ohne es zu wollen. Der alte Mann antwortete: "Er ist der, der aus Feuer geboren wurde."
Yassir gewinnt ein Wettrennen
"Keine Sorge, Alim. Dein Vater wird diesen Krieg nicht führen müssen", sagte der Korsar und musterte die besorgten Augen des jungen Prinzen. Sie hatten die Küste erreicht und waren auf ein Lager Qabels gestoßen. An jedem anderen Tag, erst recht in diesen Zeiten, hätte Alims Vater der Horde und ihren Verbündeten, Yassirs Bande, den Angriff befohlen, und sie hätten unter großen Verlusten den Sieg errungen. Aber die Zeiten waren andere. Jeder Tote verwandelte sich in einen Diener des Fahlen Skorpions. Ihre Augen wurden dann leer, ihre Haut grau, und sie verloren ihr Haar. Auf dem Weg zur Kuppel hatten sie die Auswirkungen der Plage erlebt, als sie gegen die Krieger vom Schwarzen Kreuz gekämpft hatten. Die Plage betraf auch sie. Jeder Krieger, den Yassir mit seinen schnellen Bewegungen und dem Wassertanz in die Welt jenseits des Lebens schicken wollte, erwachte nach kurzer Zeit als stinkendes und seelenloses Wesen. Garraz-Bahal hatte sie alle vor der Abreise gewarnt. Die alte Hexe aus den Silberdünen diente den Flammen, die nicht Amur gehörten. Amurs Feuer war ein lodernder Wall aus Gnade für seine Diener und Hass gegen die Ungläubigen. Aber das Feuer von Garraz-Bahal loderte nicht in Amurs Namen. Die Kräfte, die in den Silberdünen am Werke waren, sie lauschten auf andere Namen, die niemand kannte und welche die Hexe niemals preisgegeben hätte. "Geht nicht zur Küste, denn hinter dem Glas der Zendavesta lauert der Jäger aus der Kälte. Und jeder Tote wird sein wie er oder wie der fahle Skorpion." Das waren ihre Worte gewesen, bevor sie am gleichen Abend versucht hatte, Iskander zu vergiften. Der Heermeister des Khagans hatte es gewagt, ihre Höhle zu betreten und sie in ihrer wahren Gestalt gesehen. Eine Schlange, doch mit einem menschlichen Kopf. Ihre Haut glänzte schwarz, und in den Augen war ihr Feuer. Amils Vater war in die Höhle eingedrungen und mit dem Schwert des Vaters seines Vaters hatte er die Hexe niedergestreckt. Als sie wie Glas zersprungen war, wurden ihre Überreste flüssig und glühten. Sie setzte sich wieder zusammen, wie in den Legenden, die Yassir von den Priestern im Tal des Feuers gehört hatte. Ja, ihre Reise stand unter schlechten Sternen. Aber auch wenn Yassir wenig von den starren Begriffen wie Ehre, Blut und Jihad hielt, es ging nun um das Überleben des Volkes.
"Er wird dich besiegen. Dieser Krieger, er ist kein Mensch", flüsterte Alim, als sie sich berieten, um Yassirs beste Strategie gegen den Vertreter der Flammenreiterinnen herauszufinden. Als sie das Lager entdeckt hatten, waren ihnen die Scheiterhaufen am Ufer zuerst aufgefallen. Erst hatten sie geglaubt, dass Qabel hier seine Toten verbrennen würde, dass sie sich nicht verwandelten. Denn dies schien der einzige Weg zu sein. Aber es brannten keine Kranken in den roten Flammen, die sich im Meer spiegelten, als wäre eine Armee Ifriti den Fluten entstiegen. Yassir und Hamit hatten sich im Schutze der Nacht herangeschlichen, um die Anzahl der Wachen zu bestimmen und herauszufinden, ob Khagan Qabel auch dort wäre. Zweihundert Bewaffnete hatten sie ausgemacht. Aber etwas anderes bereitete nun Alims Vater größere Sorgen: Dort verbrannten keine Toten, keine von der Plage befallenen Krieger. Es waren lebende gesunde Menschen. Auf jedem der Pfähle, woran sie festgebunden waren, hatten Krähen gesessen. Nicht irgendwelche Krähen. Yassir hatte auf seinen Fahrten, die ihn bis in den großen Wald im Bretonenland geführt hatten, von Morrighan gehört, der Krähenfrau. Ihre Dienerinnen, die Krähen, waren schlauer und stärker als die gewöhnlichen Vertreter ihrer Art. Und die Vögel, die auf den Pfählen dem Feuer zugesehen hatten, sie waren nicht verbrannt. Die Haut der Krieger hatte erst Blasen geworfen, war angeschwollen, verflüssigte sich und schälte sich dann von verkohlenden Knochen und brennendem Fleisch wie man eine Dattel schälte. Aber sie waren nicht gestorben. Jeder der Krieger, die alle freiwillig durch das Feuer gegangen waren, hatte sich danach wie ein neuer Mensch erhoben. Mit scharlachroter Haut und Augen aus Feuer. Qabel hatte zufrieden zugesehen, im Kreise von Reiterinnen, deren Pferde aus Flammen waren.
Nachdem Yassir und Hamit berichtet hatten, hatte Amils Vater einen Unterhändler in das Lager entsandt. "Sie drohen uns. Sie bieten einen Zweikampf an. Wenn wir gewinnen, lassen sie uns ziehen. Verlieren wir, werden wir Teil ihrer Flammen. Qabel hat einen Pakt mit dem Feuer geschlossen, das nicht Amur ist", hatte der Unterhändler nach seiner Rückkehr gesagt. Und Amils Vater hatte entschieden: "Wir nehmen die Herausforderung an. Aber wenn wir diesen Zweikampf verlieren, müssen wir uns beugen. Dies erfordert die Ehre." "Dann lasst uns lieber einen Angriff wagen. Wenn wir fallen, werden wir zu den Wesen des Fahlen Skorpions. Verlieren wir diesen Zweikampf, fallen wir gleichermaßen und werden wie sie. Ein offener Kampf ist unsere beste Chance, mein Khagan", hatte Iskander zu Bedenken gegeben. Aber das Wort des Khagans war Gesetz. Er hatte selbst den Zweikampf bestreiten wollen, doch Hamit, Iskander und Hassan hatten natürlich Einwände vorgebracht.
Eine wilde Diskussion war entbrannt, die ausgerechnet Yassir beendet hatte. Jetzt fragte er sich zwar, wie dumm er war, es zu tun, aber sein Herz sagte ihm, dass es der einzige Weg wäre, Amils Vater zu retten. Yassir mochte den jungen Prinzen. Er hatte es verdient, wenigstens noch ein paar Wochen etwas von seinem Vater zu haben, bevor sie vermutlich an der Kuppel ertrinken oder jenseits von ihr durch diesen Jäger aus der Kälte getötet werden würden. Ihre Reise war eine Reise mit einem einzig denkbaren Ende: Tod. Aber sie waren Hun. Und sie kämpften bis zum Ende. "Ich werde es tun. Ich bin nur ein Pirat. Aber ich bin ein schlauer Räuber, ein fähiger Mann. Lasst mich es tun. Amur mag meine Methoden verachten, aber ich bin ebenso sein Diener wie ihr alle. Das weiß er, das wisst ihr ebenso." So war es entschieden worden.
"Und wenn schon. Von mir aus kann er ein Riese sein oder sogar Feuer scheißen. Ich weiche nicht", antwortete Yassir und schmunzelte.
Iskander nickte. "Nutze deine Schnelligkeit. Ich glaube, das ist alles, was du gegen ihn vorbringen kannst, Korsar."
"Es liegt in deiner Hand", sagte Hamit.
"Für Amur", sprach der Khagan schlicht.
"Für Amur", wiederholten alle.
Am Ufer versammelten sich die Krieger beider Horden. Die Reiterinnen bildeten einen Kreis um Qabel, so wie es die Krieger von Amils Vater bei ihrem Khagan taten. Yassir nahm Schild und Säbel zur Hand. Sein langes Haar hatte er zu einem Zopf gebunden, und eine Rüstung lehnte er ab. "Macht langsam."
Qabel hatte seinen stärksten Krieger in den Zweikampf berufen. Auch er war im Feuer gewesen. Seine Haut leuchtete wie Feuer, seine Waffen waren aus schwarzem Glas. Aus brennenden Augen grinste er seinen Gegner an. Yassir war sicher zwei Köpfe kleiner als der Hüne der Flammen. "Du hast den ersten Schlag, Feuermann. Aber sage mir, bist du nun immer noch ein Hurensohn, ein Sohn der Flammen oder beides?", fragte Yassir und erwiderte das Grinsen. Dann tänzelte er leichtfüßig umher, bis der erste Hieb seinen Schild zerteilte. "Den brauche ich sowieso nicht, Schweinenase", rief er. Dem zweiten Schlag wich er aus, dann rollte er zur Seite und führte einen lustlos scheinenden Stoß gegen die Seite des Hünen aus. Wütend schnaubte sein Gegner, fuhr herum und setzte den nächsten Schlag in den Sand. Yassir sprang über das Obsidianschwert hinweg und schlug mit der flachen Seite des Säbels gegen die Rüstung seines Gegners. "Leuchtet dein Schwanz wie deine Augen? Muss er, sonst findest du ihn nicht. Du weiß ja, was man so sagt..."
Als der Hüne brüllte, loderten die Feueraugen wie ein großer Brand - Yassir war für einen Moment abgelenkt, und das Schwert traf seine Schulter. Brennender Schmerz durchfuhr ihn, als er stolperte und der Gegner die Klinge erhob und sie niedersausen ließ. Yassir hatte seinen Säbel verloren und rollte durch den Sand. Das Schwert verfehlte ihn. Qabel und die seinen lachten und klatschten. Yassir blieb liegen. Er suchte Amils Blick, der besorgt die Faust ballte. Dann zwinkerte Yassir ihm zu. Er nahm etwas Sand und warf ihn dem Hünen in die feurigen Augen. Er war geblendet. Schnell sprang Yassir auf und trat dem Gegner in den Hintern, duckte sich weg, wenn er nach ihm schlug. Er lief rückwärts. "Na komm schon, hier bin ich!" "Nimm deinen Säbel, beende es, jetzt!", rief Amils Vater. Aber Yassir dachte nicht daran, die Ufernähe, die er nun erreicht hatte, zu verlassen. Als er das kühle Meer an den Knöcheln spürte, musste er grinsen. Wassertanz. Der Hüne hatte seine Sicht wieder und stapfte wütend voran. Yassir lief noch ein paar Schritte, dann sprang er in die Fluten. Er tauchte einmal herab, dann warf er sich nach oben wie ein fliegender Fisch. Schon tanzte er auf dem Wasser, das wie ein sanfter Teppich unter ihm lag. Erst stieg Dampf auf, als der Feuerkrieger das Meer berührte. Dann wurde das Glühen in den Augen schwächer. Der Hüne wurde langsamer. Yassir nahm Anlauf, sprang mehr als zwei Schritt hinauf und landete auf den Schultern des Kriegers, dessen Haut an Farbe verloren hatte. Er packte den Kopf und drückte den Rumpf des Kriegers mit seinem Gewicht unter Wasser. Yassir stand nun bis zu den Hüften im Meer und drehte den Kopf seines Gegners einmal herum. Er hatte gesiegt.
Der Mann hinter dem Vorhang
"Es ist ein Reiter eingetroffen, Herr", sagte Claudius Hilmon, der durch Lariena, Aethel und ihre Gefährten aus Tectaria gerettet worden war. Er hatte verschwiegen, dass er Jorgans Versteck kannte.
"Was hast du zu berichten?", fragte Jorgan den Boten.
"Der erste Golem ist in Sicherheit, Pytharas."
"Du sollst mich nicht so nennen. Dazu ist es zu früh."
Nachdem der Mann hinter dem Vorhang, der sich dem Tölpel Claudius gegenüber als Pytharas ausgegeben hatte, den Diener des Meeres wieder fortgeschickt hatte, sah er wieder in den Brunnen. Das Wasser wirbelte umher, und er sah wieder sein Spiegelbild. Der Mann hinter dem Vorhang verwandelte sich zurück. Der Diener im Brunnen lachte. "Du bist wirklich der wahre Meister."
"Ich habe viel zu tun. Ich bin vorbereitet."
"Was soll nun geschehen, mein Herr?"
"Sie glauben wirklich daran, Pytharas finden zu können. Dies wird nicht geschehen. Ich habe dafür Sorge getragen, dass Tysandra ihren Sohn befreien will. Außerdem habe ich Claudius genau dort getroffen, wo sie ihren Plan verfolgen will. Tysandra läuft in eine Falle. Hohenfels bewacht schon die Katakomben. Wir müssen gehen", antwortete der Mann hinter dem Vorhang, hob den Arm und legte eine Hand in das Wasser. Das Gesicht floss in seine Robe, und der Brunnen war leer. Dann nahm der Mann hinter dem Vorhang seinen Stab und stützte sich darauf, als er das Gewölbe durch eine Geheimtür verließ. Im Brunnen hatte er gesehen, dass Esthelion schon in Skjöldbur eingetroffen war. Zhaerius hatte Yphilia zur willigen Dienerin gemacht, und die Schatten aus der Anderwelt hatten eine neue Herrin. Er schmeckte Blut. Es war eigentlich kein Blut, es war Rache. Für alles, was geschehen war. Und seine Rache war Blut, und Blut war seine Rache. Scharlachrot war sie. Genau wie seine Kleidung, sein Stab, sein Haar und besonders seine Augen. Der Scharlachrote Tod erreichte die Oberfläche und blickte auf die Burg, die sich in der Ferne erhob. Einst hatte sein Banner dort geweht.
Der Scharlachrote Tod entfernte sich und fand einen Ruheplatz in der Ebene der Vergessenen. Dort entfachte er mit dem Stab ein Feuer und schaute in die Flammen. Schon sah den Leib aus Obsidian, aus dem er geboren war, nachdem man ihn verbrannt hatte. "War er bei dir, Mutter?", fragte er. "Ja." "Hast du ihm seine Frage beantwortet?" "Ja." "Gut. Es wird ihm helfen, meinen Feind zu finden...", sagte der Scharlachrote Tod, der Jäger aus dem Feuer. Gwayan hätte die Macht, den Jäger aus der Kälte zu vernichten - das ideale Werkzeug.
Als die Obsidianschlange, die ihn ausgebrütet hatte, aus den Flammen verschwand, schaute der Jäger aus dem Feuer über das Land hinweg. Damals war er als Mensch gekommen, um als Mensch zu herrschen. Heute trug er einen neuen Namen. Er lächelte, als er Kanzler Baelon und seine Begleiter sah, wie sie sich dem Eisenwall näherten, um in den Krieg gegen die Plage zu ziehen. Dass der Mann in Schwarz aus Feuer geboren wurde, machte ihn in gewisser Weise zu seinesgleichen. Wie töricht von Ricardus Schwarzstern, zu glauben, er hätte eine Chance gegen das wahre Feuer.
Alea iacta est.
Die Würfel sind gefallen!
Die Würfel sind gefallen!
Re: Ein scharlachroter Tod
ZWISCHENSPIEL XI
Der Affe
Der stolze Krieger war in das Dorf zurückgekehrt. Er gab seiner Mutter das Blauwasser, das während seiner Reise zu festen Stücken aus Eisen geworden war. Seine Brüder warfen die Esse an und schlugen mit ihren besten Werkzeugen auf das Metall ein. Mutter beobachtete die Schmiede bei der Arbeit. Xanpectl, sein treuer Begleiter, den er auf der gefahrvollen Reise nicht mitgenommen hatte, kam zu ihm und fiel ihm in die Arme. "Uruku-Xtlan ist froh, dass wir uns wiedersehen", sagte der stolze Krieger. Aber Xanpectl antwortete nicht, sondern fiel in die Starre. So las der Krieger die Gedanken seines Begleiters, und es waren die Gedanken seines Bruders, der in dem Kaltland bei den Bartmännern wohnte. Er berichtete seinem Bruder, was er gesehen hatte. Wie er von dem Kaltjäger erfahren hatte und alles andere. Als die Starre von Xanpectl fiel, sah er in das Feuer der Esse. Mutter kam dazu und kniete sich hin. Ihre faltigen Hände fassten Xanpectls Stirn. Uruku-Ulmoxtl und Urku-Tecotlan setzen sich hin und hielten die Hände Xanpectls. Der stolze Krieger beobachtete, was geschah. Im Feuer sahen sie einen Sacotl-Xentoctilan. Die Haut der schwarzen Echse war von roten Linien durchzogen, und sie hatte zwei Köpfe. Ein Kopf war der eines Sacotl-Xentoctilan, der andere der einer Zzrucana. Als die Echse sprach, da zischte sie wie eine Zzrucana, aber es waren zwei Stimmen zu hören. Eine war die einer Frau, die andere die eines Mannes. Ob es Sonne und Mond waren, die Himmelsgeschwister? Der stolze Krieger wollte gerade fragen, aber Mutter verbot ihm und seinen Brüdern Uruku-Ulmoxtl und Uruku-Tecotlan das Wort. So lauschten sie nur auf die Worte der Echse. "Kaltjäger und Feuerjäger umarmen die Welt, wenn Vairocanas Durst gestillt ist, die Schwärze auf dem schwimmenden Sonneneisen ruht und die Quellenfrau verschwindet."
Nach den Worten des Sacotl-Xentoctilan ließ Mutter Xanpectl wieder los. Der Krieger sah in die Augen seines Gefährten, und er sah große Furcht.
Die Frühlingsblume
Sie waren viele Wochen gewandert. Daisuke hatte Akina ein Pferd gegeben. Tagsüber hielt er die Zügel und wanderte voraus, und am Abend reinigte er die Pferdedecke, damit die Geisha seines verschwundenen Meisters sich zudecken konnte, um nicht zu frieren. Aus dem Haus hatten sie nicht viele Vorräte und Ausrüstung mitnehmen können, denn überall hatten sich die Fahlen Geister eingenistet. Mit wenig Hab und Gut hatten Daisuke und Akina sich auf den Weg gemacht - irgendwo musste es noch lebende Menschen geben. Das Haus Takeda war ebenso gefallen wie die Häuser Manju und Kashama. Die Dörfer waren leer oder von den Geistern besetzt worden. Sie mieden die großen Straßen. Der Seidene Weg war nur noch ein Schutthaufen gewesen, und die Wege zur Küste waren versperrt. Als der Winter vollends über Yarun hereingebrochen war, hatte Daisuke ihnen eine Hütte in einem großen Shanuro-Baum errichtet. Und dort warteten sie, bis der Lotuspass frei wäre.
"Sobald der Schnee über den Dächern von Hanshu schmilzt, können wir es wagen. Die Eiskrieger gehen sicher davon aus, dass niemand mehr lebt", sagte er, ohne Akina anzusehen. Auch wenn sie weit weg jeder Gesellschaft waren, achtete Daisuke darauf, nicht das Gesetz zu brechen.
"Du darfst mich ruhig ansehen, Daisuke. Dein Meister... ich glaube, er ist einer von ihnen geworden. Niemand lebt mehr", sagte sie leise.
"Sag das nicht. Sicher hat er eine Armee aus Getreuen um sich versammelt und bereitet einen Krieg gegen die Invasoren vor", antwortete Daisuke, auch wenn sie wohl recht hatte. Er wollte es nicht glauben.
"Daisuke, bitte. Wir müssen die Wahrheit sehen. Unsere Chance ist, so lange zu überleben, bis die Ahnen zurückkehren und gegen die Fahlen Geister und die Fremden kämpfen. Willst du wirklich einen Weg zur Küste finden? Sind sie nicht aus dem Wasser gekommen?"
Wieder sah er sie nicht an. "Ja, das sind sie... Aber ich hoffe, wir finden ein Schiff und können zum Juufi segeln. Der Feuerberg ist vielleicht der sicherste Ort, wenn das Eis auf der Jagd ist. Denn ich glaube, es wird nie wieder Frühling, nie wieder Sommer werden", sagte er und betrachtete wieder die seltsamen Kristalle, die er gefunden hatte. In ein Katana eingearbeitet, verursachten sie schweren Schaden gegen die Fahlen Geister. Aber sie wirkten nicht gegen die Fremden oder das Eis. Aber die Legenden sagten, dass im Berg Juufi schwarzes Glas wäre. Und das Glas, so heißt es, war eine Waffe gegen das Eis.
"Über das Meer... bist du dir sicher, Daisuke?"
"Ich weiß nichts anderes", sagte er mutlos und senkte den Kopf. Auf einmal berührte ihre Hand seine Stirn. Ihr Name bedeutete Frühlingsblume. "Was...?", fragte er nur und wagte es, sie anzusehen.
Akina küsste ihn. Und auch wenn Daisuke sich dagegen wehren wollte, er konnte es nicht. Akina lächelte. "Du bist ein würdiger Nachfolger deines Herrn."
Ihre Augen glänzten wie das warme Feuer, das sie sich auf den beschwerlichen Reisen immer gewünscht hatten.
Der Panther
Er sah noch einmal zurück. Kurz nachdem er die Siedlung verlassen hatte, folgten Hrafna und Allyen und wechselten ein paar Worte. Der Große Panther nickte beiden Männern kurz zu, dann rief er seine Horde zusammen. "Wir reisen südwärts. Die Krieger des Winterkönigs haben einen Jungen in ihrer Gewalt, der wichtig ist. Wir werden ihre Spuren finden und herausfinden, wohin sie ziehen, ihr Lager finden und auskundschaften. Hassan, du bleibst hier: Sucht nach Untoten, nehmt jede Witterung auf, die zu finden ist. Mohad, du begleitest mich."
Sie ritten auf ihren Amuri. An einer sicheren Stelle würden sie schließlich von den Reittieren steigen und ihre andere Gestalt annehmen. Er hatte nicht gefragt, welche Bedeutung der Junge hatte. Wenn er entscheidend war für die Ereignisse und wenn der Herr Skjöldburs es sagte, dann wurde es so gemacht. Sie waren Gäste in diesem Land und die Gäste des Hetmans; man hatte sie freundlich empfangen, und die Missverständnisse und Probleme der Vergangenheit waren vergessen. Wenn ein Hun schwor, nicht zu vergessen, dann tat er es nicht. Und wenn er beschloss, die Vergangenheit ruhen zu lassen, dann tat er auch das. Deshalb hatte er keine besonderen Empfindungen, wenn sie über sein Weib Nour sprachen. Sie wollte ihn töten, da er ihren Stolz verletzt hatte. Es war ihr Recht, Rache zu üben. Auch er hatte den Eid geleistet, Roymar für die Verbrechen seiner Familie zu richten und Hohenfels zu bestrafen. Aber Eide konnten umgewandelt und Rache gestillt werden, ohne Blut zu vergießen - dies unterschied einen ehrenhaften Hun von gedankenlosen Wilden. Wenn Nour nicht fähig war, der Rache abzuschwören, dann musste sie den Weg gehen. Er würde sie erwarten und töten. Weder spürte der Große Panther Groll noch einen Hauch von der Liebe, die sie einst verbunden hatte. Sein Weg war ein anderer geworden. Kein Weg des Friedens, aber ein Pfad der Erleuchtung. Darum war es ihm auch nicht wichtig, dass der Stab der Erschaffung gefunden worden war. Es war nie seine Aufgabe gewesen. Er hatte die Zeichen falsch gedeutet. Auch der Stab würde nun seinen Weg beschreiten - ohne sein Zutun.
Als die Horde einen verlassenen Hof erreichte, stiegen sie von den Amuri und schickten sie zurück nach Skjöldbur. Es war Abend geworden. Von hier aus würden sie im Schutze der Nacht als Panther durch die Wildnis schleichen und den Feind aufspüren. "Wir rasten eine halbe Stunde", befahl er. Der Große Panther kniete nieder und sprach wie die anderen sein Gebet. Er bat um Schutz für jene, die ihn aufgenommen hatten, insbesondere für die Trägerinnen der Hand Amurs. Er bat um Erleuchtung, Erfüllung und um Erfolg, seinen Dienst an den einzig wahren Gott und Herrn der Himmel zu beenden, damit er in Amurs Paradies aufgenommen würde, wo seine Ahnen auf ihn warteten. Am Ende bat er darum, Amur möge Zada beschützen. Seine Tochter war klug und stark, aber eben ein Kind. Wenn nicht der Mann in Schwarz sie fangen konnte, dann vielleicht ein anderer. So hoffte er, dass er den Jungen finden würde, damit er das Recht bekäme, auch Zada retten zu können.
Nach dem Gebet setzte er sich an ein Feuer und aß ein paar Früchte und etwas Brot, das Frenya ihm gegeben hatte. Seine Männer sicherten das kleine Lager, andere versammelten sich, um etwas zu essen und zu trinken. Drei Späher hatten sich bereits verwandelt und die Gegend erkundet. Kalter Wind wehte durch das Dickicht. Die Flammen tänzelten. Als der Große Panther die Gestalt einer schwarzen Schlange darin sah, blickte er sich um: Seine Männer schienen es nicht zu sehen. "Großer Panther, ich erwarte dich schon lange...", zischte das Feuer.
"In meinem Glauben hat die Schlange keine Bedeutung, die ich achte oder dulde. Was für ein böser Geist bist du?", fragte er.
"Ich kann dir dein Kind geben, Khagan. Willst du Zada retten...?"
"Wenn ich deine Hilfe annehme, bin ich nicht besser als jene, die sie in Ketten gelegt haben. Ich finde sie ohne deine Hilfe."
Das Feuer wurde größer. "Das Feuer erwartet dich... Zada war im Tal des Feuers, und von dort ging sie fort. Das arme Kind sieht nicht, wie sicher es bei mir war."
"Das Tal des Feuers hinter Amurs Tempel ist das Feuer seines Herzens. Du bist ein anderes Feuer. Weiche!", rief der Große Panther.
"Mein Prophet kann dir seine Hilfe anbieten... es ist mein erstes Angebot. Noch zweimal wirst du mich sehen, wenn du ablehnst. Noch einmal wirst du mich sehen, wenn du zustimmst..."
"Verschwinde!"
Da wurden die Flammen wieder kleiner, und die Schlange verkroch sich zurück in die Niederungen, aus denen sie gekommen war. Der Große Panther trat das Lagerfeuer aus. "Wir reisen weiter!"
Er erinnerte sich an die alten Legenden. Wie rothaarige Weiber auf feurigen Amuri reiten würden und wie die Krieger der Hun zu Dienern der Flammen werden würden, wenn die Elemente in Wallung gerieten und der Fahle Skorpion seine Opfer forderte. Die Zeit war gekommen. Die Worte von Garraz-Bahal klangen plötzlich nach. "Aus dem Feuer wird ein Diener kommen, der aus Asche und Staub, aus den Opfern der Namenlosen Geister die Versuchung formt. Und aus dem Eis wird ein Jäger kommen, und sein Pfeil ist der Bote des Geheimnisses."
Der Salamander
Die Obsidianschlange erinnerte sich gern an ihre eigene Geburt. Als der Flammenherr sein Schwert in Jorgans Rücken getaucht hatte, war die Erde in Wallung geraten. Flammen waren aus der Tiefe aller Tiefen gekommen, um Jorgan zu verbrennen. Aber sein Vetter Grauwall hatte einen Schild getragen, der jedem Feuer standhalten konnte. So hatte er den Schild gegen das glühende Meer aus Feuer geworfen. Rote Tentakel hatten sich in den Stein gebohrt, aber der Schild hatte sie nicht durchkommen lassen. So waren die Tentakel darin erstarrt und hatten ihre Spuren hinterlassen in Grauwall, der heute Schwarzwall genannt wurde. Aber einer der Arme hatte überlebt. Sein Krächzen, als er die Feuergeburt vollbracht hatte, einen Kopf geformt und Adern und ein Herz hatte, war im kalten Wind im Land des Zwielichts immer noch zu vernehmen. Das war ihre Geburt gewesen.
Ihr eigener Sohn, der Salamander, war zweimal geboren worden. Das erste Mal war es eine bedeutungslose Menschenfrau gewesen. Aber dann, nachdem man ihn getötet, zerschnitten und seine Überreste verbrannt und verstreut hatte, da hatte sie ihn erneut zur Welt gebracht. Seine Asche hatte sie genommen und verspeist. Es war, als würde sie innerlich zerschmelzen. Dieses wahrhaft wohlsame Gefühl hatte sich bei der Neugeburt verwandelt in einen unerträglichen Schmerz, den die Obsidianschlange niemals vergessen würde. Aber nun war er vollkommen, der Salamander. Nun wanderte er über das Land, das er durch Feuer gleichsam ernähren wie auch reinigen würde - bis der Jäger aus der Kälte ihm endlich das Geheimnis verraten würde. Etwas, das weder Argan noch Aenthalas oder Esthelion je gefunden hatten!
Der Affe
Der stolze Krieger war in das Dorf zurückgekehrt. Er gab seiner Mutter das Blauwasser, das während seiner Reise zu festen Stücken aus Eisen geworden war. Seine Brüder warfen die Esse an und schlugen mit ihren besten Werkzeugen auf das Metall ein. Mutter beobachtete die Schmiede bei der Arbeit. Xanpectl, sein treuer Begleiter, den er auf der gefahrvollen Reise nicht mitgenommen hatte, kam zu ihm und fiel ihm in die Arme. "Uruku-Xtlan ist froh, dass wir uns wiedersehen", sagte der stolze Krieger. Aber Xanpectl antwortete nicht, sondern fiel in die Starre. So las der Krieger die Gedanken seines Begleiters, und es waren die Gedanken seines Bruders, der in dem Kaltland bei den Bartmännern wohnte. Er berichtete seinem Bruder, was er gesehen hatte. Wie er von dem Kaltjäger erfahren hatte und alles andere. Als die Starre von Xanpectl fiel, sah er in das Feuer der Esse. Mutter kam dazu und kniete sich hin. Ihre faltigen Hände fassten Xanpectls Stirn. Uruku-Ulmoxtl und Urku-Tecotlan setzen sich hin und hielten die Hände Xanpectls. Der stolze Krieger beobachtete, was geschah. Im Feuer sahen sie einen Sacotl-Xentoctilan. Die Haut der schwarzen Echse war von roten Linien durchzogen, und sie hatte zwei Köpfe. Ein Kopf war der eines Sacotl-Xentoctilan, der andere der einer Zzrucana. Als die Echse sprach, da zischte sie wie eine Zzrucana, aber es waren zwei Stimmen zu hören. Eine war die einer Frau, die andere die eines Mannes. Ob es Sonne und Mond waren, die Himmelsgeschwister? Der stolze Krieger wollte gerade fragen, aber Mutter verbot ihm und seinen Brüdern Uruku-Ulmoxtl und Uruku-Tecotlan das Wort. So lauschten sie nur auf die Worte der Echse. "Kaltjäger und Feuerjäger umarmen die Welt, wenn Vairocanas Durst gestillt ist, die Schwärze auf dem schwimmenden Sonneneisen ruht und die Quellenfrau verschwindet."
Nach den Worten des Sacotl-Xentoctilan ließ Mutter Xanpectl wieder los. Der Krieger sah in die Augen seines Gefährten, und er sah große Furcht.
Die Frühlingsblume
Sie waren viele Wochen gewandert. Daisuke hatte Akina ein Pferd gegeben. Tagsüber hielt er die Zügel und wanderte voraus, und am Abend reinigte er die Pferdedecke, damit die Geisha seines verschwundenen Meisters sich zudecken konnte, um nicht zu frieren. Aus dem Haus hatten sie nicht viele Vorräte und Ausrüstung mitnehmen können, denn überall hatten sich die Fahlen Geister eingenistet. Mit wenig Hab und Gut hatten Daisuke und Akina sich auf den Weg gemacht - irgendwo musste es noch lebende Menschen geben. Das Haus Takeda war ebenso gefallen wie die Häuser Manju und Kashama. Die Dörfer waren leer oder von den Geistern besetzt worden. Sie mieden die großen Straßen. Der Seidene Weg war nur noch ein Schutthaufen gewesen, und die Wege zur Küste waren versperrt. Als der Winter vollends über Yarun hereingebrochen war, hatte Daisuke ihnen eine Hütte in einem großen Shanuro-Baum errichtet. Und dort warteten sie, bis der Lotuspass frei wäre.
"Sobald der Schnee über den Dächern von Hanshu schmilzt, können wir es wagen. Die Eiskrieger gehen sicher davon aus, dass niemand mehr lebt", sagte er, ohne Akina anzusehen. Auch wenn sie weit weg jeder Gesellschaft waren, achtete Daisuke darauf, nicht das Gesetz zu brechen.
"Du darfst mich ruhig ansehen, Daisuke. Dein Meister... ich glaube, er ist einer von ihnen geworden. Niemand lebt mehr", sagte sie leise.
"Sag das nicht. Sicher hat er eine Armee aus Getreuen um sich versammelt und bereitet einen Krieg gegen die Invasoren vor", antwortete Daisuke, auch wenn sie wohl recht hatte. Er wollte es nicht glauben.
"Daisuke, bitte. Wir müssen die Wahrheit sehen. Unsere Chance ist, so lange zu überleben, bis die Ahnen zurückkehren und gegen die Fahlen Geister und die Fremden kämpfen. Willst du wirklich einen Weg zur Küste finden? Sind sie nicht aus dem Wasser gekommen?"
Wieder sah er sie nicht an. "Ja, das sind sie... Aber ich hoffe, wir finden ein Schiff und können zum Juufi segeln. Der Feuerberg ist vielleicht der sicherste Ort, wenn das Eis auf der Jagd ist. Denn ich glaube, es wird nie wieder Frühling, nie wieder Sommer werden", sagte er und betrachtete wieder die seltsamen Kristalle, die er gefunden hatte. In ein Katana eingearbeitet, verursachten sie schweren Schaden gegen die Fahlen Geister. Aber sie wirkten nicht gegen die Fremden oder das Eis. Aber die Legenden sagten, dass im Berg Juufi schwarzes Glas wäre. Und das Glas, so heißt es, war eine Waffe gegen das Eis.
"Über das Meer... bist du dir sicher, Daisuke?"
"Ich weiß nichts anderes", sagte er mutlos und senkte den Kopf. Auf einmal berührte ihre Hand seine Stirn. Ihr Name bedeutete Frühlingsblume. "Was...?", fragte er nur und wagte es, sie anzusehen.
Akina küsste ihn. Und auch wenn Daisuke sich dagegen wehren wollte, er konnte es nicht. Akina lächelte. "Du bist ein würdiger Nachfolger deines Herrn."
Ihre Augen glänzten wie das warme Feuer, das sie sich auf den beschwerlichen Reisen immer gewünscht hatten.
Der Panther
Er sah noch einmal zurück. Kurz nachdem er die Siedlung verlassen hatte, folgten Hrafna und Allyen und wechselten ein paar Worte. Der Große Panther nickte beiden Männern kurz zu, dann rief er seine Horde zusammen. "Wir reisen südwärts. Die Krieger des Winterkönigs haben einen Jungen in ihrer Gewalt, der wichtig ist. Wir werden ihre Spuren finden und herausfinden, wohin sie ziehen, ihr Lager finden und auskundschaften. Hassan, du bleibst hier: Sucht nach Untoten, nehmt jede Witterung auf, die zu finden ist. Mohad, du begleitest mich."
Sie ritten auf ihren Amuri. An einer sicheren Stelle würden sie schließlich von den Reittieren steigen und ihre andere Gestalt annehmen. Er hatte nicht gefragt, welche Bedeutung der Junge hatte. Wenn er entscheidend war für die Ereignisse und wenn der Herr Skjöldburs es sagte, dann wurde es so gemacht. Sie waren Gäste in diesem Land und die Gäste des Hetmans; man hatte sie freundlich empfangen, und die Missverständnisse und Probleme der Vergangenheit waren vergessen. Wenn ein Hun schwor, nicht zu vergessen, dann tat er es nicht. Und wenn er beschloss, die Vergangenheit ruhen zu lassen, dann tat er auch das. Deshalb hatte er keine besonderen Empfindungen, wenn sie über sein Weib Nour sprachen. Sie wollte ihn töten, da er ihren Stolz verletzt hatte. Es war ihr Recht, Rache zu üben. Auch er hatte den Eid geleistet, Roymar für die Verbrechen seiner Familie zu richten und Hohenfels zu bestrafen. Aber Eide konnten umgewandelt und Rache gestillt werden, ohne Blut zu vergießen - dies unterschied einen ehrenhaften Hun von gedankenlosen Wilden. Wenn Nour nicht fähig war, der Rache abzuschwören, dann musste sie den Weg gehen. Er würde sie erwarten und töten. Weder spürte der Große Panther Groll noch einen Hauch von der Liebe, die sie einst verbunden hatte. Sein Weg war ein anderer geworden. Kein Weg des Friedens, aber ein Pfad der Erleuchtung. Darum war es ihm auch nicht wichtig, dass der Stab der Erschaffung gefunden worden war. Es war nie seine Aufgabe gewesen. Er hatte die Zeichen falsch gedeutet. Auch der Stab würde nun seinen Weg beschreiten - ohne sein Zutun.
Als die Horde einen verlassenen Hof erreichte, stiegen sie von den Amuri und schickten sie zurück nach Skjöldbur. Es war Abend geworden. Von hier aus würden sie im Schutze der Nacht als Panther durch die Wildnis schleichen und den Feind aufspüren. "Wir rasten eine halbe Stunde", befahl er. Der Große Panther kniete nieder und sprach wie die anderen sein Gebet. Er bat um Schutz für jene, die ihn aufgenommen hatten, insbesondere für die Trägerinnen der Hand Amurs. Er bat um Erleuchtung, Erfüllung und um Erfolg, seinen Dienst an den einzig wahren Gott und Herrn der Himmel zu beenden, damit er in Amurs Paradies aufgenommen würde, wo seine Ahnen auf ihn warteten. Am Ende bat er darum, Amur möge Zada beschützen. Seine Tochter war klug und stark, aber eben ein Kind. Wenn nicht der Mann in Schwarz sie fangen konnte, dann vielleicht ein anderer. So hoffte er, dass er den Jungen finden würde, damit er das Recht bekäme, auch Zada retten zu können.
Nach dem Gebet setzte er sich an ein Feuer und aß ein paar Früchte und etwas Brot, das Frenya ihm gegeben hatte. Seine Männer sicherten das kleine Lager, andere versammelten sich, um etwas zu essen und zu trinken. Drei Späher hatten sich bereits verwandelt und die Gegend erkundet. Kalter Wind wehte durch das Dickicht. Die Flammen tänzelten. Als der Große Panther die Gestalt einer schwarzen Schlange darin sah, blickte er sich um: Seine Männer schienen es nicht zu sehen. "Großer Panther, ich erwarte dich schon lange...", zischte das Feuer.
"In meinem Glauben hat die Schlange keine Bedeutung, die ich achte oder dulde. Was für ein böser Geist bist du?", fragte er.
"Ich kann dir dein Kind geben, Khagan. Willst du Zada retten...?"
"Wenn ich deine Hilfe annehme, bin ich nicht besser als jene, die sie in Ketten gelegt haben. Ich finde sie ohne deine Hilfe."
Das Feuer wurde größer. "Das Feuer erwartet dich... Zada war im Tal des Feuers, und von dort ging sie fort. Das arme Kind sieht nicht, wie sicher es bei mir war."
"Das Tal des Feuers hinter Amurs Tempel ist das Feuer seines Herzens. Du bist ein anderes Feuer. Weiche!", rief der Große Panther.
"Mein Prophet kann dir seine Hilfe anbieten... es ist mein erstes Angebot. Noch zweimal wirst du mich sehen, wenn du ablehnst. Noch einmal wirst du mich sehen, wenn du zustimmst..."
"Verschwinde!"
Da wurden die Flammen wieder kleiner, und die Schlange verkroch sich zurück in die Niederungen, aus denen sie gekommen war. Der Große Panther trat das Lagerfeuer aus. "Wir reisen weiter!"
Er erinnerte sich an die alten Legenden. Wie rothaarige Weiber auf feurigen Amuri reiten würden und wie die Krieger der Hun zu Dienern der Flammen werden würden, wenn die Elemente in Wallung gerieten und der Fahle Skorpion seine Opfer forderte. Die Zeit war gekommen. Die Worte von Garraz-Bahal klangen plötzlich nach. "Aus dem Feuer wird ein Diener kommen, der aus Asche und Staub, aus den Opfern der Namenlosen Geister die Versuchung formt. Und aus dem Eis wird ein Jäger kommen, und sein Pfeil ist der Bote des Geheimnisses."
Der Salamander
Die Obsidianschlange erinnerte sich gern an ihre eigene Geburt. Als der Flammenherr sein Schwert in Jorgans Rücken getaucht hatte, war die Erde in Wallung geraten. Flammen waren aus der Tiefe aller Tiefen gekommen, um Jorgan zu verbrennen. Aber sein Vetter Grauwall hatte einen Schild getragen, der jedem Feuer standhalten konnte. So hatte er den Schild gegen das glühende Meer aus Feuer geworfen. Rote Tentakel hatten sich in den Stein gebohrt, aber der Schild hatte sie nicht durchkommen lassen. So waren die Tentakel darin erstarrt und hatten ihre Spuren hinterlassen in Grauwall, der heute Schwarzwall genannt wurde. Aber einer der Arme hatte überlebt. Sein Krächzen, als er die Feuergeburt vollbracht hatte, einen Kopf geformt und Adern und ein Herz hatte, war im kalten Wind im Land des Zwielichts immer noch zu vernehmen. Das war ihre Geburt gewesen.
Ihr eigener Sohn, der Salamander, war zweimal geboren worden. Das erste Mal war es eine bedeutungslose Menschenfrau gewesen. Aber dann, nachdem man ihn getötet, zerschnitten und seine Überreste verbrannt und verstreut hatte, da hatte sie ihn erneut zur Welt gebracht. Seine Asche hatte sie genommen und verspeist. Es war, als würde sie innerlich zerschmelzen. Dieses wahrhaft wohlsame Gefühl hatte sich bei der Neugeburt verwandelt in einen unerträglichen Schmerz, den die Obsidianschlange niemals vergessen würde. Aber nun war er vollkommen, der Salamander. Nun wanderte er über das Land, das er durch Feuer gleichsam ernähren wie auch reinigen würde - bis der Jäger aus der Kälte ihm endlich das Geheimnis verraten würde. Etwas, das weder Argan noch Aenthalas oder Esthelion je gefunden hatten!
Alea iacta est.
Die Würfel sind gefallen!
Die Würfel sind gefallen!
Re: Ein scharlachroter Tod
6
Die Krähe, die Herrscherin über alle Krähen, die sind wie sie, die man auch die Lady Nimmersatt nennt und deren Lied Ricardus Schwarzstern singt
Khelain wanderte durch den kühlen Nachtimmel über der Vestfold. Als nebelhafte Krähe sah sie alles, was unten geschah. Die Vestfold war immer noch in der Hand ihrer Kinder, der großen Plage. Im Namen der Großen Krähe beherrschte Lady Nimmersatt den Tod, die Seuche und das Fressen. Und wenn die Krähen des Alten aus Vestfold nicht gen Norden geflogen wären, auch sie wären nun Teil ihrer Brut. Dass Khelain einst eine dumme kaum entwickelte Nordfrau gewesen war, die blind genug gewesen war, den Liebesbekundungen eines Elaya zu folgen, daran dachte sie nicht mehr. Zwar gierte sie nach Rache, aber ihren Sohn Esthelion in ihre Arme zu schließen, das bedeutete ihr mehr. Vor allem aber brauchte sie die Seele, ihre Seele, die in Branda gegangen war. Erpressungsversuche waren gescheitert. Für sie selbst war die Seele ohne jede Bedeutung, denn es bedeutete Schwäche. Aber für einen anderen war sie mehr wert als alles andere. Und sie brauchte ihn noch - es war seine Bedingung gewesen. Dafür war er ihr Heermeister geworden und hatte Khaliq geblendet. Der Schwarzstern erkannte seinen Platz als Werkzeug nicht, selbst jetzt nicht.
"Wo ist das, was ich will, Khelain", fragte Caldorvan, als sie sich im Nebel begegneten.
"Branda wird wohl kaum ihre Seele verschenken. Ich habe versucht, sie zu erpressen. Aber sie haben den Vortex vernichtet - ich habe nichts in der Hand."
"Ich bin sehr enttäuscht. Dann werde ich wohl kaum tun, was du willst. Baelon ist hier. Er wünscht, mich zu sprechen..."
"Du wirst gegen Bretonia marschieren - die Große Krähe ist hungrig!"
Caldorvan lachte. "Wie Ihr wünscht, Mylady Nimmersatt. Aber erst, wenn ich habe, was ich brauche."
"Ich kann dir nicht geben, was ich nicht habe."
"Dann bist du wertlos?", fragte er.
"Esthelion will mir nicht folgen. Ich weiß, dass er sich in seiner... edlen Natur angeboten hat. Aber sie haben abgelehnt. Skjöldbur kann ich nicht erreichen. Du musst mir Zeit geben, Gemahl."
"Ich könnte dich an den Winterkönig oder den Jäger aus dem Eis verfüttern. Sicher haben sie Interesse..."
"Dann wären sie nur noch mächtiger. Bitte, mein Gemahl, ich habe dir eine Armee gegeben."
"Und ich will die Seele der Hetfrau Branda!"
Dann fragte Khelain endlich nach dem Grund. "Warum?"
"Weil sie weiß, wer ich bin..."
Baelon
"Es ist nicht nötig, Blut zu vergießen. Oder willst du, dass all deine Mannen und du selbst Wesen wie wir werden?", fragte ihn Elyarn, nachdem das Malstromwesen ihn gerufen hatte. Die Armeen standen sich gegenüber, und Baelon war wie die anderen bereit, den Pakt zu brechen, wenn es sein musste. Brylod hatte Wilderberg angegriffen, vermutlich um genau dies zu provozieren. Sie hatten nichts zu verlieren. So sah Baelon sich um, und Emes nickte von der anderen Flanke her, während Theornon und Hlifa von der anderen Seite ihre Bereitschaft zum Angriff durch das Ziehen ihrer Schwerter schon längst signalisiert hatten.
Dann sah er wieder zu Elyarn. "Wenn ihr mir keine Wahl lasst, muss ich den Angriff befehlen. Wir haben Wilderberg nicht angegriffen. Es war Gwendor von Brylod. Vermutlich hat er unter dem Befehl Tysandras gehandelt - sie ist unser Feind, und sie sollte auch der eure sein."
Elyarn musterte ihn mit seinen leeren Augen. "Aber ist Brylod denn nicht ein Lord deines Reiches?"
"Es ist nicht mein Reich. Es ist das Reich aller Bretonen und aller anderen, die in ihm leben, und Theresia ist unsere rechtmäßige Königin, und sie wird es immer sein. Auch über den Tod hinaus."
"Gut gesprochen, gut aufgesagt", spottete Elyarn.
Baelon erinnerte sich gut an Elyarn von Dryr, wie er von Bathir gedemütigt und verachtet worden war, in den Thronfolgekriegen. Aber der junge Dryr hatte sich zu wehren gewusst und nach Bathirs Tod dessen blutiges Erbe umgewandelt, den Bürgern für drei Monate die Steuern erlassen, dass sie sich von den Schrecken des Krieges und Bathirs Herrschaft erholen konnten. Und nun war er eines der Malstromwesen geworden und hatte vergessen, was es hieß, ein Vasall der Königin zu sein. "Das ist nichts, was ich aufsagen muss wie einen Kinderreim. Es ist eine Tatsache, die von den Göttern gegeben ist. Aber ich vergaß, euer Herr ist Hrabanus, der Weinende Gott, eingesperrt auf einer verfluchten Insel."
"Unsere Irrfahrt ist vorüber. Wir haben erkannt, dass der Mann in Schwarz uns betrogen hat und dass der Weinende Gott ein Herr über Schwäche und Tränen ist, der uns nicht geben kann, was wir in unserer Blindheit gesucht haben und nicht brauchen", sagte Elyarn.
"Wer kommandiert eure Truppen? Wem habt ihr nun die Treue geschworen?"
Die Truppen des Reiches wurden ungeduldiger. Theornon und Emes beschworen die Reiter und Fußsoldaten, Geduld zu üben. Elyarn musterte die Reihen. "Ihr wollt wirklich einen Krieg?"
"Beantwortet mir die Frage, Elyarn!"
"Ihr wollt ihn sprechen?", fragte er.
"Umgehend."
Baelon befahl Emes und Theornon, in jedem Fall zu warten. Er würde allein gehen. Zwar protestierten Emes, Theornon und besonders Hlifa, aber Baelon duldete keine Widerworte. "Sobald sie auch nur einen Schritt über die Grenze tun, und sei es nur einer von ihnen, fallt ihr in den Eisenwall ein und erschlagt sie, immer wieder", befahl er, als er vom Pferd stieg und Elyarn bis in die Burg folgte. "Warte hier, Kanzler."
Nach kurzer Zeit formte sich eine Nebelgestalt, die sich in einen riesigen Krieger in schwarzer gepanzerter Rüstung verwandelte. Ein Helm, bestückt mit den Hörnern eines Widders, dunkel wie der seelenlose Geist seines Trägers, verbarg das Gesicht der Gestalt, die einen riesigen Zweihänder und einen Morgenstern trug. "Baelon von Glan", sagte die Gestalt mit brodelnder Stimme, die wie immer voller Verachtung und Zorn zu sein schien. "Caldorvan."
"Es ist mutig, allein zu kommen", sagte der Untote Lord.
"Ich bin niemals allein. Die Götter sind bei mir. Und vor eurer Haustür wartet eine Armee des Reiches darauf, euren schimmligen Schädel von verdorbenen Schultern zu schlagen."
Caldorvan lachte kalt. "Das kann ich mir gut vorstellen. Ist Hlifa auch dort? Sicher ist sie enttäuscht. Und sicher ist sie voller Sorge um Euch, Baelon. Glaubt Ihr, dass ich Euch gehen lasse?"
"Wenn ich hier nicht lebend herauskomme oder wenn ich verwandelt werde, dann wird man kommen. Es mögen viele fallen, aber ich bin mir recht sicher, dass einige es schaffen werden. Und Ihr werdet nicht entkommen, denn Ihr werdet nicht fliehen. Ihr seid zu stolz. Ihr werdet Euch einem Kampf stellen, oder etwa nicht?", fragte Baelon und gab sich Mühe, keinerlei Unsicherheit zu zeigen, denn ihm war, als würde der Untote tief in seinen Geist schauen, wenn der Kopf sich bewegte und unsichtbare Augen ihn betrachteten.
"Ihr erinnert mich an einen Burschen, der mal mein Gast war. Er nahm kein Blatt vor den Mund. Ich mag das, ja, ich mag das - aber treibt es nicht zu weit, Baelon."
"Ein Hoch auf diesen Gast. Ich hätte ihn gern kennengelernt."
"Oh, Ihr kennt ihn. Es ist Phaeron von Yren. Ich spürte seine Präsenz, vor kurzer Zeit. So wie ich auch Mercutio spürte. Beide haben sie versucht, in meine Gedanken zu schauen. Aber es ist ihnen nicht gelungen."
"Darum bin ich hier, Caldorvan."
Der Untote knurrte. "Es heißt Lord Caldorvan!"
"Verzeiht... Lord Caldorvan...", antwortete Baelon.
"Das Bretonische Reich hat den Pakt gebrochen als es meine Truppen in Wilderberg angegriffen hat. Dies ist eine Tatsache. Es gibt nichts, worüber man verhandeln müsste."
"Nun, um genau zu sein... Wäre man ein Schriftgelehrter, so fände man eine Lücke in unserem Pakt. Ist es nicht so, dass Wilderberg ureigentliches Eigentum des Reiches Bretonia ist?"
"Der Pakt wurde nach der Eroberung Wilderbergs geschlossen", sagte Caldorvan.
"Ich werde nicht dagegen argumentieren. Aber Ihr sollt wissen, dass Brylod nicht im Namen der Königin gehandelt hat..."
"Wenn ein Vasall die Grenze des Reiches überschreitet und einen feindlichen Akt gegen das Lehen eines anderen Reiches begeht, dann fällt das, was der Vasall ab diesem Zeitpunkt tut, genau so auf die Königin zurück wie alles Gute, was er tut. Dies sollte Euch bewusst sein. Denn Ihr seid ein Mann der Gesetze. Ich schätze Euch und ich begreife Eure Bemühungen. Aber Tatsachen sind Tatsachen."
"Man wird Brylod bestrafen."
"Ja, das wird man. Aber das Reich hat durch ihn einen Krieg gegen mich begonnen. Das kann ich nicht dulden."
Baelon nickte langsam. "So wie Ihr mich kennt, kenne ich auch Euch. Schon immer seid Ihr ein Feind der Familie Breton gewesen. Obwohl Euer Haus und ihr Haus eine gemeinsame Blutlinie besitzen. Warum also nicht diesen Zwischenfall begraben und vergessen? Was habt Ihr schon zu verlieren, Mylord?"
"Ich habe den Bürgerkrieg damals nicht begonnen, weil es aus einer Laune heraus geschah. Es waren Tatsachen, die mich dazu trieben. Dinge, die ich weiß. Genau wie heute. Man kann sagen, dass Brylods Angriff für mich nicht unwillkommen war. Nun habe ich einen Grund, zu marschieren. Und... was die Königin betrifft. Persönlich habe ich nichts gegen das Kindchen. Aber sie ist zu jung, sie ist ungeeignet, zu weich."
"Und eine Breton, das ist es, nicht wahr?", fragte Baelon nach.
"Eine Breton? Wenn sie es wäre, würde ich sie sogar akzeptieren. Aber sie ist es nicht. Genau wie Lerhon keiner war - wir wissen das, denn Crenns Stammbaum gibt uns Auskunft darüber, Lord Baelon."
"Das bretonische Erbrecht ist interpretierbar, wie es leider viele Gesetze sind. Und Stammbäume können gefälscht werden."
"Ich weiß, dass Phaeon den Beweis gefunden hat...", antwortete der Untote.
"Und? Glaubt Ihr denn, das Volk wird einen Untoten akzeptieren? An der Seite einer unheimlichen Wiedergängerin wie Tysandra?"
"Das Volk wird ihn akzeptieren, wenn das Volk verwandelt worden ist..."
"Das wollt Ihr tun? Ich habe Euch, trotz allem, für einen stolzen Mann gehalten. Immer. Ihr wollt alle Menschen zu diesen seelenlosen Sklaven machen?"
"Könnt Ihr es verhindern?", fragte Caldorvan und lachte.
"Man wird kämpfen. Niemand wird einfach aufgeben."
"Und doch scheitern, am Ende. Wenn sich nämlich aus den Schatten des Zweifels die Angst wie ein Licht erhebt. Aber in Wahrheit ist es kein Licht - es ist nur ein weiterer Schatten."
"Tysandra wird niemals herrschen!", sagte Baelon und schlug die Faust auf den Tisch.
"Das wird sie auch nicht, denn sie ist gefallen. Sie starb in Brulund, vor den Augen der Hüter, vor den Augen von Velas von Aestrinor."
"Was...?"
"Ja. Und um ehrlich zu sein: Das macht es leichter", antwortete der Untote und lachte wieder.
"Für Euch gibt es keinen Stammbaum mehr, Caldorvan. Ihr mögt ein Torbrin sein, aber Ihr sagtet Euch vom Reich los. Wenn, dann wäret Ihr einfach nur ein weiterer Eroberer. Erinnert Euch an Sicarion Grauwind. Er hat es versucht, er scheiterte. Er ist tot. Vergessen."
"Sprecht diesen Namen nicht aus!", grollte der Untote, und Nebel stieg aus dem Visier seines schwarzen Helmes.
"Ihr werdet fallen, Caldorvan..."
"Nicht, wenn das Recht auf meiner Seite steht!"
"Das Recht? Welches Recht außer dem des Stärkeren könnte es schon sein? Jeder Eroberer, jeder Tyrann wird irgendwann fallen. Das ist der Lauf der Geschichte, daran glaube ich."
"Wieviele Kinder habe ich, Baelon?", fragte Caldorvan plötzlich.
"Was soll diese Frage? Von euren Kindern sind alle verwandelt oder tot, nur Aurelia und Aurelion stehen auf der Seite derer, denen die Götter wohlgesonnen sind."
"Das Recht meiner Erben wird mein Recht sein. Und nun geht, Baelon. Bringt Eure Armee heim, denn es wird zu keiner Vergeltung kommen. Ich habe nicht den Wunsch, heute oder morgen gegen das Reich zu marschieren. Ich gebe Euch die Gelegenheit, die Dinge, wie sie wirklich sind, zu erkennen."
"Was soll das nun wieder heißen?", fragte Baelon.
"Das Recht, Baelon, das Recht..."
Nour
Zada. Das Kind war schon lange verschollen. Nour hatte sie zuletzt vor dem Aufbruch gesehen. Damals war Dakhil zum Auserwählten Amurs geworden, nachdem er vierzig Tage und Nächte durch die Wüste gewandert war. Der Abschied, er war kurz gewesen. Dakhil hatte das Mädchen einem seiner Vasallen anvertraut, einem Mann, den die anderen Khagane als einen Räuber verachteten, der aber Dakhils Sympathie schon vor langer Zeit gewonnen hatte. "Wieso übergibst du ihm das Kind und nicht unserem jüngsten Sohn?", hatte Nour ihn gefragt. "Jahir muss mit den Kriegern, die ich zurücklasse, den Tempel schützen. Wenn Qabel und die anderen Horden Amurs Haus beschützen, dann werden meine Männer Shal-Amurs Tempel bewachen. Und dort sollte Zada nicht sein. In den letzten Wochen sind immer mehr Diener des Schwarzen Kreuzes gekommen. Ich will meiner Tochter das Schicksal ersparen, wie es meiner Mutter zuteilgeworden ist und wie du es erleiden musstest, als Varcus dich quälte", hatte er damals geantwortet.
"Lieber übergibst du sie einem Räuber?"
"Yassir ist kein Räuber. Er ist ein ehrenhafter Mann, aber die anderen sehen nicht in sein Herz. Doch ich habe es gesehen. Sie wird sicher bei ihm sein."
"Wie du es sagst."
Damals hatte Nour ihm nie widersprochen. Sie hatte es nicht bei Zhaerius getan, nicht bei Cleophos. Sie hatte geschwiegen, als Dakhil beschlossen hatte, Tysandra in den Harem aufzunehmen. Sie hatte ebenso nichts gesagt, nachdem er mit ihr geschlafen hatte und sie ein Kind erwartet hatte. Es war nicht Dakhils Sohn, sondern der Sohn von Velas. Aber der gebrochene Stolz fühlte sich trotzdem wie ein Stich in ihr Herz an, immer wenn sie an Dakhil dachte. Zada war nicht ihre leibliche Tochter. Sie war mit einer Nebenfrau gezeugt worden, und doch war sie der größte Schatz Dakhils. Wenn Nour ihm wirklich schaden wollte, sie würde erst das Kind töten, und Dakhil müsste es sehen. Doch im Laufe der Jahre hatte Nour etwas wie Liebe für Zada entwickelt, und heute war sie in Sorge. Als Ofeigur ihr gesagt hatte, dass Amur Zada erwählt hatte, den Mann in Schwarz, den Djinn Khaliq, mit der Waffe zu vernichten, die Ricardus Schwarzstern selbst vor Ewigkeiten gefertigt hatte, da hatte sie es akzeptiert. Und wenn sie könnte, sie würde Zada auf jede Weise helfen, ihre Aufgabe zu erfüllen. Es wäre ihr letzter mütterlicher Akt, denn dann würde sie Zadas Vater ermorden, und das Kind hätte dann das Recht auf Rache.
Nachdem sie Brulund mit Erec verlassen hatte, kehrten beide in das Dorf auf Alt-Blyrtindur zurück.
"Wie ist es ausgegangen?", fragte Fynn, der gemeinsam mit Ormur und Aethel einige Schriften Alysares studierte, die Erec den Brulundern nicht überlassen hatte. Varcus kauerte neben dem Kamin und nagte an einem Knochen, den Ormur ihm hingeworfen hatte.
Nour ließ den Hüter berichten. "Tysandra ist vernichtet worden. Wie es scheint, diente sie dem Feuer, ohne es zu wissen. Sie diente dem Salamander, dem Propheten des Feuers."
"Er ist der Feind vom Eis. Er ist der Erzfeind des Jägers aus der Kälte, nicht wahr?", fragte Ormur.
Erec nickte. "So scheint es. Aber nicht er hat Tysandra getötet. Es war eine keltische Priesterin. Eine Untote. Ihr Name ist Khelain, und sie dient der Krähe. Die Krähe hat die Plage des Malstroms über uns gebracht. Khaliq, der Schwarzstern, trägt ihr Zeichen."
"Zhaerius... der Mann in Schwarz...", flüsterte Nour.
"So ist das also. Interessant", meinte Aethel.
"Wir müssen uns auf das konzentrieren, was jetzt wichtig für uns ist. Wie es scheint, hat das Mysterium, das im Jorganschelf seinen Beginn hat, uns zu seinen Hirten erwählt. Ich wünschte, ich könnte Varcus fragen, was er weiß. Aber jemand hat ihm die Zunge herausgeschnitten...", sagte Erec und sah Nour an.
"Du kannst mich fragen. Er lebt nur noch, weil du ihn brauchst. Aber was er weiß, das hat er mir berichtet."
Ormur erhob sich, sah zu Varcus, dann ging er ein paar Schritte durch den Raum. "Wir müssen erfahren, was es bedeutet, so ein Hirte zu sein. In den Schriften steht nichts darüber. Wir kreisen umher und kommen zu keinem Ergebnis. Das ist vielleicht alles Zeitverschwendung", knurrte er.
"Irgendwas muss hier sein", sagte Aethel.
"Wir müssen es uns nochmal ansehen. Wenn Alysare davon gewusst hat, dann hat sie es auch aufgeschrieben", sprach Fynn.
"Und wenn sie ihr Wissen mit in ihr Grab genommen hat? Woher wollt ihr denn wissen, dass sie es aufschrieb oder dass das Wissen nicht in Brulund auf uns wartet?", fragte Ormur.
Erec schüttelte den Kopf. "Dann hätten sie es schon gefunden und uns gesagt."
Nour sah kurz hinaus. Die Werwölfe hatten sich auf dem Dorfplatz verteilt und lagen nun faul herum. Erecs Begleiter, der Luchs, lief zwischen ihnen umher. Dann sah Nour wieder zu Erec. "Frag mich, was Varcus weiß. Dann hat das Gerede ein Ende und vielleicht auch deine Ratlosigkeit."
"Dann berichte uns", bat Erec.
"Wie ihr wisst, ist Varcus ein Wolf. Er hat sich in Tectaria das erste Mal verwandelt. Es war Vollmond. Und der Nebel war da. Wie bei mir, wie bei Dakhil und allen anderen. Sicherlich auch bei den Wölfen."
"Aber das ist keine Gemeinsamkeit. Ich bin kein Wandler, und Ormur, Fynn und Aethel sind es auch nicht. Außerdem fehlt uns noch einer in der Liste, und ich finde ihn einfach nicht. Sein Geburtstag gleich auf den Tag meinem, nur die Jahre stimmen nicht. Derjenige muss sehr alt sein."
"Wann hat Varcus sich verwandelt? Konnte er dir den Tag nennen?", fragte Aethel.
Nour nannte den Tag. "Hilft das weiter?"
"Ein Jahresfest meines Volkes, wie bei allen anderen", meinte Fynn. "Dennoch interessant."
"Was denn?", fragte Erec.
Fynn zeigte auf den zentralen Drudenfuß, von dem die anderen Gebilde ausgingen. "Er ist sicher, dass er den Mond gesehen hat?"
"Er behauptete das - wieso? Wenn er gelogen hat, wird er sehr leiden...", fauchte sie.
"Schaut auf den Kalender, den Erec angefertigt hat", sagte Fynn und zeigte auf die Jahre und die Tage. Sie legten die Karte Tectarias darunter.
Ormur erkannte es zuerst. "Unmöglich", brummte er. "Da war kein Vollmond."
Jetzt sah Nour, was sie meinten, und sie sah noch mehr. "Doch. Aber es gab eine Finsternis. Der Mond war nicht zu sehen. Er muss mich angelogen haben", sagte sie und ging auf Varcus zu, der sie ansah und das Haupt wie ein geprügelter Hund - und nichts anderes war er für sie - senkte.
"Warte!", rief Fynn. "Er hat ihn vielleicht gesehen. Erinnere dich, was du uns über Dakhil gesagt hast. Auch er sah den Mond, damals, nachdem Crenn ihn befreit hatte und er auf dem Weg nach Samariq war. Aber er sah auch den Nebel. Wie konnte er dann den Mond erkennen?"
Sie musste zustimmen. "Ich habe auch beides gesehen. Aber... als ich mich wandelte, da geschah es in einem Zelt." Kurz dachte sie an die Wollust, den Blutdurst und für einen Moment war es ihr, als würde sie Dakhils Glied zwischen ihren Lenden fühlen. Nour wurde feucht und warm.
"Ihr habt es vor dem inneren Auge gesehen", sprach Ormur. Er roch ihre Gier nach einem Mann, denn er sah zu ihren Lenden.
Sie legte eine Hand in ihren Schoß. "Ja, so war es."
"Es ist eine besondere Magie. Sie wirkt auf den Geist, wenn sie einen verwandelt...", sagte Erec.
"Aber dennoch gibt es keine Gemeinsamkeit zwischen den Hirten", meinte Nour.
Erec schüttelte den Kopf. "Doch. Ich sehe sie nun: Als ich mich verwandelte, da war es Nacht. Es herrschte ein Sturm. In dieser Nacht wollte ich sterben, nachdem Hrabanus in die Finsternis gestürzt war und zum Weinenden Gott wurde. Aber ich habe mich geändert. Ich habe in dieser Nacht meinen Weg gefunden. Schaut euch diesen Tag im Kalender an. Der Mond war voll, es herrschten Unwetter und Nebel. Aber ich habe nie so klar gesehen."
Omur musterte erneut die Listen der Tage, des Wetters, der Ereignisse. "Dort habe ich meinen Namen gefunden. Einst nannte man mich Varungar. Aber als ich eine Bestie Dholons vernichtet habe, da änderte mein Volk ihn in Ormur. Der Mond war voll, es herrschte Nebel."
"Was ist mit den Turteltäubchen?", fragte Nour und sah zu Fynn und Aethel, die errötete.
"Als wir uns... lieben lernten, da regnete es und es stürmte. Wir waren auf See. Nebel war ganz bestimmt dort. Und... es war Vollmond", sagte Fynn.
"Mond und Nebel. Er hat Dholon zum Winterkönig gemacht. Er hat uns alle verändert. Er ist nicht nur für Wandler verantwortlich. Er beherrscht unsere...Seelen. In verschiedenen Weisen haben Mond und Nebel in die Geschichte eingegriffen, im Großen wie im Kleinen. Von da an hat es unseren Weg bestimmt, nicht wahr?", fragte Erec in die Runde.
Niemand, auch nicht Nour, konnte das leugnen. Wenn sie sich nicht verwandelt hätte, sie wäre nie auf diese Insel gekommen. Niemals hätte sie Dakhil verlassen, an den sie gerade unentwegt denken musste. Ohne Hass. "Wie geht es jetzt weiter?", fragte sie.
"Mond und Nebel sind das Mysterium, in anderer Form. Und es hat seine Hirten gewählt", schloss Aethel.
"Aber wer ist der letzte Hirte?", fragte Ormur dann.
Nour beendete ihr Schweigen darüber. "Ich glaube, ich habe ihn gesehen. Als wir eintrafen... Ich sah Mond und Nebel in seinen Augen."
"Wer ist es? Grennwyr?", fragte Erec und sah zu den Wölfen.
"Es ist dein Luchs."
"Er versteht alles, was wir sagen", sagte Ormur und nickte dazu. Fynn stand auf, ging langsam hinaus und streckte seine Hand aus. Der Luchs näherte sich, schnupperte und folgte ihm ins Haus. Dann setzte sich das Tier vor Erec hin und wartete, sah ihn an. "Sprich zu ihr", sagte Nour.
"Ihr?"
"Es ist ein Weibchen, falls du das übersehen hast", sprach sie und musste schmunzeln. Sie fühlte sich seltsam wohl auf Alt-Blyrtindur. Plötzlich war alles friedlich in ihr. Kein Hass. Keine Rache. Selbst Varcus bedauerte sie gerade nur.
"Bist du... ein Wandler?", fragte Erec und betrachtete die Gefährtin.
Der Luchs stellte sich auf, dann verwandelte er sich. Nour fiel auf die Knie. "Die Tänzerin!"
"Mutter?", fragte Erec überrascht.
Gwendor
Wie ein eingesperrter Luchs, die Grenzen seines Käfigs erkundend, lief der Schatzmeister der Wilderlandlords auf und ab. Wenn er eine Wand erreichte, machte er kehrt, sah zu Garrilton, dessen Blick so ratlos schien wie er selbst war, berührte das aufgeladene Gestein in seinem Rücken und ging wieder zur anderen Seite. "Tysandra ist tot...", murmelte er immer wieder. In all den Jahren war es ihm immer wieder gelungen, sich für die richtige Sache und die Gewinnerseite zu entscheiden. Das war in den Kriegen so gewesen, und auch in Friedenszeiten hatte Gwendor es stets geschafft, in geschickten Manövern und vor allem mit dem großzügig zur Seite geschaffenen Gold das Haus Brylod in ein gutes Licht zu rücken. Eine gute Position, sicher, reich an Einfluss, aber nicht so auffällig, dass die Königin auf ihn aufmerksam werden würde. Aber nun hatte er auf das falsche Pferd gesetzt. Tysandra war tot, ermordet von irgendeiner seltsamen Priesterin, deren Namen er noch nie gehört hatte. Und Wilderberg? Er hatte seine Truppen die Festung angreifen lassen, wie es Tysandra befohlen hatte. Jetzt aber hatten die Kundschafter berichtet, dass die Schatten aus der Anderwelt Einzug gehalten hatten, gemeinsam mit keltischen Priesterinnen. Wenn Tysandra niemals eine Dienerin der Krähe oder gar die Krähe selbst gewesen war, mit wem hatte Gwendor dann Geschäfte gemacht? Doch nicht nur diese Fragen gingen ihm durch den Kopf.
Die Luft wurde dünn in dem alten Fluchttunnel, der einst Hohenfels mit der Ebene der Vergessenen verbunden hatte, aber schon im ersten Brügerkrieg zwischen Prinz Lerhon und dem Haus Torbrin eingestürzt war. Nicht nur dass er wie ein gefangenes Tier hin und her lief, nein, es gab keinen Unterschied zwischen ihm und einem Zirkustier, das im Käfig auf seine letzte Vorstellung wartete. Draußen hatten seine Wachen Kundschafter aus Hohenfels bemerkt. Es gab nur einen Ausgang - Gwendor von Brylod saß in einer Falle. Nicht nur dass er mitten im Käfig auf eine Lösung der Schwierigkeiten wartete, die keinesfalls in Sicht war: Tysandras letzter Befehl war bereits ausgeführt worden. Wenn irgendjemand die Golems nun aktivieren würde, dann wäre es auch sein Ende. Das gesamte Gestein des Tunnels war mit Faulwasser bearbeitet worden, eingesperrt in einer magischen Hülle. Er hatte Leitungen in das Wasser unter dem Tunnel graben lassen, genau wie sie es befohlen hatte. Und nun war die mögliche Thronerbin ermordet worden.
"Sagst du mir nun, wie wir hier wieder rauskommen?", fragte Garrilton und folgte Gwendors Wanderungen von Wand zu Wand.
Er blieb stehen. Die Wachen richteten ihre Blicke auf ihn. Gwendor bemerkte, dass nicht nur die Umgebungsluft dünn würde. "Für alles gibt es eine Lösung. Wir müssen sie nur finden."
"Dann streng dich an. Die Männer sind bereit, um ihr Leben zu kämpfen, sobald man den Tunnel stürmt. Aber ob sie auch für dich kämpfen?"
"Was soll das heißen?", fragte Gwendor und sah zu seinen Kriegern, den Milizen Garriltons und den Söldnern, die ihnen Yphilia überlassen hatte, bevor auch sie einfach verschwunden war.
Garrilton folgte wieder seinen Blicken. "Es war alles deine Idee. Du hast mir gezeigt, wie mächtig die Erbin ist. Und nun ist sie tot. Es war alles eine einzige Betrügerei. Glaubst du, wir wollen nun mit dir fallen?"
"Ich habe mehr Leute als du hier unten. Und ihr alle steht unter meinem Kommando. Stellst du mich in Frage? Du warst sehr angetan vom Plan, und nun, wenn ein paar Probleme aufkommen, hast du Angst?"
Garrilton lachte. "Ein paar Probleme? Du verkennst wohl die Lage, Gwendor. Da draußen wird man nicht sehr lang warten. Wenn wir nicht rauskommen, dann kommen die rein. Unser Verrat ist offenkundig. Es bleiben also nur zwei Möglichkeiten: Wir stellen uns und sagen, dass du uns gezwungen hast. Oder wir alle kämpfen - und du an unserer Seite!"
Gwendor ging jede Möglichkeit durch. Er könnte vielleicht ein paar Junker bestechen. Und die Königin könnte er vielleicht überzeugen, dass er als Spion gearbeitet hatte, nachdem er von Crenns Tod erfahren hatte. Aber der Kanzler? Kein Wort würde er ihm glauben. Und wenn er Garrilton als Kopf des Unternehmens entlarven würde?
"Du hast ebenso Anteil an der Sache wie ich. Wahrscheinlich haben sie unsere Festungen schon eingekreist", sagte er.
"Das haben sie vermutlich. Ich könnte natürlich sagen, dass du mich belogen hast. Du hast mir gesagt, dass wir hier unten einen Weg finden würden, Yphilia Crenns Plan zu vereiteln, die Flüsse zu vergiften. Stattdessen hast du mich getäuscht, und ich habe dir in Wahrheit in die Hände gespielt", antwortete Garrilton und legte eine Hand an sein Schwert.
Die Soldaten Garriltons gingen ein paar Schritte und kreisten Gwendor ein. Er sah zu seinen Leuten, die ihre Schwerter zogen. "Wollen wir uns wirklich gegenseitig zerfleischen, mein Freund?"
"Lässt du mir denn eine Wahl?", fragte Garrilton, nickte den Mannen Crenns zu, die ihre Zweihänder zogen und sich an Garriltons Seite stellten. Gwendor musterte sie alle. "So soll das jetzt geschehen? Als wir alle Trümpfe in der Hand hatten, da wart ihr sehr einverstanden mit dem Plan. Und nun bekommt ihr es mit der Angst zu tun und sucht euch die Seite aus, die euch am besten steht?"
"Ist es nicht das, was du all die Jahre getan hast?", fragte Garrilton.
Ja, genau das hatte er immer getan. Und nun kehrten die Dinge sich um. Die Geister, die er gerufen hatte, legten ihre kalten Hände an seinen Hals, bereit, seinen Kehlkopf zu zerdrücken und die gespaltene Zunge des Schatzmeisters für immer zum Schweigen zu bringen. "Ich gebe nicht kampflos auf", sagte er und befahl den Angriff. Die Söldner stellten sich schützend vor Garrilton, und dessen Soldaten versuchten sofort, Gwendor zu packen. Seine eigenen Männer stellten sich dagegen, und schon prallten die Klingen aufeinander. Einer der Söldner ließ einen Zerfleischer von der Kette. Gwendor lief an die hintere Wand, hielt das Schwert in zittrigen Händen. Aber bevor Blut vergossen wurde, sah er seinen eigenen Atem - es wurde kalt. Die Kämpfer hielten inne, als Nebel die Sicht im Gewölbe minderte, und der Zerfleischer kauerte sich wimmernd zusammen. "Was geht hier vor?", fragte Garrilton. "Vorsicht, steht zusammen!", befahl Gwendor.
Der Nebel formte eine riesige Krähe, aus deren Augen Krähen aus Fleisch und Blut entstanden. "Tysandra, sie ist zurück!", sagte einer der Männer.
Die Krähen verwandelten sich in Frauen aus Fleisch und Blut, mit Zeichen auf der Haut. Kelten. Die Nebelkrähe wurde eine andere Frau, groß, mit einer kalten fahlen Haut. Ihre Augen glühten, und das Gesicht war halb verborgen hinter einem Helm, an dessen Enden die Schwingen einer Krähe angedeutet waren. Sie roch nach Tod und Verwesung. "Wer... seid Ihr?", fragte Gwendor, nachdem der Nebel verschwunden war, und er, Garrilton und die anderen die Frauen mit ihren Klingen bedrohten.
"Hört auf, euch zu bekämpfen. Ich herrsche nun über Wilderberg, und mein Gemahl Caldorvan gebietet im Namen der Krähe, für die wir beide stehen, über die Plage. Tysandra ist nicht mehr. Ich habe sie vernichtet", sagte die Frau, und ihre Stimme war wie der Tod. "Die Krähe muss satt werden."
Aran
Er hatte alles berichtet. Seine Worte würde man nun in Skjöldbur, am Blauen Turm und bald auch in Brulund auswerten. Aran hatte sich nach seinem Verrat an Caldorvan und nachdem er sich gegen Saban gestellt hatte, in Brulund vorstellig gemacht, wie es sich gehörte. Äußerlich mochte er ein Malstromwesen sein, aber im Innern fühlte er, dass er wieder Lebans Wege ging. Weder diente er Caldorvan noch Zhaerius oder einem anderen Eroberer. Von Scharlatanen und Schurken hatte er endgültig genug. Nein, er war stets ein Mann Lebans geblieben. Die Ironie war, dass jeder Versuch, ihn davon abzubringen oder seinen Verstand zu benebeln, nicht nur gescheitert war, sondern ihn jetzt nur weiter bestärkte. Weder das Gesäusel Gloriannas hatte ihn davon abbringen können noch der Dybbuk, der Mann in Schwarz, der lächerliche Gott Hrabanus und erst recht nicht sein Vater, für den Aran jetzt mehr Verachtung als je zuvor verspürte. Die Macht der Zendavesta war ihm ein Segen geworden, denn er war überzeugt, dass diese Zauberei ihn vor den schadhaften Auswirkungen der Sieche, der Plage Khaliqs bewahrt hatte. Nun, eigentlich war es ja gar nicht Khaliqs Plage. Er mochte der Herr der Plagen sein und im Mann in Schwarz, also in Ricardus und Zhaerius einen Wirt gefunden haben, aber in Wahrheit herrschte die Krähe - nun in Form der Priesterin Khelains, die tatsächlich Caldorvan geheiratet hatte. Caldorvan hatte das gewusst, schon immer: Die Seuche Morrighans hatte sich hinter Zhaerius versteckt. Auch die Stammbäume Szaraks kannte der Untote Lord. Doch es war Aran ein Rätsel, wieso Caldorvan tatsächlich Khelain folgte. Da war keine Bezauberung, keine Beherrschung. Nein, er hatte aus freien Stücken so und nicht anders entschieden. Eine klare Verbindung zwischen beiden gab es natürlich: Beide waren sie untot. Der eine war im Seelenmoor entstanden, in einer nebligen Vollmondnacht. Die andere war Esthelions Mutter, Dholons Eheweib. Getötet von Dholon selbst. Aran war sich sicher, dass auch hier Mond und Nebel anwesend gewesen sein mussten. Aber ein weiterer Zusammenhang? "Caldorvan war niemals sentimental und sein Glauben galt immer Leban... Wieso jetzt diese Frau?", fragte er und drückte den Monddolch an die Kehle von Liranus.
"Wenn du mich tötest, werde ich wiederkehren. Auch dein Bruder Saban kehrt zurück, Verräter. Von mir wirst du nichts erfahren", antwortete der einstige Stammvater aller Bretonen.
"Du irrst, Liranus, sogar sehr. Siehst du diese Klinge? Ich habe sie einem Krieger des Winterkönigs abgenommen. Sie vergeht nicht in meiner Hand. Ein weiteres Geschenk der Zendavesta. Aber du wirst vergehen. Und auch mein Bruder, sollte er mich finden."
"Und doch schweige ich. Ich sterbe für Caldorvan, denn er ist mein einziger Herr. Du solltest dich schämen, deinen Vater zu verraten..."
"Verrat?", lachte Aran. "Dass ausgerechnet du dieses Wort gebrauchst, das ist lächerlich. Du warst es, der unser Volk - und ich meine die Bretonen - in dieses Land geführt hat, weit weg von den Scheiterhaufen, die nun wieder brennen. Aber weil wir eine Plage sind, eine Seuche, unnatürlich und eine Nemesis für alle Menschen."
"Sie werden alle wie wir sein. Ein großes Volk von Brüdern."
Er drückte den Dolch etwas fester an die fahle Kehle von Liranus. "Hör dich doch an, Liranus. Es ist falsch. Alles ist falsch. Die Menschen sind gut wie sie sind. Mit all ihren Fehlern. So wollen die Götter sie haben."
"Caldorvan ist unser aller Erretter."
"Dann bete, dass er dich rettet. Ich glaube nämlich, das wird nicht geschehen... Ich werde dich töten, wenn du mir nicht antwortest: Wieso Khelain?"
Aber Liranus schwieg. Dann zog Aran den Dolch durch die Kehle des Stammvaters. Dass er eines Tages Liranus töten würde, hätte er nicht gedacht, als dieser zerfloss und auf ewig verdunstete.
Liranus hatte es sich in den Kopf gesetzt, eine Stadt an der Nebelküste zu errichten. Aran hatte sein Zelt durchsucht, nur den Schlüssel für die Truhe hatte er nicht finden können. Er steckte den Dolch in den Gürtel, sprach ein Wort und konzentrierte sich auf das Schloss. Es war mit Magie gesichert. Er fühlte, wie seine Kraft mit der Sicherung im Wettstreit lag. Aber die Zendavesta waren bis zu ihrem Tode Meister jeder Magie gewesen - Aran gewann. Er durchwühlte den Inhalt. Irrwitzige Pläne für ein Forum, ein Kolosseum und einen Tempel des Weinenden Gottes waren darauf zu sehen, und er lachte so herzlich wie es ihm nur möglich war. Dann entdeckte er ein Buch. Er betrachtete den Titel. Sollte Caldorvan wirklich so unbedacht gewesen sein, ausgerechnet Liranus dieses Werk zu überlassen? Schnell blätterte Aran durch den Stammbaum des Hauses Torbrin. Er fand bekannte und unbekannte Namen. Hier und da eine gemeinsame Ehe mit Giltheas oder Breton. Dort eine mit Theren und Dunkelwald. Aber nichts, das irgendwie verdächtig wäre. Als er aber auf den mittleren Seiten - bevor sein eigener Name und der seiner Geschwister auftauchen würde - angelangt war, hätte ihm wohl der Atem gestockt, wenn er noch Luft bräuchte zum Überleben.
"Lerhon...?", fragte er leise.
Eilig las er sich die Einträge durch, die Caldorvan dort zu Lebzeiten hinterlassen hatte. Es hatte ein Abkommen gegeben. Und der Ritter, den Phaeron sicher schon in Verdacht hatte, er war Teil davon gewesen. Aber er war gestorben, bevor... Plötzlich rotierten Arans Gedanken umher. Und wenn es ein Mord gewesen war, um genau dies zu verhindern? Das Haus Torbrin hatte mehr als nur einen berechtigten Anspruch auf den Thron, es war der Thron! Aran schloss das Buch und packte es in eine Tasche, die er im Zelt gefunden hatte. Er musste sich beeilen, denn lange würden die Wachen seiner Illusion angreifender Winterkrieger wohl nicht mehr glauben. Aber bevor er das Zelt verließ, sah er im Augenwinkel noch etwas anderes. Eine Zeichnung. Und er kannte das Gesicht. "Was bei Leban hat denn Branda damit zu tun?", fragte er sich, nahm das Pergament und verschwand in der Nacht.
Yphilia
Wenn sie noch Gedanken oder Erinnerungen an Szarak hatte, dann nur, weil sie vor dem endgültigen Verblassen noch einmal wiederkehrten. Während ihrer Reise nach Samariq, die ihr der Mann in Schwarz befohlen hatte, dachte sie an ihn. Sie sah noch einmal ihre Hochzeit in Nordstein, die von Hetman Rokil abgesegnet und von Leif Andredson abgehalten worden war. Noch einmal sah sie ihren verzweifelten Wunsch, ein Kind zu gebären, sie sah die zahllosen Versuche, die immer vergebens geblieben waren; dann sah Yphilia Crenn die Vergewaltigung der Nordfrau. Szarak hatte sich an ihr vergangen und sie hatte geschwiegen. Sie wusste, dass er nur sie liebte, aber sie wusste auch, wie sehr er einen Erben brauchte. Schließlich sah Yphilia wie Szarak von Dhorgos Tod und Verwandlung in ein Malstromwesen erfahren hatte, wie er es schweigend hingenommen hatte, wie er alles stets nur zur Kenntnis nahm - ohne jede äußerliche Regung, jedes Gefühl. Am Ende sah sie, wie er von Tysandras Tod gehört hatte, aber dabei seltsam sicher gewesen war, dass sie wiederkehren würde. "Woher nimmst du dieses Wissen?", hatte Yphilia ihn gefragt. "Ich habe einen Mann getroffen, der sie mir zurückgeben kann. Und dann wird sie den Platz bekommen, der ihr sicher ist. Denn ich werde es nicht erleben. Du musst sie schützen, wenn sie zurück ist." "Was für ein Mann?" "Sicarion Grauwind."
Weiter kamen die Erinnerungen Yphilia Crenns nicht, die ihren Namen vergaß. So wie sie nach der Verwandlung, die Zhaerius an ihr vollzogen hatte, ihr Haar, ihre Augenfarbe und ihre weiblichen Merkmale einfach verloren hatte, verlor sie nun auch ihre Gedanken an die Vergangenheit. Die Loyalistin, mit der Gabe der Vorsehung gesegnet, wie alle Diener der Zendavesta, die Zhaerius in seinen Dienst gestellt hatte, kannte nur noch den Gedanken, Khaliq zu dienen, dem Herrn der Plagen. Sein Befehl führte sie nach Samariq, und sie leistete ihm folge, als sie mit den anderen Loyalisten über den Grund des Meeres wanderte. Der Ozean war nicht nur mit den Überresten alter Koggen und Galeeren gefüllt. Auch die Malstromwesen, die nun Caldorvan folgten, waren zu sehen. Aber weder griffen sie an, noch folgten sie ihnen. Als die Loyalisten einem Kampf auf dem Grund der See beiwohnten und sahen, wie die Krieger des Winterkönigs die Malstromwesen erschlugen, selbst da griff niemand sie an. Dann bemerkte die Loyalistin den Grund: Die Wesen und die Krieger konnten sie nicht sehen. Eine unsichtbare Magie, die Zauberei der Zendavesta schützte sie. Lächelnd führte sie die Schar weiter nach Süden, der Küste entgegen.
Allmählich begriff sie, wie sie ihre Kräfte einsetzen konnte. Sie stolperte niemals, denn jeden Schritt und jedes Hindernis sah sie im Geiste, bevor es wirklich geschah. In einem Kampf würde sie jeden Schritt ihres Gegners voraussehen. Zhaerius hatte ihr ein großes Geschenk gemacht, und die Loyalistin vermisste ihren Namen nicht. Wie konnte sie etwas vermissen, das sie niemals hatte? Schon immer musste sie eine Loyalistin gewesen sein. Und doch gab es etwas in ihr, das aufwachte. Da war ein Wunsch. Sie wollte die Zukunft sehen. Die Loyalistin befahl eine Rast, setzte sich auf einen Fels und nahm etwas Sand vom Meeresboden auf, der langsam ihre Hand verließ, als sie sie wieder öffnete. Das schwache Sonnenlicht schien auf den Grund und spiegelte sich in den einzelnen gläsernen Steinchen und Kristallen. Die Loyalistin sah darin Bilder aus kommenden Tagen. Sie sah ein großes Haus, worauf das Licht der Sonne schien. Blut tropfte aus einer Glocke, welche in einem hohen Turm hing. Aber der Glockenschlag wurde von einer Leiche gemacht, die in der eisernen Schale baumelte. Der Tote trug ein rotes Gewand. Dann sah die Loyalistin eine ferne Insel. Eine dunkle Wolke trieb umher, darin war eine Fratze zu sehen, und sie schrie, als eine schwarze Gestalt ein brennendes Schwert in die Wolke stieß, die daraufhin verging. Die schwarze Gestalt ging zu Boden, und ein Mann hielt ihren Kopf und weinte. Kurz darauf erhob er sich und sah zu einem Thron, auf dem der rote Mann saß. Neben ihm eine Frau in einem roten Kleid. Die Loyalistin sah ein Mädchen. In seinen Händen hielt es eine Lampe. Das Mädchen lächelte. Neben ihm stand ein Knabe. Seine Augen kamen der Loyalistin so vertraut vor, aber sie kannte keine Vergangenheit mehr - nur die Zukunft, die sie sah. Neben dem Jungen war ein anderer. Beide krönten des Mädchen zu ihrer Königin. Dann gingen sie gemeinsam in ein helles Licht. Wieder sah sie den Mann, der eben noch die Gestalt betrauert hatte. Er war von vielen Bäumen und Toten umgeben, die sich nicht verwandelten. "Niemand hat mir geglaubt", sagte er Mann, der eine Kutte trug wie die Menschen an dem großen Haus, das von der Sonne beschienen worden war. Als dieses Bild verschwand, sah die Loyalistin eine große Halle. In der Mitte war eine runde Tafel, und der Nebel erschlug den Rauch. Neben dem Toten, der sich nicht verwandelte, stieg Asche in den Himmel, denn die Halle hatte kein Dach mehr.
Sie wollte noch viel mehr sehen, aber ohne es zu bemerken, war sie mit den anderen schon weitergewandert. Das Meer wurde flacher, und als sie ihm entstiegen, spürte die Loyalistin die heiße Sonne über Samariq. Die Kuppel hatten sie passiert, ohne davon in irgendeiner Weise behelligt zu werden. Sie fanden ein brennendes Zeltlager vor. Frauen mit Feuerhaaren lagen dort und hauchten ihr Leben aus. Einige Krieger warfen Gefallene in ein großes Feuer. Viele Amuri warteten auf einem Hügel auf sie. "Hier hat eine Schlacht stattgefunden", flüsterte sie, als der Leib eines riesigen Hünen an ihr vorübertrieb.
Die Loyalisten zogen ihre Säbel, als mehrere Hun sich näherten. "Ich bin Khagan Muhammad. Wie ist es euch gelungen, den Wall aus Hexerei zu überwinden?", fragte einer von ihnen.
Da die Loyalistin jeden Schritt ihrer Gegner kannte, verzichtete sie auf eine Antwort. Sie war binnen weniger als einer Sekunde alle möglichen Ausgänge einer Unterhaltung durchgegangen. Keiner davon war einer ohne Kampf. So zog auch sie ihren Säbel, sah den Schlag ihres Gegners, bevor er ihn tat, und streckte den Khagan nieder. "Vater, nein!", rief ein junger Hun. "Nicht, Amil, nicht!", rief ein anderer und folgte ihm. Aber der Junge lief genau in ihren Säbel - sie sah es und es geschah. "Iskandar, es sind Diener der Zendavesta", rief ein anderer Krieger. Sie kämpften. Die Hun waren in der Überzahl, und so war es nicht verwunderlich, dass auch Loyalisten ihr Leben lassen mussten. Aber die Loyalistin sah alles, bevor es passierte. Alles. Und eine Niederlage sah sie nicht. Doch der Gegner, der sich nun in ihren Weg stellte, war schneller als alle anderen. Er sprang über sie, er machte einen Salto, stach ihr in den Rücken, schnitt ihr in den Arm und tanzte auf den Wellen, wenn er zurückwich um Atem zu holen für die nächste Attacke. Er täuschte Schläge und Stiche an, und keine seiner blitzartigen Finten konnte sie voraussehen. Plötzlich lag sie am Boden und sah, wie die Hun ihre Schar töteten - ihre Überzahl war entscheidend geworden. Wie war das möglich? Sie hatte keine Niederlage gesehen. "Warum seid ihr hergekommen?", fragte der Sieger.
"Ich werde nichts sagen. Ich weiß, dass ich nichts sagen werde, denn ich habe es gesehen", antwortete sie und sprach die Wahrheit. Ihr Befehl war Zada. Das Kind Dakhils. Der Herr der Plagen wollte das Mädchen bekommen.
"Dann bist du wertlos", sagte der Hun.
"Yassir, warte, sie kann uns helfen."
Die Hun banden sie an eines der Schiffe, die sie von den Dienern des Feuers erbeutet hatten und fuhren auf das Meer hinaus. Ihre Fähigkeit, die Macht der Zendavesta, durchstieß die Kuppel - die Hun verließen Samariq, und es war die Schuld ihres Versagens. "Jetzt mach mit ihr, was du willst."
Yassir, so war der Name des Mannes, band sie los und sah ihr in die Augen. "Ich habe so viel Tod gesehen. Du wirst denen folgen, die wir verloren haben", sagte er.
Er stach ihr einen Dolch in die Kehle, drehte ihn herum und hielt sie fest. Alles hatte sie gesehen, nur nicht ihren eigenen Tod. Plötzlich sah die Loyalistin wieder Bilder. War das die Zukunft? Sie sah eine Hochzeit. Eine schöne Frau, in der Hoffnung, ihrem Mann einen Sohn schenken zu können. Sie war sich sicher, das war ihre Zukunft. Sie war eine Loyalistin, und Khaliq belohnte stets seine treuen Diener. Als sie ihr Leben beendete, da hatte Yphilia im letzten Augenblick ihren Namen wiedergefunden, den sie nun leis flüsterte.
"Ich werde ein Gebet für dich sprechen", sagte Yassir.
Dann wurde alles schwarz, und Yphilia fand weder Hoffnung noch Trost oder eine Belohnung. Nur Leere.
Gwayan
Wyreg hatte sofort Mannen ausgeschickt, die nach Süden zogen, um Mutter Kelar zu finden. Der Reifwald war nicht sicher, das hatten Gwayan, die Alte Krähe und ihr treuer Begleiter selbst gesehen und erlebt. Zwar war Mutter stark und weise, aber je näher man dem Thron des Winters kam, umso geringer wurden die Kräfte, die ihnen die Erde gegeben hatte. Es war ihr Glück gewesen, dass ihr Begleiter kräftig war und dass die Fähigkeiten der Alten Krähe nicht nachgelassen hatten. Doch was Gwayan von der Obsidianschlange gehört hatte, es war nichts gewesen, das ihre Fahrt begünstigen würde. Erkenntnis war immer etwas Gutes, aber wenn sie einen Schatten aus Zweifel und Furcht auf die Herzen der Erkennenden warf, dann wurde es mehr zum Hindernis als zu Ansporn und Antrieb, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren.
"Sie ist eine Dienerin des Feuers, und ich habe etwas an ihr... gerochen", sagte Gwayan zu Wyreg, während die Alte Krähe wieder auf den Schultern des Elementars saß und die Krieger das Feldlager räumten. Fackeln leuchteten, denn die Dunkelheit schien sich zu nähern, selbst wenn die Wanderer lagerten. "Was ist es, das du bemerkt hast?", fragte der Valkyn.
"Sie hat ein Kind zu Welt gebracht..."
"Die Schlange? Ihre Brut wird in Eis und Schnee wohl kaum überleben. Sie ist die einzige Dienerin des Feuers auf Jorgans Rücken. Mehr würde derJäger aus der Kälte nicht dulden. Der einzige Grund dafür, dass sie noch lebt, ist, weil die Adern des Feuers sich in den Wall gegraben haben und sie vor dem Eis beschützen", sagte Wyreg, während er seine Waffen prüfte und Proviant zusammenklaubte.
Gwayan schüttelte den Kopf. Er schulterte seine riesige Schädelkeule. "Keine Schlange. Ich sah einen Salamander, der aus Obsidian, Asche, Rauch und Feuer gekommen ist. Ein Mann, der zu seinen Lebzeiten ein einfacher Eroberer war und nach seinem Tod zerschnitten und verbrannt worden ist. Aber die Schlange hat ihn neu geboren..."
Wyreg steckte seinen Speer in den Schnee und band ein paar Beutel daran fest. "Es gibt uralte Geschichten vom ewigen Krieg zwischen Eis und Feuer. Aber die Tafeln, worauf Jorgan sie geschrieben hat, sie wurden zerstört, als der falsche Winterkönig die Krone meines Königs genommen hat und als das Eis sie zerschmetterte."
"Was weißt du über diese Geschichten?"
"Ich weiß nichts darüber. Die Schlange wird sie sicher kennen. Aber wohl kaum wird sie dir noch einmal antworten, wenn sie weiß, dass du von ihrem Feuersohn gesprochen hast."
"Aus dem Feuer wird ein Diener kommen, der aus Asche und Staub, aus den Opfern der Namenlosen Geister die Versuchung formt. Und aus dem Eis wird ein Jäger kommen, und sein Pfeil ist der Bote des Geheimnisses. Das hat sie zu mir gesagt", murmelte Gwayan und sah zu Wyreg, der nun innehielt.
"Was noch?", fragte er.
"Der Jäger aus der Kälte ist der Feind dessen, der aus Feuer geboren wurde. Der Scharlachrote Tod ist der Salamander. Sein Banner hatte auf hohen Felsen geweht. Sein Zeichen. Er ist der, der aus Feuer geboren wurde. Beide sind Brüder, und der eine kann nicht ohne den anderen sterben, wie nur einer leben kann von beiden."
"Brüder?", fragte Wyreg.
"Das ist es, was ich nicht verstehe. Wenn der Jäger aus der Kälte der ist, der einst Varathessa vergiften wollte, wie kann der Salamander sein Bruder sein? Wir kennen die Namen aller Giganten, nur den des Jägers nicht. Es ergibt für mich keinen Sinn. Ich wünschte, ich könnte mir diese alten Schriften ansehen, von denen du geredet hast."
"Es gibt vielleicht eine Möglichkeit. Nicht, an die Schriften zu gelangen, aber an das Wissen. Es wird dir vermutlich nicht sehr gefallen, und der Weg ist beschwerlich."
"Führt er nach Norden? Ich gedenke nicht, umzukehren. Ich verlasse mich auf deine Krieger, dass sie Mutter Kelar finden - denn ich gehe nicht nach Süden. Die Krähen des alten Mannes müssen gerettet werden, bevor der Winterkönig sie im Namen seines Herrn ausbeutet, versklavt und quält. Sie kennen uralte Geheimnisse. Dinge, die er nicht erfahren darf. Ich bete, dass dein König zu uns stoßen wird. Denn der Winterkönig muss fallen", sagte Gwayan.
"Der Weg führt nach Norden. Es gibt westlich des Bärenflusses einen alten Tempel. Ich weiß nicht, welchem alten Gott dort gehuldigt wurde, aber der Einsiedler dort hat Feuer und Eis gleichermaßen gesehen."
"Das sagst du mir jetzt?", fragte Gwayan verwundert.
"Niemand will gern dorthin gehen..."
"Warum?"
"Dort lagerte Jorgan als der Schwarze Stern ihm den Verrat gegen Varathessa vorgeschlagen hat. Der Ort ist unheilig und finster."
"Ich muss mit diesem Einsiedler sprechen. Ich werde allein gehen, wenn es sein muss."
"Bis zum Fluss werden wir euch begleiten. Aber dann werdet ihr allein gehen. Uns ist es verboten", sagte Wyreg. Die Krieger waren bereit.
Gwayan hatte zugestimmt, aber die Alte Krähe sollte bei Wyreg bleiben. Das Elementar folgte Gwayan, als sie nach vielen Stunden die eiserne Brücke betraten, die über den gefrorenen Fluss führte. Wyreg und die anderen Krieger des rechtmäßigen Königs würden weiter gen Norden ziehen und am Feld der Nornen warten - so nannten die Nordleute, die im Schelf wohnten, das von Geistern der Gefallenen berührte Schlachtfeld der altvorderen Tage, als Riesen gegen die ersten Menschen gekämpft hatten.
Auf der anderen Seite erhob sich eine Ruine aus Basalt. "Ein ungewöhnliches Gestein, so weit im Norden", murmelte Gwayan, als er die spitzen Säulen betrachtete. Feuer war auf einer Säule gemalt worden, eine Flamme. Auf der anderen war das elementare Zeichen für Eis zu erkennen. "Ein Tempel für Eis und Feuer", sagte er dann. "Dasch Geschtein musch vom Schüden hierhergebracht worden schein", brummte das Elementar.
Auch wenn Dunkelheit herrschte, so war der Tempel von einem unheilvollen Zwielicht beleuchtet, dessen Quelle Gwayan nicht ausmachen konnte. Wölfe heulten, als sie sich näherten. Plötzlich stieg eine Flamme aus der Feuersäule, und eine Eule landete auf ihrer Spitze. Sie hatte schwarze Augen, und ihr Gefieder glühte rot. Als eisige Dämpfe von der zweiten Säule aufstiegen sah Gwayan dort oben eine Eule, deren Augen blau schimmerten, und ihre Flügel waren kalt wie Eis. Ein Tor öffnete sich von allein, es war zwischen den Säulen, die eine Wand trugen. Erst jetzt sah er einen Baum in der Mitte des Tores. Er wurde durch das Öffnen geteilt, denn sein Geäst war auf beide Flügel eingezeichnet worden. Langsam trat er ein. Das Elementar lief neben ihm, eine Hand zur Faust geballt. Dann erstarrte es - wie in der Höhle, als das Eis gekommen war, bevor Wyreg die kleine Schar entdeckt hatte. Schnell nahm Gwayan die Keule zur Hand und schaute in das Innere. Auf einer Seite leuchteten rote Fackeln, auf der anderen Seite des Ganges verströmten sie aber blaues Licht. Oben an der Decke war grünes Licht zu sehen. "Ich habe Fragen. Stell mich nicht auf die Probe, Einsiedler. Ich, Gwayan Einohr, bin nicht so weit gewandert, um jetzt zu fallen oder von dir ohne Antworten weggeschickt zu werden. Deine Zaubertricks schrecken mich nicht!", rief er in die Halle, wo der Gang endete. Er sah noch einmal zurück zum reglosen Elementar, dann wieder nach vorn. Ein regelmäßiges Klopfen kam aus der Halle, und ihm folgte schlurfend ein alter Mann, dessen klappriges Gebein von einem Stock getragen wurde, der bei jedem lahmen Schritt auf den Basaltboden schlug.
"Gwayan Einohr, ich heiße dich willkommen. Mein Name ist Argan von Giltheas. Wir haben dich erwartet", sagte der alte Mann.
"Wir?"
"Meine Kinder und ich", antwortete er. Die Fackeln wurden zu Elementarwesen aus Eis, Feuer und Erde. Sie umstellten ihn. Garsils Elementar kam dazu und stellte sich neben Gwayan. Seine Augen leuchteten grün.
Der Feuersohn, den man den Salamander nennt und den Scharlachroten Tod
Sicarion dachte nicht viel über die Vergangenheit nach - diese war für ihn so dermaßen unwichtig geworden, dass ihm das mangelnde Vertrauen Bjarturs und der anderen fast seltsam vorgekommen war, nachdem er ihnen im Gewölbe im Wilderland beigestanden hatte, als sie das Nebelgefäß eroberten. Für ihn war es wichtig, dass dem Winterkönig und dem Jäger aus der Kälte alles geraubt werden würde, was ihnen gehörte. Denn der Jäger aus der Kälte hatte etwas, das Sicarion haben wollte. Der vergiftete Pfeil musste in die Hände des Feuers geraten. Erst dann würden sie das Eis zerschmettern und den Jäger verbrennen können. Das Eis vom Jorganschelf würde wieder zum Meer werden, und der Ozean würde kochen und als Dampf in einen feuerschwangeren Himmel fahren, nur um von dort als Flammenregen zurückzukehren. Aber die Flammen würden das Land nicht verbrennen und auch seine Bewohner verschonen. Denn es war ein inneres Feuer, eine Reinigung und ein Erkennen der Elementaren Gewalten, der einzig wahren Wahrheit: Das Feuer war das Leben, und das Eis war der Tod. Dann würde niemand mehr sterben, dann gäbe es keine Pest, keinen Hunger, keinen Tod, keine Plage. Dann wäre jeder frei.
Wie ein Kind, das Angst hatte, ein Geheimnis zu verraten, hielt Sicarion die Hände an den Mund, als würde die Welt seine Gedanken hören. Die Gedanken, die er hinter einer Wand aus Flammen verbergen konnte, so wie seine Obsidianaugen keine Lüge verrieten. Liurroccar hatte für die Hüter versucht, in seine Gedanken zu sehen. Nun, er hatte ohnehin nicht gelogen. Aber das große Ziel, die Kraft des Lebens, die Flammen der Vorsehung in die Herzen aller zu brennen, musste bewahrt bleiben. Das war Mutters Befehl, und Mutter hörte und sah alles, was Sicarion tat, denn er war ihr Feuersohn. Der Schädel betrachtete ihn und lauschte. Mutter konnte ihn dadurch sehen.
Er hielt seine Hand in den Brunnen, den er in den Ostlanden gefunden hatte und wartete, bis das Gesicht erschien. "Ich grüße dich, Meister."
"Zeige mir die Hüter Blyrtindurs."
In den Wellen sah er das Innere der Sphäreninsel Blyrtindurs. Ein Wyrm hauchte seinen Odem gegen die Sphäre, aber... Dann verschwand das Bild. "Was ist das nun?", fragte Sicarion.
"Er will dir etwas zeigen, das wichtiger ist, mein Sohn", sagte Mutter. Sicarion schaute wieder in das Wasser. Es stand dem Feuer gegenüber, darum war es so ein guter Sklave.
Dort sah er einen Tempel von Eis und Feuer. "Das ist im Schelf... wer ist das?", fragte er und zeigte auf einen großen Mann, der den Tempel betrat.
"Sein Name ist Gwayan, und er ist sehr gefährlich. Er weiß, dass ich dich geboren habe. Wenn er diesen Tempel lebend verlässt, werden alle das wahre Ziel erkennen", sagte Mutter.
"Ich kann nicht in das Schelf gehen. Und du kannst deine sichere Höhle nicht verlassen. Was werden wir nun tun?"
"Es gibt nur einen Weg. Akasha wird ihn dir zeigen..."
Und der Brunnen zeigte ihm einen Palast aus Eis und dahinter eine Schwärze, die dunkler war als Obsidian. Sicarion spürte Ihn. "Er?"
"Ja... Nur einmal. Er kann nicht wollen, dass Gwayan erkennt, nicht wahr?"
"Es ist der Feind..."
"Er ist ein Ausweg", mahnte sie. Der Schädel glühte.
Sicarion nahm seinen Mut zusammen und betrat die Schwärze aller Schwärzen. Er fühlte, wie das Eis ihn auszehrte, wie es brannte, schlimmer als alles, das er kannte. Schlimmer als das Feuer, das er Theornon zu verdanken hatte. "Bruder?", fragte er dann in die Nacht aus Eis.
Schon sah er die vertrauten Augen aus einem Leben, das er nie gelebt hatte. In seinen Klauen aus Eis hielt der Jäger die Seelen seiner Brüder und Schwestern. Nur Jorgan, den sah Sicarion nicht.
"Gwayan ist in einen Tempel gegangen. Wen wird er dort sehen? Wenn er den Tempel verlässt, dann wird jeder die Wahrheit kennen, Bruder. Eine Wahrheit, die auch dich verraten kann", sagte Sicarion leise.
Aber anstatt zu antworten, verwandelte sich der Jäger aus der Kälte in ein hässliches Wesen mit Schwingen aus Eis, in eine Krähe. "Du stehst auf Khelains Seite?"
Doch sein Bruder schüttelte den Kopf, der sich nicht verändert hatte. Er zeigte auf den Tempel und breitete seine Schwingen aus. "Du willst ihn holen?"
Eine Stimme, wie sie schwärzer und kälter nicht sein konnte, antwortete: "Und dann... dann komme ich dich holen. Dann werden wir eins sein in der Nacht, die ich über die Welt trage, wenn Khelain und alle anderen sind wie die, die ich in meinen Händen trage."
"Wenn sie ...was... sind?"
Die Stimme antwortete: "Mein."
Die Krähe, die Herrscherin über alle Krähen, die sind wie sie, die man auch die Lady Nimmersatt nennt und deren Lied Ricardus Schwarzstern singt
Khelain wanderte durch den kühlen Nachtimmel über der Vestfold. Als nebelhafte Krähe sah sie alles, was unten geschah. Die Vestfold war immer noch in der Hand ihrer Kinder, der großen Plage. Im Namen der Großen Krähe beherrschte Lady Nimmersatt den Tod, die Seuche und das Fressen. Und wenn die Krähen des Alten aus Vestfold nicht gen Norden geflogen wären, auch sie wären nun Teil ihrer Brut. Dass Khelain einst eine dumme kaum entwickelte Nordfrau gewesen war, die blind genug gewesen war, den Liebesbekundungen eines Elaya zu folgen, daran dachte sie nicht mehr. Zwar gierte sie nach Rache, aber ihren Sohn Esthelion in ihre Arme zu schließen, das bedeutete ihr mehr. Vor allem aber brauchte sie die Seele, ihre Seele, die in Branda gegangen war. Erpressungsversuche waren gescheitert. Für sie selbst war die Seele ohne jede Bedeutung, denn es bedeutete Schwäche. Aber für einen anderen war sie mehr wert als alles andere. Und sie brauchte ihn noch - es war seine Bedingung gewesen. Dafür war er ihr Heermeister geworden und hatte Khaliq geblendet. Der Schwarzstern erkannte seinen Platz als Werkzeug nicht, selbst jetzt nicht.
"Wo ist das, was ich will, Khelain", fragte Caldorvan, als sie sich im Nebel begegneten.
"Branda wird wohl kaum ihre Seele verschenken. Ich habe versucht, sie zu erpressen. Aber sie haben den Vortex vernichtet - ich habe nichts in der Hand."
"Ich bin sehr enttäuscht. Dann werde ich wohl kaum tun, was du willst. Baelon ist hier. Er wünscht, mich zu sprechen..."
"Du wirst gegen Bretonia marschieren - die Große Krähe ist hungrig!"
Caldorvan lachte. "Wie Ihr wünscht, Mylady Nimmersatt. Aber erst, wenn ich habe, was ich brauche."
"Ich kann dir nicht geben, was ich nicht habe."
"Dann bist du wertlos?", fragte er.
"Esthelion will mir nicht folgen. Ich weiß, dass er sich in seiner... edlen Natur angeboten hat. Aber sie haben abgelehnt. Skjöldbur kann ich nicht erreichen. Du musst mir Zeit geben, Gemahl."
"Ich könnte dich an den Winterkönig oder den Jäger aus dem Eis verfüttern. Sicher haben sie Interesse..."
"Dann wären sie nur noch mächtiger. Bitte, mein Gemahl, ich habe dir eine Armee gegeben."
"Und ich will die Seele der Hetfrau Branda!"
Dann fragte Khelain endlich nach dem Grund. "Warum?"
"Weil sie weiß, wer ich bin..."
Baelon
"Es ist nicht nötig, Blut zu vergießen. Oder willst du, dass all deine Mannen und du selbst Wesen wie wir werden?", fragte ihn Elyarn, nachdem das Malstromwesen ihn gerufen hatte. Die Armeen standen sich gegenüber, und Baelon war wie die anderen bereit, den Pakt zu brechen, wenn es sein musste. Brylod hatte Wilderberg angegriffen, vermutlich um genau dies zu provozieren. Sie hatten nichts zu verlieren. So sah Baelon sich um, und Emes nickte von der anderen Flanke her, während Theornon und Hlifa von der anderen Seite ihre Bereitschaft zum Angriff durch das Ziehen ihrer Schwerter schon längst signalisiert hatten.
Dann sah er wieder zu Elyarn. "Wenn ihr mir keine Wahl lasst, muss ich den Angriff befehlen. Wir haben Wilderberg nicht angegriffen. Es war Gwendor von Brylod. Vermutlich hat er unter dem Befehl Tysandras gehandelt - sie ist unser Feind, und sie sollte auch der eure sein."
Elyarn musterte ihn mit seinen leeren Augen. "Aber ist Brylod denn nicht ein Lord deines Reiches?"
"Es ist nicht mein Reich. Es ist das Reich aller Bretonen und aller anderen, die in ihm leben, und Theresia ist unsere rechtmäßige Königin, und sie wird es immer sein. Auch über den Tod hinaus."
"Gut gesprochen, gut aufgesagt", spottete Elyarn.
Baelon erinnerte sich gut an Elyarn von Dryr, wie er von Bathir gedemütigt und verachtet worden war, in den Thronfolgekriegen. Aber der junge Dryr hatte sich zu wehren gewusst und nach Bathirs Tod dessen blutiges Erbe umgewandelt, den Bürgern für drei Monate die Steuern erlassen, dass sie sich von den Schrecken des Krieges und Bathirs Herrschaft erholen konnten. Und nun war er eines der Malstromwesen geworden und hatte vergessen, was es hieß, ein Vasall der Königin zu sein. "Das ist nichts, was ich aufsagen muss wie einen Kinderreim. Es ist eine Tatsache, die von den Göttern gegeben ist. Aber ich vergaß, euer Herr ist Hrabanus, der Weinende Gott, eingesperrt auf einer verfluchten Insel."
"Unsere Irrfahrt ist vorüber. Wir haben erkannt, dass der Mann in Schwarz uns betrogen hat und dass der Weinende Gott ein Herr über Schwäche und Tränen ist, der uns nicht geben kann, was wir in unserer Blindheit gesucht haben und nicht brauchen", sagte Elyarn.
"Wer kommandiert eure Truppen? Wem habt ihr nun die Treue geschworen?"
Die Truppen des Reiches wurden ungeduldiger. Theornon und Emes beschworen die Reiter und Fußsoldaten, Geduld zu üben. Elyarn musterte die Reihen. "Ihr wollt wirklich einen Krieg?"
"Beantwortet mir die Frage, Elyarn!"
"Ihr wollt ihn sprechen?", fragte er.
"Umgehend."
Baelon befahl Emes und Theornon, in jedem Fall zu warten. Er würde allein gehen. Zwar protestierten Emes, Theornon und besonders Hlifa, aber Baelon duldete keine Widerworte. "Sobald sie auch nur einen Schritt über die Grenze tun, und sei es nur einer von ihnen, fallt ihr in den Eisenwall ein und erschlagt sie, immer wieder", befahl er, als er vom Pferd stieg und Elyarn bis in die Burg folgte. "Warte hier, Kanzler."
Nach kurzer Zeit formte sich eine Nebelgestalt, die sich in einen riesigen Krieger in schwarzer gepanzerter Rüstung verwandelte. Ein Helm, bestückt mit den Hörnern eines Widders, dunkel wie der seelenlose Geist seines Trägers, verbarg das Gesicht der Gestalt, die einen riesigen Zweihänder und einen Morgenstern trug. "Baelon von Glan", sagte die Gestalt mit brodelnder Stimme, die wie immer voller Verachtung und Zorn zu sein schien. "Caldorvan."
"Es ist mutig, allein zu kommen", sagte der Untote Lord.
"Ich bin niemals allein. Die Götter sind bei mir. Und vor eurer Haustür wartet eine Armee des Reiches darauf, euren schimmligen Schädel von verdorbenen Schultern zu schlagen."
Caldorvan lachte kalt. "Das kann ich mir gut vorstellen. Ist Hlifa auch dort? Sicher ist sie enttäuscht. Und sicher ist sie voller Sorge um Euch, Baelon. Glaubt Ihr, dass ich Euch gehen lasse?"
"Wenn ich hier nicht lebend herauskomme oder wenn ich verwandelt werde, dann wird man kommen. Es mögen viele fallen, aber ich bin mir recht sicher, dass einige es schaffen werden. Und Ihr werdet nicht entkommen, denn Ihr werdet nicht fliehen. Ihr seid zu stolz. Ihr werdet Euch einem Kampf stellen, oder etwa nicht?", fragte Baelon und gab sich Mühe, keinerlei Unsicherheit zu zeigen, denn ihm war, als würde der Untote tief in seinen Geist schauen, wenn der Kopf sich bewegte und unsichtbare Augen ihn betrachteten.
"Ihr erinnert mich an einen Burschen, der mal mein Gast war. Er nahm kein Blatt vor den Mund. Ich mag das, ja, ich mag das - aber treibt es nicht zu weit, Baelon."
"Ein Hoch auf diesen Gast. Ich hätte ihn gern kennengelernt."
"Oh, Ihr kennt ihn. Es ist Phaeron von Yren. Ich spürte seine Präsenz, vor kurzer Zeit. So wie ich auch Mercutio spürte. Beide haben sie versucht, in meine Gedanken zu schauen. Aber es ist ihnen nicht gelungen."
"Darum bin ich hier, Caldorvan."
Der Untote knurrte. "Es heißt Lord Caldorvan!"
"Verzeiht... Lord Caldorvan...", antwortete Baelon.
"Das Bretonische Reich hat den Pakt gebrochen als es meine Truppen in Wilderberg angegriffen hat. Dies ist eine Tatsache. Es gibt nichts, worüber man verhandeln müsste."
"Nun, um genau zu sein... Wäre man ein Schriftgelehrter, so fände man eine Lücke in unserem Pakt. Ist es nicht so, dass Wilderberg ureigentliches Eigentum des Reiches Bretonia ist?"
"Der Pakt wurde nach der Eroberung Wilderbergs geschlossen", sagte Caldorvan.
"Ich werde nicht dagegen argumentieren. Aber Ihr sollt wissen, dass Brylod nicht im Namen der Königin gehandelt hat..."
"Wenn ein Vasall die Grenze des Reiches überschreitet und einen feindlichen Akt gegen das Lehen eines anderen Reiches begeht, dann fällt das, was der Vasall ab diesem Zeitpunkt tut, genau so auf die Königin zurück wie alles Gute, was er tut. Dies sollte Euch bewusst sein. Denn Ihr seid ein Mann der Gesetze. Ich schätze Euch und ich begreife Eure Bemühungen. Aber Tatsachen sind Tatsachen."
"Man wird Brylod bestrafen."
"Ja, das wird man. Aber das Reich hat durch ihn einen Krieg gegen mich begonnen. Das kann ich nicht dulden."
Baelon nickte langsam. "So wie Ihr mich kennt, kenne ich auch Euch. Schon immer seid Ihr ein Feind der Familie Breton gewesen. Obwohl Euer Haus und ihr Haus eine gemeinsame Blutlinie besitzen. Warum also nicht diesen Zwischenfall begraben und vergessen? Was habt Ihr schon zu verlieren, Mylord?"
"Ich habe den Bürgerkrieg damals nicht begonnen, weil es aus einer Laune heraus geschah. Es waren Tatsachen, die mich dazu trieben. Dinge, die ich weiß. Genau wie heute. Man kann sagen, dass Brylods Angriff für mich nicht unwillkommen war. Nun habe ich einen Grund, zu marschieren. Und... was die Königin betrifft. Persönlich habe ich nichts gegen das Kindchen. Aber sie ist zu jung, sie ist ungeeignet, zu weich."
"Und eine Breton, das ist es, nicht wahr?", fragte Baelon nach.
"Eine Breton? Wenn sie es wäre, würde ich sie sogar akzeptieren. Aber sie ist es nicht. Genau wie Lerhon keiner war - wir wissen das, denn Crenns Stammbaum gibt uns Auskunft darüber, Lord Baelon."
"Das bretonische Erbrecht ist interpretierbar, wie es leider viele Gesetze sind. Und Stammbäume können gefälscht werden."
"Ich weiß, dass Phaeon den Beweis gefunden hat...", antwortete der Untote.
"Und? Glaubt Ihr denn, das Volk wird einen Untoten akzeptieren? An der Seite einer unheimlichen Wiedergängerin wie Tysandra?"
"Das Volk wird ihn akzeptieren, wenn das Volk verwandelt worden ist..."
"Das wollt Ihr tun? Ich habe Euch, trotz allem, für einen stolzen Mann gehalten. Immer. Ihr wollt alle Menschen zu diesen seelenlosen Sklaven machen?"
"Könnt Ihr es verhindern?", fragte Caldorvan und lachte.
"Man wird kämpfen. Niemand wird einfach aufgeben."
"Und doch scheitern, am Ende. Wenn sich nämlich aus den Schatten des Zweifels die Angst wie ein Licht erhebt. Aber in Wahrheit ist es kein Licht - es ist nur ein weiterer Schatten."
"Tysandra wird niemals herrschen!", sagte Baelon und schlug die Faust auf den Tisch.
"Das wird sie auch nicht, denn sie ist gefallen. Sie starb in Brulund, vor den Augen der Hüter, vor den Augen von Velas von Aestrinor."
"Was...?"
"Ja. Und um ehrlich zu sein: Das macht es leichter", antwortete der Untote und lachte wieder.
"Für Euch gibt es keinen Stammbaum mehr, Caldorvan. Ihr mögt ein Torbrin sein, aber Ihr sagtet Euch vom Reich los. Wenn, dann wäret Ihr einfach nur ein weiterer Eroberer. Erinnert Euch an Sicarion Grauwind. Er hat es versucht, er scheiterte. Er ist tot. Vergessen."
"Sprecht diesen Namen nicht aus!", grollte der Untote, und Nebel stieg aus dem Visier seines schwarzen Helmes.
"Ihr werdet fallen, Caldorvan..."
"Nicht, wenn das Recht auf meiner Seite steht!"
"Das Recht? Welches Recht außer dem des Stärkeren könnte es schon sein? Jeder Eroberer, jeder Tyrann wird irgendwann fallen. Das ist der Lauf der Geschichte, daran glaube ich."
"Wieviele Kinder habe ich, Baelon?", fragte Caldorvan plötzlich.
"Was soll diese Frage? Von euren Kindern sind alle verwandelt oder tot, nur Aurelia und Aurelion stehen auf der Seite derer, denen die Götter wohlgesonnen sind."
"Das Recht meiner Erben wird mein Recht sein. Und nun geht, Baelon. Bringt Eure Armee heim, denn es wird zu keiner Vergeltung kommen. Ich habe nicht den Wunsch, heute oder morgen gegen das Reich zu marschieren. Ich gebe Euch die Gelegenheit, die Dinge, wie sie wirklich sind, zu erkennen."
"Was soll das nun wieder heißen?", fragte Baelon.
"Das Recht, Baelon, das Recht..."
Nour
Zada. Das Kind war schon lange verschollen. Nour hatte sie zuletzt vor dem Aufbruch gesehen. Damals war Dakhil zum Auserwählten Amurs geworden, nachdem er vierzig Tage und Nächte durch die Wüste gewandert war. Der Abschied, er war kurz gewesen. Dakhil hatte das Mädchen einem seiner Vasallen anvertraut, einem Mann, den die anderen Khagane als einen Räuber verachteten, der aber Dakhils Sympathie schon vor langer Zeit gewonnen hatte. "Wieso übergibst du ihm das Kind und nicht unserem jüngsten Sohn?", hatte Nour ihn gefragt. "Jahir muss mit den Kriegern, die ich zurücklasse, den Tempel schützen. Wenn Qabel und die anderen Horden Amurs Haus beschützen, dann werden meine Männer Shal-Amurs Tempel bewachen. Und dort sollte Zada nicht sein. In den letzten Wochen sind immer mehr Diener des Schwarzen Kreuzes gekommen. Ich will meiner Tochter das Schicksal ersparen, wie es meiner Mutter zuteilgeworden ist und wie du es erleiden musstest, als Varcus dich quälte", hatte er damals geantwortet.
"Lieber übergibst du sie einem Räuber?"
"Yassir ist kein Räuber. Er ist ein ehrenhafter Mann, aber die anderen sehen nicht in sein Herz. Doch ich habe es gesehen. Sie wird sicher bei ihm sein."
"Wie du es sagst."
Damals hatte Nour ihm nie widersprochen. Sie hatte es nicht bei Zhaerius getan, nicht bei Cleophos. Sie hatte geschwiegen, als Dakhil beschlossen hatte, Tysandra in den Harem aufzunehmen. Sie hatte ebenso nichts gesagt, nachdem er mit ihr geschlafen hatte und sie ein Kind erwartet hatte. Es war nicht Dakhils Sohn, sondern der Sohn von Velas. Aber der gebrochene Stolz fühlte sich trotzdem wie ein Stich in ihr Herz an, immer wenn sie an Dakhil dachte. Zada war nicht ihre leibliche Tochter. Sie war mit einer Nebenfrau gezeugt worden, und doch war sie der größte Schatz Dakhils. Wenn Nour ihm wirklich schaden wollte, sie würde erst das Kind töten, und Dakhil müsste es sehen. Doch im Laufe der Jahre hatte Nour etwas wie Liebe für Zada entwickelt, und heute war sie in Sorge. Als Ofeigur ihr gesagt hatte, dass Amur Zada erwählt hatte, den Mann in Schwarz, den Djinn Khaliq, mit der Waffe zu vernichten, die Ricardus Schwarzstern selbst vor Ewigkeiten gefertigt hatte, da hatte sie es akzeptiert. Und wenn sie könnte, sie würde Zada auf jede Weise helfen, ihre Aufgabe zu erfüllen. Es wäre ihr letzter mütterlicher Akt, denn dann würde sie Zadas Vater ermorden, und das Kind hätte dann das Recht auf Rache.
Nachdem sie Brulund mit Erec verlassen hatte, kehrten beide in das Dorf auf Alt-Blyrtindur zurück.
"Wie ist es ausgegangen?", fragte Fynn, der gemeinsam mit Ormur und Aethel einige Schriften Alysares studierte, die Erec den Brulundern nicht überlassen hatte. Varcus kauerte neben dem Kamin und nagte an einem Knochen, den Ormur ihm hingeworfen hatte.
Nour ließ den Hüter berichten. "Tysandra ist vernichtet worden. Wie es scheint, diente sie dem Feuer, ohne es zu wissen. Sie diente dem Salamander, dem Propheten des Feuers."
"Er ist der Feind vom Eis. Er ist der Erzfeind des Jägers aus der Kälte, nicht wahr?", fragte Ormur.
Erec nickte. "So scheint es. Aber nicht er hat Tysandra getötet. Es war eine keltische Priesterin. Eine Untote. Ihr Name ist Khelain, und sie dient der Krähe. Die Krähe hat die Plage des Malstroms über uns gebracht. Khaliq, der Schwarzstern, trägt ihr Zeichen."
"Zhaerius... der Mann in Schwarz...", flüsterte Nour.
"So ist das also. Interessant", meinte Aethel.
"Wir müssen uns auf das konzentrieren, was jetzt wichtig für uns ist. Wie es scheint, hat das Mysterium, das im Jorganschelf seinen Beginn hat, uns zu seinen Hirten erwählt. Ich wünschte, ich könnte Varcus fragen, was er weiß. Aber jemand hat ihm die Zunge herausgeschnitten...", sagte Erec und sah Nour an.
"Du kannst mich fragen. Er lebt nur noch, weil du ihn brauchst. Aber was er weiß, das hat er mir berichtet."
Ormur erhob sich, sah zu Varcus, dann ging er ein paar Schritte durch den Raum. "Wir müssen erfahren, was es bedeutet, so ein Hirte zu sein. In den Schriften steht nichts darüber. Wir kreisen umher und kommen zu keinem Ergebnis. Das ist vielleicht alles Zeitverschwendung", knurrte er.
"Irgendwas muss hier sein", sagte Aethel.
"Wir müssen es uns nochmal ansehen. Wenn Alysare davon gewusst hat, dann hat sie es auch aufgeschrieben", sprach Fynn.
"Und wenn sie ihr Wissen mit in ihr Grab genommen hat? Woher wollt ihr denn wissen, dass sie es aufschrieb oder dass das Wissen nicht in Brulund auf uns wartet?", fragte Ormur.
Erec schüttelte den Kopf. "Dann hätten sie es schon gefunden und uns gesagt."
Nour sah kurz hinaus. Die Werwölfe hatten sich auf dem Dorfplatz verteilt und lagen nun faul herum. Erecs Begleiter, der Luchs, lief zwischen ihnen umher. Dann sah Nour wieder zu Erec. "Frag mich, was Varcus weiß. Dann hat das Gerede ein Ende und vielleicht auch deine Ratlosigkeit."
"Dann berichte uns", bat Erec.
"Wie ihr wisst, ist Varcus ein Wolf. Er hat sich in Tectaria das erste Mal verwandelt. Es war Vollmond. Und der Nebel war da. Wie bei mir, wie bei Dakhil und allen anderen. Sicherlich auch bei den Wölfen."
"Aber das ist keine Gemeinsamkeit. Ich bin kein Wandler, und Ormur, Fynn und Aethel sind es auch nicht. Außerdem fehlt uns noch einer in der Liste, und ich finde ihn einfach nicht. Sein Geburtstag gleich auf den Tag meinem, nur die Jahre stimmen nicht. Derjenige muss sehr alt sein."
"Wann hat Varcus sich verwandelt? Konnte er dir den Tag nennen?", fragte Aethel.
Nour nannte den Tag. "Hilft das weiter?"
"Ein Jahresfest meines Volkes, wie bei allen anderen", meinte Fynn. "Dennoch interessant."
"Was denn?", fragte Erec.
Fynn zeigte auf den zentralen Drudenfuß, von dem die anderen Gebilde ausgingen. "Er ist sicher, dass er den Mond gesehen hat?"
"Er behauptete das - wieso? Wenn er gelogen hat, wird er sehr leiden...", fauchte sie.
"Schaut auf den Kalender, den Erec angefertigt hat", sagte Fynn und zeigte auf die Jahre und die Tage. Sie legten die Karte Tectarias darunter.
Ormur erkannte es zuerst. "Unmöglich", brummte er. "Da war kein Vollmond."
Jetzt sah Nour, was sie meinten, und sie sah noch mehr. "Doch. Aber es gab eine Finsternis. Der Mond war nicht zu sehen. Er muss mich angelogen haben", sagte sie und ging auf Varcus zu, der sie ansah und das Haupt wie ein geprügelter Hund - und nichts anderes war er für sie - senkte.
"Warte!", rief Fynn. "Er hat ihn vielleicht gesehen. Erinnere dich, was du uns über Dakhil gesagt hast. Auch er sah den Mond, damals, nachdem Crenn ihn befreit hatte und er auf dem Weg nach Samariq war. Aber er sah auch den Nebel. Wie konnte er dann den Mond erkennen?"
Sie musste zustimmen. "Ich habe auch beides gesehen. Aber... als ich mich wandelte, da geschah es in einem Zelt." Kurz dachte sie an die Wollust, den Blutdurst und für einen Moment war es ihr, als würde sie Dakhils Glied zwischen ihren Lenden fühlen. Nour wurde feucht und warm.
"Ihr habt es vor dem inneren Auge gesehen", sprach Ormur. Er roch ihre Gier nach einem Mann, denn er sah zu ihren Lenden.
Sie legte eine Hand in ihren Schoß. "Ja, so war es."
"Es ist eine besondere Magie. Sie wirkt auf den Geist, wenn sie einen verwandelt...", sagte Erec.
"Aber dennoch gibt es keine Gemeinsamkeit zwischen den Hirten", meinte Nour.
Erec schüttelte den Kopf. "Doch. Ich sehe sie nun: Als ich mich verwandelte, da war es Nacht. Es herrschte ein Sturm. In dieser Nacht wollte ich sterben, nachdem Hrabanus in die Finsternis gestürzt war und zum Weinenden Gott wurde. Aber ich habe mich geändert. Ich habe in dieser Nacht meinen Weg gefunden. Schaut euch diesen Tag im Kalender an. Der Mond war voll, es herrschten Unwetter und Nebel. Aber ich habe nie so klar gesehen."
Omur musterte erneut die Listen der Tage, des Wetters, der Ereignisse. "Dort habe ich meinen Namen gefunden. Einst nannte man mich Varungar. Aber als ich eine Bestie Dholons vernichtet habe, da änderte mein Volk ihn in Ormur. Der Mond war voll, es herrschte Nebel."
"Was ist mit den Turteltäubchen?", fragte Nour und sah zu Fynn und Aethel, die errötete.
"Als wir uns... lieben lernten, da regnete es und es stürmte. Wir waren auf See. Nebel war ganz bestimmt dort. Und... es war Vollmond", sagte Fynn.
"Mond und Nebel. Er hat Dholon zum Winterkönig gemacht. Er hat uns alle verändert. Er ist nicht nur für Wandler verantwortlich. Er beherrscht unsere...Seelen. In verschiedenen Weisen haben Mond und Nebel in die Geschichte eingegriffen, im Großen wie im Kleinen. Von da an hat es unseren Weg bestimmt, nicht wahr?", fragte Erec in die Runde.
Niemand, auch nicht Nour, konnte das leugnen. Wenn sie sich nicht verwandelt hätte, sie wäre nie auf diese Insel gekommen. Niemals hätte sie Dakhil verlassen, an den sie gerade unentwegt denken musste. Ohne Hass. "Wie geht es jetzt weiter?", fragte sie.
"Mond und Nebel sind das Mysterium, in anderer Form. Und es hat seine Hirten gewählt", schloss Aethel.
"Aber wer ist der letzte Hirte?", fragte Ormur dann.
Nour beendete ihr Schweigen darüber. "Ich glaube, ich habe ihn gesehen. Als wir eintrafen... Ich sah Mond und Nebel in seinen Augen."
"Wer ist es? Grennwyr?", fragte Erec und sah zu den Wölfen.
"Es ist dein Luchs."
"Er versteht alles, was wir sagen", sagte Ormur und nickte dazu. Fynn stand auf, ging langsam hinaus und streckte seine Hand aus. Der Luchs näherte sich, schnupperte und folgte ihm ins Haus. Dann setzte sich das Tier vor Erec hin und wartete, sah ihn an. "Sprich zu ihr", sagte Nour.
"Ihr?"
"Es ist ein Weibchen, falls du das übersehen hast", sprach sie und musste schmunzeln. Sie fühlte sich seltsam wohl auf Alt-Blyrtindur. Plötzlich war alles friedlich in ihr. Kein Hass. Keine Rache. Selbst Varcus bedauerte sie gerade nur.
"Bist du... ein Wandler?", fragte Erec und betrachtete die Gefährtin.
Der Luchs stellte sich auf, dann verwandelte er sich. Nour fiel auf die Knie. "Die Tänzerin!"
"Mutter?", fragte Erec überrascht.
Gwendor
Wie ein eingesperrter Luchs, die Grenzen seines Käfigs erkundend, lief der Schatzmeister der Wilderlandlords auf und ab. Wenn er eine Wand erreichte, machte er kehrt, sah zu Garrilton, dessen Blick so ratlos schien wie er selbst war, berührte das aufgeladene Gestein in seinem Rücken und ging wieder zur anderen Seite. "Tysandra ist tot...", murmelte er immer wieder. In all den Jahren war es ihm immer wieder gelungen, sich für die richtige Sache und die Gewinnerseite zu entscheiden. Das war in den Kriegen so gewesen, und auch in Friedenszeiten hatte Gwendor es stets geschafft, in geschickten Manövern und vor allem mit dem großzügig zur Seite geschaffenen Gold das Haus Brylod in ein gutes Licht zu rücken. Eine gute Position, sicher, reich an Einfluss, aber nicht so auffällig, dass die Königin auf ihn aufmerksam werden würde. Aber nun hatte er auf das falsche Pferd gesetzt. Tysandra war tot, ermordet von irgendeiner seltsamen Priesterin, deren Namen er noch nie gehört hatte. Und Wilderberg? Er hatte seine Truppen die Festung angreifen lassen, wie es Tysandra befohlen hatte. Jetzt aber hatten die Kundschafter berichtet, dass die Schatten aus der Anderwelt Einzug gehalten hatten, gemeinsam mit keltischen Priesterinnen. Wenn Tysandra niemals eine Dienerin der Krähe oder gar die Krähe selbst gewesen war, mit wem hatte Gwendor dann Geschäfte gemacht? Doch nicht nur diese Fragen gingen ihm durch den Kopf.
Die Luft wurde dünn in dem alten Fluchttunnel, der einst Hohenfels mit der Ebene der Vergessenen verbunden hatte, aber schon im ersten Brügerkrieg zwischen Prinz Lerhon und dem Haus Torbrin eingestürzt war. Nicht nur dass er wie ein gefangenes Tier hin und her lief, nein, es gab keinen Unterschied zwischen ihm und einem Zirkustier, das im Käfig auf seine letzte Vorstellung wartete. Draußen hatten seine Wachen Kundschafter aus Hohenfels bemerkt. Es gab nur einen Ausgang - Gwendor von Brylod saß in einer Falle. Nicht nur dass er mitten im Käfig auf eine Lösung der Schwierigkeiten wartete, die keinesfalls in Sicht war: Tysandras letzter Befehl war bereits ausgeführt worden. Wenn irgendjemand die Golems nun aktivieren würde, dann wäre es auch sein Ende. Das gesamte Gestein des Tunnels war mit Faulwasser bearbeitet worden, eingesperrt in einer magischen Hülle. Er hatte Leitungen in das Wasser unter dem Tunnel graben lassen, genau wie sie es befohlen hatte. Und nun war die mögliche Thronerbin ermordet worden.
"Sagst du mir nun, wie wir hier wieder rauskommen?", fragte Garrilton und folgte Gwendors Wanderungen von Wand zu Wand.
Er blieb stehen. Die Wachen richteten ihre Blicke auf ihn. Gwendor bemerkte, dass nicht nur die Umgebungsluft dünn würde. "Für alles gibt es eine Lösung. Wir müssen sie nur finden."
"Dann streng dich an. Die Männer sind bereit, um ihr Leben zu kämpfen, sobald man den Tunnel stürmt. Aber ob sie auch für dich kämpfen?"
"Was soll das heißen?", fragte Gwendor und sah zu seinen Kriegern, den Milizen Garriltons und den Söldnern, die ihnen Yphilia überlassen hatte, bevor auch sie einfach verschwunden war.
Garrilton folgte wieder seinen Blicken. "Es war alles deine Idee. Du hast mir gezeigt, wie mächtig die Erbin ist. Und nun ist sie tot. Es war alles eine einzige Betrügerei. Glaubst du, wir wollen nun mit dir fallen?"
"Ich habe mehr Leute als du hier unten. Und ihr alle steht unter meinem Kommando. Stellst du mich in Frage? Du warst sehr angetan vom Plan, und nun, wenn ein paar Probleme aufkommen, hast du Angst?"
Garrilton lachte. "Ein paar Probleme? Du verkennst wohl die Lage, Gwendor. Da draußen wird man nicht sehr lang warten. Wenn wir nicht rauskommen, dann kommen die rein. Unser Verrat ist offenkundig. Es bleiben also nur zwei Möglichkeiten: Wir stellen uns und sagen, dass du uns gezwungen hast. Oder wir alle kämpfen - und du an unserer Seite!"
Gwendor ging jede Möglichkeit durch. Er könnte vielleicht ein paar Junker bestechen. Und die Königin könnte er vielleicht überzeugen, dass er als Spion gearbeitet hatte, nachdem er von Crenns Tod erfahren hatte. Aber der Kanzler? Kein Wort würde er ihm glauben. Und wenn er Garrilton als Kopf des Unternehmens entlarven würde?
"Du hast ebenso Anteil an der Sache wie ich. Wahrscheinlich haben sie unsere Festungen schon eingekreist", sagte er.
"Das haben sie vermutlich. Ich könnte natürlich sagen, dass du mich belogen hast. Du hast mir gesagt, dass wir hier unten einen Weg finden würden, Yphilia Crenns Plan zu vereiteln, die Flüsse zu vergiften. Stattdessen hast du mich getäuscht, und ich habe dir in Wahrheit in die Hände gespielt", antwortete Garrilton und legte eine Hand an sein Schwert.
Die Soldaten Garriltons gingen ein paar Schritte und kreisten Gwendor ein. Er sah zu seinen Leuten, die ihre Schwerter zogen. "Wollen wir uns wirklich gegenseitig zerfleischen, mein Freund?"
"Lässt du mir denn eine Wahl?", fragte Garrilton, nickte den Mannen Crenns zu, die ihre Zweihänder zogen und sich an Garriltons Seite stellten. Gwendor musterte sie alle. "So soll das jetzt geschehen? Als wir alle Trümpfe in der Hand hatten, da wart ihr sehr einverstanden mit dem Plan. Und nun bekommt ihr es mit der Angst zu tun und sucht euch die Seite aus, die euch am besten steht?"
"Ist es nicht das, was du all die Jahre getan hast?", fragte Garrilton.
Ja, genau das hatte er immer getan. Und nun kehrten die Dinge sich um. Die Geister, die er gerufen hatte, legten ihre kalten Hände an seinen Hals, bereit, seinen Kehlkopf zu zerdrücken und die gespaltene Zunge des Schatzmeisters für immer zum Schweigen zu bringen. "Ich gebe nicht kampflos auf", sagte er und befahl den Angriff. Die Söldner stellten sich schützend vor Garrilton, und dessen Soldaten versuchten sofort, Gwendor zu packen. Seine eigenen Männer stellten sich dagegen, und schon prallten die Klingen aufeinander. Einer der Söldner ließ einen Zerfleischer von der Kette. Gwendor lief an die hintere Wand, hielt das Schwert in zittrigen Händen. Aber bevor Blut vergossen wurde, sah er seinen eigenen Atem - es wurde kalt. Die Kämpfer hielten inne, als Nebel die Sicht im Gewölbe minderte, und der Zerfleischer kauerte sich wimmernd zusammen. "Was geht hier vor?", fragte Garrilton. "Vorsicht, steht zusammen!", befahl Gwendor.
Der Nebel formte eine riesige Krähe, aus deren Augen Krähen aus Fleisch und Blut entstanden. "Tysandra, sie ist zurück!", sagte einer der Männer.
Die Krähen verwandelten sich in Frauen aus Fleisch und Blut, mit Zeichen auf der Haut. Kelten. Die Nebelkrähe wurde eine andere Frau, groß, mit einer kalten fahlen Haut. Ihre Augen glühten, und das Gesicht war halb verborgen hinter einem Helm, an dessen Enden die Schwingen einer Krähe angedeutet waren. Sie roch nach Tod und Verwesung. "Wer... seid Ihr?", fragte Gwendor, nachdem der Nebel verschwunden war, und er, Garrilton und die anderen die Frauen mit ihren Klingen bedrohten.
"Hört auf, euch zu bekämpfen. Ich herrsche nun über Wilderberg, und mein Gemahl Caldorvan gebietet im Namen der Krähe, für die wir beide stehen, über die Plage. Tysandra ist nicht mehr. Ich habe sie vernichtet", sagte die Frau, und ihre Stimme war wie der Tod. "Die Krähe muss satt werden."
Aran
Er hatte alles berichtet. Seine Worte würde man nun in Skjöldbur, am Blauen Turm und bald auch in Brulund auswerten. Aran hatte sich nach seinem Verrat an Caldorvan und nachdem er sich gegen Saban gestellt hatte, in Brulund vorstellig gemacht, wie es sich gehörte. Äußerlich mochte er ein Malstromwesen sein, aber im Innern fühlte er, dass er wieder Lebans Wege ging. Weder diente er Caldorvan noch Zhaerius oder einem anderen Eroberer. Von Scharlatanen und Schurken hatte er endgültig genug. Nein, er war stets ein Mann Lebans geblieben. Die Ironie war, dass jeder Versuch, ihn davon abzubringen oder seinen Verstand zu benebeln, nicht nur gescheitert war, sondern ihn jetzt nur weiter bestärkte. Weder das Gesäusel Gloriannas hatte ihn davon abbringen können noch der Dybbuk, der Mann in Schwarz, der lächerliche Gott Hrabanus und erst recht nicht sein Vater, für den Aran jetzt mehr Verachtung als je zuvor verspürte. Die Macht der Zendavesta war ihm ein Segen geworden, denn er war überzeugt, dass diese Zauberei ihn vor den schadhaften Auswirkungen der Sieche, der Plage Khaliqs bewahrt hatte. Nun, eigentlich war es ja gar nicht Khaliqs Plage. Er mochte der Herr der Plagen sein und im Mann in Schwarz, also in Ricardus und Zhaerius einen Wirt gefunden haben, aber in Wahrheit herrschte die Krähe - nun in Form der Priesterin Khelains, die tatsächlich Caldorvan geheiratet hatte. Caldorvan hatte das gewusst, schon immer: Die Seuche Morrighans hatte sich hinter Zhaerius versteckt. Auch die Stammbäume Szaraks kannte der Untote Lord. Doch es war Aran ein Rätsel, wieso Caldorvan tatsächlich Khelain folgte. Da war keine Bezauberung, keine Beherrschung. Nein, er hatte aus freien Stücken so und nicht anders entschieden. Eine klare Verbindung zwischen beiden gab es natürlich: Beide waren sie untot. Der eine war im Seelenmoor entstanden, in einer nebligen Vollmondnacht. Die andere war Esthelions Mutter, Dholons Eheweib. Getötet von Dholon selbst. Aran war sich sicher, dass auch hier Mond und Nebel anwesend gewesen sein mussten. Aber ein weiterer Zusammenhang? "Caldorvan war niemals sentimental und sein Glauben galt immer Leban... Wieso jetzt diese Frau?", fragte er und drückte den Monddolch an die Kehle von Liranus.
"Wenn du mich tötest, werde ich wiederkehren. Auch dein Bruder Saban kehrt zurück, Verräter. Von mir wirst du nichts erfahren", antwortete der einstige Stammvater aller Bretonen.
"Du irrst, Liranus, sogar sehr. Siehst du diese Klinge? Ich habe sie einem Krieger des Winterkönigs abgenommen. Sie vergeht nicht in meiner Hand. Ein weiteres Geschenk der Zendavesta. Aber du wirst vergehen. Und auch mein Bruder, sollte er mich finden."
"Und doch schweige ich. Ich sterbe für Caldorvan, denn er ist mein einziger Herr. Du solltest dich schämen, deinen Vater zu verraten..."
"Verrat?", lachte Aran. "Dass ausgerechnet du dieses Wort gebrauchst, das ist lächerlich. Du warst es, der unser Volk - und ich meine die Bretonen - in dieses Land geführt hat, weit weg von den Scheiterhaufen, die nun wieder brennen. Aber weil wir eine Plage sind, eine Seuche, unnatürlich und eine Nemesis für alle Menschen."
"Sie werden alle wie wir sein. Ein großes Volk von Brüdern."
Er drückte den Dolch etwas fester an die fahle Kehle von Liranus. "Hör dich doch an, Liranus. Es ist falsch. Alles ist falsch. Die Menschen sind gut wie sie sind. Mit all ihren Fehlern. So wollen die Götter sie haben."
"Caldorvan ist unser aller Erretter."
"Dann bete, dass er dich rettet. Ich glaube nämlich, das wird nicht geschehen... Ich werde dich töten, wenn du mir nicht antwortest: Wieso Khelain?"
Aber Liranus schwieg. Dann zog Aran den Dolch durch die Kehle des Stammvaters. Dass er eines Tages Liranus töten würde, hätte er nicht gedacht, als dieser zerfloss und auf ewig verdunstete.
Liranus hatte es sich in den Kopf gesetzt, eine Stadt an der Nebelküste zu errichten. Aran hatte sein Zelt durchsucht, nur den Schlüssel für die Truhe hatte er nicht finden können. Er steckte den Dolch in den Gürtel, sprach ein Wort und konzentrierte sich auf das Schloss. Es war mit Magie gesichert. Er fühlte, wie seine Kraft mit der Sicherung im Wettstreit lag. Aber die Zendavesta waren bis zu ihrem Tode Meister jeder Magie gewesen - Aran gewann. Er durchwühlte den Inhalt. Irrwitzige Pläne für ein Forum, ein Kolosseum und einen Tempel des Weinenden Gottes waren darauf zu sehen, und er lachte so herzlich wie es ihm nur möglich war. Dann entdeckte er ein Buch. Er betrachtete den Titel. Sollte Caldorvan wirklich so unbedacht gewesen sein, ausgerechnet Liranus dieses Werk zu überlassen? Schnell blätterte Aran durch den Stammbaum des Hauses Torbrin. Er fand bekannte und unbekannte Namen. Hier und da eine gemeinsame Ehe mit Giltheas oder Breton. Dort eine mit Theren und Dunkelwald. Aber nichts, das irgendwie verdächtig wäre. Als er aber auf den mittleren Seiten - bevor sein eigener Name und der seiner Geschwister auftauchen würde - angelangt war, hätte ihm wohl der Atem gestockt, wenn er noch Luft bräuchte zum Überleben.
"Lerhon...?", fragte er leise.
Eilig las er sich die Einträge durch, die Caldorvan dort zu Lebzeiten hinterlassen hatte. Es hatte ein Abkommen gegeben. Und der Ritter, den Phaeron sicher schon in Verdacht hatte, er war Teil davon gewesen. Aber er war gestorben, bevor... Plötzlich rotierten Arans Gedanken umher. Und wenn es ein Mord gewesen war, um genau dies zu verhindern? Das Haus Torbrin hatte mehr als nur einen berechtigten Anspruch auf den Thron, es war der Thron! Aran schloss das Buch und packte es in eine Tasche, die er im Zelt gefunden hatte. Er musste sich beeilen, denn lange würden die Wachen seiner Illusion angreifender Winterkrieger wohl nicht mehr glauben. Aber bevor er das Zelt verließ, sah er im Augenwinkel noch etwas anderes. Eine Zeichnung. Und er kannte das Gesicht. "Was bei Leban hat denn Branda damit zu tun?", fragte er sich, nahm das Pergament und verschwand in der Nacht.
Yphilia
Wenn sie noch Gedanken oder Erinnerungen an Szarak hatte, dann nur, weil sie vor dem endgültigen Verblassen noch einmal wiederkehrten. Während ihrer Reise nach Samariq, die ihr der Mann in Schwarz befohlen hatte, dachte sie an ihn. Sie sah noch einmal ihre Hochzeit in Nordstein, die von Hetman Rokil abgesegnet und von Leif Andredson abgehalten worden war. Noch einmal sah sie ihren verzweifelten Wunsch, ein Kind zu gebären, sie sah die zahllosen Versuche, die immer vergebens geblieben waren; dann sah Yphilia Crenn die Vergewaltigung der Nordfrau. Szarak hatte sich an ihr vergangen und sie hatte geschwiegen. Sie wusste, dass er nur sie liebte, aber sie wusste auch, wie sehr er einen Erben brauchte. Schließlich sah Yphilia wie Szarak von Dhorgos Tod und Verwandlung in ein Malstromwesen erfahren hatte, wie er es schweigend hingenommen hatte, wie er alles stets nur zur Kenntnis nahm - ohne jede äußerliche Regung, jedes Gefühl. Am Ende sah sie, wie er von Tysandras Tod gehört hatte, aber dabei seltsam sicher gewesen war, dass sie wiederkehren würde. "Woher nimmst du dieses Wissen?", hatte Yphilia ihn gefragt. "Ich habe einen Mann getroffen, der sie mir zurückgeben kann. Und dann wird sie den Platz bekommen, der ihr sicher ist. Denn ich werde es nicht erleben. Du musst sie schützen, wenn sie zurück ist." "Was für ein Mann?" "Sicarion Grauwind."
Weiter kamen die Erinnerungen Yphilia Crenns nicht, die ihren Namen vergaß. So wie sie nach der Verwandlung, die Zhaerius an ihr vollzogen hatte, ihr Haar, ihre Augenfarbe und ihre weiblichen Merkmale einfach verloren hatte, verlor sie nun auch ihre Gedanken an die Vergangenheit. Die Loyalistin, mit der Gabe der Vorsehung gesegnet, wie alle Diener der Zendavesta, die Zhaerius in seinen Dienst gestellt hatte, kannte nur noch den Gedanken, Khaliq zu dienen, dem Herrn der Plagen. Sein Befehl führte sie nach Samariq, und sie leistete ihm folge, als sie mit den anderen Loyalisten über den Grund des Meeres wanderte. Der Ozean war nicht nur mit den Überresten alter Koggen und Galeeren gefüllt. Auch die Malstromwesen, die nun Caldorvan folgten, waren zu sehen. Aber weder griffen sie an, noch folgten sie ihnen. Als die Loyalisten einem Kampf auf dem Grund der See beiwohnten und sahen, wie die Krieger des Winterkönigs die Malstromwesen erschlugen, selbst da griff niemand sie an. Dann bemerkte die Loyalistin den Grund: Die Wesen und die Krieger konnten sie nicht sehen. Eine unsichtbare Magie, die Zauberei der Zendavesta schützte sie. Lächelnd führte sie die Schar weiter nach Süden, der Küste entgegen.
Allmählich begriff sie, wie sie ihre Kräfte einsetzen konnte. Sie stolperte niemals, denn jeden Schritt und jedes Hindernis sah sie im Geiste, bevor es wirklich geschah. In einem Kampf würde sie jeden Schritt ihres Gegners voraussehen. Zhaerius hatte ihr ein großes Geschenk gemacht, und die Loyalistin vermisste ihren Namen nicht. Wie konnte sie etwas vermissen, das sie niemals hatte? Schon immer musste sie eine Loyalistin gewesen sein. Und doch gab es etwas in ihr, das aufwachte. Da war ein Wunsch. Sie wollte die Zukunft sehen. Die Loyalistin befahl eine Rast, setzte sich auf einen Fels und nahm etwas Sand vom Meeresboden auf, der langsam ihre Hand verließ, als sie sie wieder öffnete. Das schwache Sonnenlicht schien auf den Grund und spiegelte sich in den einzelnen gläsernen Steinchen und Kristallen. Die Loyalistin sah darin Bilder aus kommenden Tagen. Sie sah ein großes Haus, worauf das Licht der Sonne schien. Blut tropfte aus einer Glocke, welche in einem hohen Turm hing. Aber der Glockenschlag wurde von einer Leiche gemacht, die in der eisernen Schale baumelte. Der Tote trug ein rotes Gewand. Dann sah die Loyalistin eine ferne Insel. Eine dunkle Wolke trieb umher, darin war eine Fratze zu sehen, und sie schrie, als eine schwarze Gestalt ein brennendes Schwert in die Wolke stieß, die daraufhin verging. Die schwarze Gestalt ging zu Boden, und ein Mann hielt ihren Kopf und weinte. Kurz darauf erhob er sich und sah zu einem Thron, auf dem der rote Mann saß. Neben ihm eine Frau in einem roten Kleid. Die Loyalistin sah ein Mädchen. In seinen Händen hielt es eine Lampe. Das Mädchen lächelte. Neben ihm stand ein Knabe. Seine Augen kamen der Loyalistin so vertraut vor, aber sie kannte keine Vergangenheit mehr - nur die Zukunft, die sie sah. Neben dem Jungen war ein anderer. Beide krönten des Mädchen zu ihrer Königin. Dann gingen sie gemeinsam in ein helles Licht. Wieder sah sie den Mann, der eben noch die Gestalt betrauert hatte. Er war von vielen Bäumen und Toten umgeben, die sich nicht verwandelten. "Niemand hat mir geglaubt", sagte er Mann, der eine Kutte trug wie die Menschen an dem großen Haus, das von der Sonne beschienen worden war. Als dieses Bild verschwand, sah die Loyalistin eine große Halle. In der Mitte war eine runde Tafel, und der Nebel erschlug den Rauch. Neben dem Toten, der sich nicht verwandelte, stieg Asche in den Himmel, denn die Halle hatte kein Dach mehr.
Sie wollte noch viel mehr sehen, aber ohne es zu bemerken, war sie mit den anderen schon weitergewandert. Das Meer wurde flacher, und als sie ihm entstiegen, spürte die Loyalistin die heiße Sonne über Samariq. Die Kuppel hatten sie passiert, ohne davon in irgendeiner Weise behelligt zu werden. Sie fanden ein brennendes Zeltlager vor. Frauen mit Feuerhaaren lagen dort und hauchten ihr Leben aus. Einige Krieger warfen Gefallene in ein großes Feuer. Viele Amuri warteten auf einem Hügel auf sie. "Hier hat eine Schlacht stattgefunden", flüsterte sie, als der Leib eines riesigen Hünen an ihr vorübertrieb.
Die Loyalisten zogen ihre Säbel, als mehrere Hun sich näherten. "Ich bin Khagan Muhammad. Wie ist es euch gelungen, den Wall aus Hexerei zu überwinden?", fragte einer von ihnen.
Da die Loyalistin jeden Schritt ihrer Gegner kannte, verzichtete sie auf eine Antwort. Sie war binnen weniger als einer Sekunde alle möglichen Ausgänge einer Unterhaltung durchgegangen. Keiner davon war einer ohne Kampf. So zog auch sie ihren Säbel, sah den Schlag ihres Gegners, bevor er ihn tat, und streckte den Khagan nieder. "Vater, nein!", rief ein junger Hun. "Nicht, Amil, nicht!", rief ein anderer und folgte ihm. Aber der Junge lief genau in ihren Säbel - sie sah es und es geschah. "Iskandar, es sind Diener der Zendavesta", rief ein anderer Krieger. Sie kämpften. Die Hun waren in der Überzahl, und so war es nicht verwunderlich, dass auch Loyalisten ihr Leben lassen mussten. Aber die Loyalistin sah alles, bevor es passierte. Alles. Und eine Niederlage sah sie nicht. Doch der Gegner, der sich nun in ihren Weg stellte, war schneller als alle anderen. Er sprang über sie, er machte einen Salto, stach ihr in den Rücken, schnitt ihr in den Arm und tanzte auf den Wellen, wenn er zurückwich um Atem zu holen für die nächste Attacke. Er täuschte Schläge und Stiche an, und keine seiner blitzartigen Finten konnte sie voraussehen. Plötzlich lag sie am Boden und sah, wie die Hun ihre Schar töteten - ihre Überzahl war entscheidend geworden. Wie war das möglich? Sie hatte keine Niederlage gesehen. "Warum seid ihr hergekommen?", fragte der Sieger.
"Ich werde nichts sagen. Ich weiß, dass ich nichts sagen werde, denn ich habe es gesehen", antwortete sie und sprach die Wahrheit. Ihr Befehl war Zada. Das Kind Dakhils. Der Herr der Plagen wollte das Mädchen bekommen.
"Dann bist du wertlos", sagte der Hun.
"Yassir, warte, sie kann uns helfen."
Die Hun banden sie an eines der Schiffe, die sie von den Dienern des Feuers erbeutet hatten und fuhren auf das Meer hinaus. Ihre Fähigkeit, die Macht der Zendavesta, durchstieß die Kuppel - die Hun verließen Samariq, und es war die Schuld ihres Versagens. "Jetzt mach mit ihr, was du willst."
Yassir, so war der Name des Mannes, band sie los und sah ihr in die Augen. "Ich habe so viel Tod gesehen. Du wirst denen folgen, die wir verloren haben", sagte er.
Er stach ihr einen Dolch in die Kehle, drehte ihn herum und hielt sie fest. Alles hatte sie gesehen, nur nicht ihren eigenen Tod. Plötzlich sah die Loyalistin wieder Bilder. War das die Zukunft? Sie sah eine Hochzeit. Eine schöne Frau, in der Hoffnung, ihrem Mann einen Sohn schenken zu können. Sie war sich sicher, das war ihre Zukunft. Sie war eine Loyalistin, und Khaliq belohnte stets seine treuen Diener. Als sie ihr Leben beendete, da hatte Yphilia im letzten Augenblick ihren Namen wiedergefunden, den sie nun leis flüsterte.
"Ich werde ein Gebet für dich sprechen", sagte Yassir.
Dann wurde alles schwarz, und Yphilia fand weder Hoffnung noch Trost oder eine Belohnung. Nur Leere.
Gwayan
Wyreg hatte sofort Mannen ausgeschickt, die nach Süden zogen, um Mutter Kelar zu finden. Der Reifwald war nicht sicher, das hatten Gwayan, die Alte Krähe und ihr treuer Begleiter selbst gesehen und erlebt. Zwar war Mutter stark und weise, aber je näher man dem Thron des Winters kam, umso geringer wurden die Kräfte, die ihnen die Erde gegeben hatte. Es war ihr Glück gewesen, dass ihr Begleiter kräftig war und dass die Fähigkeiten der Alten Krähe nicht nachgelassen hatten. Doch was Gwayan von der Obsidianschlange gehört hatte, es war nichts gewesen, das ihre Fahrt begünstigen würde. Erkenntnis war immer etwas Gutes, aber wenn sie einen Schatten aus Zweifel und Furcht auf die Herzen der Erkennenden warf, dann wurde es mehr zum Hindernis als zu Ansporn und Antrieb, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren.
"Sie ist eine Dienerin des Feuers, und ich habe etwas an ihr... gerochen", sagte Gwayan zu Wyreg, während die Alte Krähe wieder auf den Schultern des Elementars saß und die Krieger das Feldlager räumten. Fackeln leuchteten, denn die Dunkelheit schien sich zu nähern, selbst wenn die Wanderer lagerten. "Was ist es, das du bemerkt hast?", fragte der Valkyn.
"Sie hat ein Kind zu Welt gebracht..."
"Die Schlange? Ihre Brut wird in Eis und Schnee wohl kaum überleben. Sie ist die einzige Dienerin des Feuers auf Jorgans Rücken. Mehr würde derJäger aus der Kälte nicht dulden. Der einzige Grund dafür, dass sie noch lebt, ist, weil die Adern des Feuers sich in den Wall gegraben haben und sie vor dem Eis beschützen", sagte Wyreg, während er seine Waffen prüfte und Proviant zusammenklaubte.
Gwayan schüttelte den Kopf. Er schulterte seine riesige Schädelkeule. "Keine Schlange. Ich sah einen Salamander, der aus Obsidian, Asche, Rauch und Feuer gekommen ist. Ein Mann, der zu seinen Lebzeiten ein einfacher Eroberer war und nach seinem Tod zerschnitten und verbrannt worden ist. Aber die Schlange hat ihn neu geboren..."
Wyreg steckte seinen Speer in den Schnee und band ein paar Beutel daran fest. "Es gibt uralte Geschichten vom ewigen Krieg zwischen Eis und Feuer. Aber die Tafeln, worauf Jorgan sie geschrieben hat, sie wurden zerstört, als der falsche Winterkönig die Krone meines Königs genommen hat und als das Eis sie zerschmetterte."
"Was weißt du über diese Geschichten?"
"Ich weiß nichts darüber. Die Schlange wird sie sicher kennen. Aber wohl kaum wird sie dir noch einmal antworten, wenn sie weiß, dass du von ihrem Feuersohn gesprochen hast."
"Aus dem Feuer wird ein Diener kommen, der aus Asche und Staub, aus den Opfern der Namenlosen Geister die Versuchung formt. Und aus dem Eis wird ein Jäger kommen, und sein Pfeil ist der Bote des Geheimnisses. Das hat sie zu mir gesagt", murmelte Gwayan und sah zu Wyreg, der nun innehielt.
"Was noch?", fragte er.
"Der Jäger aus der Kälte ist der Feind dessen, der aus Feuer geboren wurde. Der Scharlachrote Tod ist der Salamander. Sein Banner hatte auf hohen Felsen geweht. Sein Zeichen. Er ist der, der aus Feuer geboren wurde. Beide sind Brüder, und der eine kann nicht ohne den anderen sterben, wie nur einer leben kann von beiden."
"Brüder?", fragte Wyreg.
"Das ist es, was ich nicht verstehe. Wenn der Jäger aus der Kälte der ist, der einst Varathessa vergiften wollte, wie kann der Salamander sein Bruder sein? Wir kennen die Namen aller Giganten, nur den des Jägers nicht. Es ergibt für mich keinen Sinn. Ich wünschte, ich könnte mir diese alten Schriften ansehen, von denen du geredet hast."
"Es gibt vielleicht eine Möglichkeit. Nicht, an die Schriften zu gelangen, aber an das Wissen. Es wird dir vermutlich nicht sehr gefallen, und der Weg ist beschwerlich."
"Führt er nach Norden? Ich gedenke nicht, umzukehren. Ich verlasse mich auf deine Krieger, dass sie Mutter Kelar finden - denn ich gehe nicht nach Süden. Die Krähen des alten Mannes müssen gerettet werden, bevor der Winterkönig sie im Namen seines Herrn ausbeutet, versklavt und quält. Sie kennen uralte Geheimnisse. Dinge, die er nicht erfahren darf. Ich bete, dass dein König zu uns stoßen wird. Denn der Winterkönig muss fallen", sagte Gwayan.
"Der Weg führt nach Norden. Es gibt westlich des Bärenflusses einen alten Tempel. Ich weiß nicht, welchem alten Gott dort gehuldigt wurde, aber der Einsiedler dort hat Feuer und Eis gleichermaßen gesehen."
"Das sagst du mir jetzt?", fragte Gwayan verwundert.
"Niemand will gern dorthin gehen..."
"Warum?"
"Dort lagerte Jorgan als der Schwarze Stern ihm den Verrat gegen Varathessa vorgeschlagen hat. Der Ort ist unheilig und finster."
"Ich muss mit diesem Einsiedler sprechen. Ich werde allein gehen, wenn es sein muss."
"Bis zum Fluss werden wir euch begleiten. Aber dann werdet ihr allein gehen. Uns ist es verboten", sagte Wyreg. Die Krieger waren bereit.
Gwayan hatte zugestimmt, aber die Alte Krähe sollte bei Wyreg bleiben. Das Elementar folgte Gwayan, als sie nach vielen Stunden die eiserne Brücke betraten, die über den gefrorenen Fluss führte. Wyreg und die anderen Krieger des rechtmäßigen Königs würden weiter gen Norden ziehen und am Feld der Nornen warten - so nannten die Nordleute, die im Schelf wohnten, das von Geistern der Gefallenen berührte Schlachtfeld der altvorderen Tage, als Riesen gegen die ersten Menschen gekämpft hatten.
Auf der anderen Seite erhob sich eine Ruine aus Basalt. "Ein ungewöhnliches Gestein, so weit im Norden", murmelte Gwayan, als er die spitzen Säulen betrachtete. Feuer war auf einer Säule gemalt worden, eine Flamme. Auf der anderen war das elementare Zeichen für Eis zu erkennen. "Ein Tempel für Eis und Feuer", sagte er dann. "Dasch Geschtein musch vom Schüden hierhergebracht worden schein", brummte das Elementar.
Auch wenn Dunkelheit herrschte, so war der Tempel von einem unheilvollen Zwielicht beleuchtet, dessen Quelle Gwayan nicht ausmachen konnte. Wölfe heulten, als sie sich näherten. Plötzlich stieg eine Flamme aus der Feuersäule, und eine Eule landete auf ihrer Spitze. Sie hatte schwarze Augen, und ihr Gefieder glühte rot. Als eisige Dämpfe von der zweiten Säule aufstiegen sah Gwayan dort oben eine Eule, deren Augen blau schimmerten, und ihre Flügel waren kalt wie Eis. Ein Tor öffnete sich von allein, es war zwischen den Säulen, die eine Wand trugen. Erst jetzt sah er einen Baum in der Mitte des Tores. Er wurde durch das Öffnen geteilt, denn sein Geäst war auf beide Flügel eingezeichnet worden. Langsam trat er ein. Das Elementar lief neben ihm, eine Hand zur Faust geballt. Dann erstarrte es - wie in der Höhle, als das Eis gekommen war, bevor Wyreg die kleine Schar entdeckt hatte. Schnell nahm Gwayan die Keule zur Hand und schaute in das Innere. Auf einer Seite leuchteten rote Fackeln, auf der anderen Seite des Ganges verströmten sie aber blaues Licht. Oben an der Decke war grünes Licht zu sehen. "Ich habe Fragen. Stell mich nicht auf die Probe, Einsiedler. Ich, Gwayan Einohr, bin nicht so weit gewandert, um jetzt zu fallen oder von dir ohne Antworten weggeschickt zu werden. Deine Zaubertricks schrecken mich nicht!", rief er in die Halle, wo der Gang endete. Er sah noch einmal zurück zum reglosen Elementar, dann wieder nach vorn. Ein regelmäßiges Klopfen kam aus der Halle, und ihm folgte schlurfend ein alter Mann, dessen klappriges Gebein von einem Stock getragen wurde, der bei jedem lahmen Schritt auf den Basaltboden schlug.
"Gwayan Einohr, ich heiße dich willkommen. Mein Name ist Argan von Giltheas. Wir haben dich erwartet", sagte der alte Mann.
"Wir?"
"Meine Kinder und ich", antwortete er. Die Fackeln wurden zu Elementarwesen aus Eis, Feuer und Erde. Sie umstellten ihn. Garsils Elementar kam dazu und stellte sich neben Gwayan. Seine Augen leuchteten grün.
Der Feuersohn, den man den Salamander nennt und den Scharlachroten Tod
Sicarion dachte nicht viel über die Vergangenheit nach - diese war für ihn so dermaßen unwichtig geworden, dass ihm das mangelnde Vertrauen Bjarturs und der anderen fast seltsam vorgekommen war, nachdem er ihnen im Gewölbe im Wilderland beigestanden hatte, als sie das Nebelgefäß eroberten. Für ihn war es wichtig, dass dem Winterkönig und dem Jäger aus der Kälte alles geraubt werden würde, was ihnen gehörte. Denn der Jäger aus der Kälte hatte etwas, das Sicarion haben wollte. Der vergiftete Pfeil musste in die Hände des Feuers geraten. Erst dann würden sie das Eis zerschmettern und den Jäger verbrennen können. Das Eis vom Jorganschelf würde wieder zum Meer werden, und der Ozean würde kochen und als Dampf in einen feuerschwangeren Himmel fahren, nur um von dort als Flammenregen zurückzukehren. Aber die Flammen würden das Land nicht verbrennen und auch seine Bewohner verschonen. Denn es war ein inneres Feuer, eine Reinigung und ein Erkennen der Elementaren Gewalten, der einzig wahren Wahrheit: Das Feuer war das Leben, und das Eis war der Tod. Dann würde niemand mehr sterben, dann gäbe es keine Pest, keinen Hunger, keinen Tod, keine Plage. Dann wäre jeder frei.
Wie ein Kind, das Angst hatte, ein Geheimnis zu verraten, hielt Sicarion die Hände an den Mund, als würde die Welt seine Gedanken hören. Die Gedanken, die er hinter einer Wand aus Flammen verbergen konnte, so wie seine Obsidianaugen keine Lüge verrieten. Liurroccar hatte für die Hüter versucht, in seine Gedanken zu sehen. Nun, er hatte ohnehin nicht gelogen. Aber das große Ziel, die Kraft des Lebens, die Flammen der Vorsehung in die Herzen aller zu brennen, musste bewahrt bleiben. Das war Mutters Befehl, und Mutter hörte und sah alles, was Sicarion tat, denn er war ihr Feuersohn. Der Schädel betrachtete ihn und lauschte. Mutter konnte ihn dadurch sehen.
Er hielt seine Hand in den Brunnen, den er in den Ostlanden gefunden hatte und wartete, bis das Gesicht erschien. "Ich grüße dich, Meister."
"Zeige mir die Hüter Blyrtindurs."
In den Wellen sah er das Innere der Sphäreninsel Blyrtindurs. Ein Wyrm hauchte seinen Odem gegen die Sphäre, aber... Dann verschwand das Bild. "Was ist das nun?", fragte Sicarion.
"Er will dir etwas zeigen, das wichtiger ist, mein Sohn", sagte Mutter. Sicarion schaute wieder in das Wasser. Es stand dem Feuer gegenüber, darum war es so ein guter Sklave.
Dort sah er einen Tempel von Eis und Feuer. "Das ist im Schelf... wer ist das?", fragte er und zeigte auf einen großen Mann, der den Tempel betrat.
"Sein Name ist Gwayan, und er ist sehr gefährlich. Er weiß, dass ich dich geboren habe. Wenn er diesen Tempel lebend verlässt, werden alle das wahre Ziel erkennen", sagte Mutter.
"Ich kann nicht in das Schelf gehen. Und du kannst deine sichere Höhle nicht verlassen. Was werden wir nun tun?"
"Es gibt nur einen Weg. Akasha wird ihn dir zeigen..."
Und der Brunnen zeigte ihm einen Palast aus Eis und dahinter eine Schwärze, die dunkler war als Obsidian. Sicarion spürte Ihn. "Er?"
"Ja... Nur einmal. Er kann nicht wollen, dass Gwayan erkennt, nicht wahr?"
"Es ist der Feind..."
"Er ist ein Ausweg", mahnte sie. Der Schädel glühte.
Sicarion nahm seinen Mut zusammen und betrat die Schwärze aller Schwärzen. Er fühlte, wie das Eis ihn auszehrte, wie es brannte, schlimmer als alles, das er kannte. Schlimmer als das Feuer, das er Theornon zu verdanken hatte. "Bruder?", fragte er dann in die Nacht aus Eis.
Schon sah er die vertrauten Augen aus einem Leben, das er nie gelebt hatte. In seinen Klauen aus Eis hielt der Jäger die Seelen seiner Brüder und Schwestern. Nur Jorgan, den sah Sicarion nicht.
"Gwayan ist in einen Tempel gegangen. Wen wird er dort sehen? Wenn er den Tempel verlässt, dann wird jeder die Wahrheit kennen, Bruder. Eine Wahrheit, die auch dich verraten kann", sagte Sicarion leise.
Aber anstatt zu antworten, verwandelte sich der Jäger aus der Kälte in ein hässliches Wesen mit Schwingen aus Eis, in eine Krähe. "Du stehst auf Khelains Seite?"
Doch sein Bruder schüttelte den Kopf, der sich nicht verändert hatte. Er zeigte auf den Tempel und breitete seine Schwingen aus. "Du willst ihn holen?"
Eine Stimme, wie sie schwärzer und kälter nicht sein konnte, antwortete: "Und dann... dann komme ich dich holen. Dann werden wir eins sein in der Nacht, die ich über die Welt trage, wenn Khelain und alle anderen sind wie die, die ich in meinen Händen trage."
"Wenn sie ...was... sind?"
Die Stimme antwortete: "Mein."
Alea iacta est.
Die Würfel sind gefallen!
Die Würfel sind gefallen!
Re: Ein scharlachroter Tod
7
Esthelion schaut in den Osten und sieht eine Frühlingsblume
Nach der Begegnung mit dem Weib, das ihn geboren hatte, war er milde betrachtet enttäuscht. Da war keine Liebe, kein Bedauern, nur Kälte. Auch wenn Khelain vorgab, sich nach ihrem Sohn zu sehnen, so konnte er sehr wohl spüren, dass sie mit gespaltener und toter Zunge sprach. Nicht nur war sie untot, auch all ihre Gedanken waren von der Gier getrieben, die Krähe satt zu machen. Um die Sicherheit Brandas und Skjöldburs zu gewährleisten, hatte Esthelion sich angeboten. Aber sie lehnten ab. Also tat er alles, um zu helfen und spürte den Vortex auf, den sie geschaffen hatte, um den unter Skjöldbur ebenso zu beherrschen, aus der Ferne. Derkos hatte ihm gesagt, dass der Vortex, der Skjöldburs Quelle schützte, von Khelain zum Zeitpunkt seiner Geburt geschaffen worden war. "Hier bin ich also geboren", sagte er leis, nachdem er den Vortex gefunden hatte und die anderen fort waren. Cleophos saß gemeinsam mit Allyen, Aurelion und Jan an einem Feuer und Esthelion war, was er in gewisser Weise am liebsten war: allein. Bevor auch er nach unten gehen würde, um die Sache zu untersuchen und den Ort seiner Geburt zu sehen, wagte er einen weiteren Blick in das Ecaloscop. Ihn interessierte die Umgebung und ob Dakhil wohlauf war. Er konnte die Panther ausmachen und wie sie sich trennten. Eine weitere Spur?
Dann warf er seine Blicke auf das Meer hinaus. Er sah Blyrtindur, wie es hinter dem Zeitfluch verborgen war. Östlich davon war eine andere Insel. Er sah Menschen. Sie waren in großer Bedrängnis, aber es war niocht möglich, sie zu holen - zu weit entfernt. Eine sehr schöne Frau, auch für menschliche Maßstäbe, floh vor einer Eisspinne, und ihr Gefährte, ein Krieger, stellte sich dem Schrecken entgegen. Das Ecaloscop schlug seltsam aus, und dann sah Esthelion mehrere Gesichter: Erst sah er einen Jungen, der in seiner Hand ein Messer hielt. Dann sah er einen Hun, der mit geschwungenem Säbel über Wellen sprang. Ihm folgte die schöne Frau, die in ihrem Haar eine Blume trug, und dann glaubte Esthelion, Uruku zu sehen. Die anderen Gesichter waren älter. War das nicht Argan? Und der andere war Hieronymusz Klammberg. Schließlich war da das Gesicht des alten Nordmannes aus der Vestfold. Das letzte Gesicht war ein uralter Mann, vermutlich ein Bretone. Die acht Personen waren umgeben von einer goldenen Scheibe. Und dann brachen die Bilder ab. Esthelion hatte alles aufgezeichnet, bevor er nach unten in das Gewölbe ging, wo Theralia und die anderen schon warteten.
Belfos berichtet über die Dinge, die da kommen
Der Bursche nahm noch etwas vom Honigbrot und einen Krug Milch, den die Lady ihm vorhin in die Hand gedrückt hatte. Er sah nochmal zu dem Kerl, der ihn auf dem Markt verfolgt und geschnappt hatte. Jan kicherte, als Belfos ein paar Brotkrumen nahm und sie der Maus Hildegard hinwarf. Hildegard kletterte über den Rand von Jans Hut, seine Schultern, Brust und Hüften entlang, dann machte sie einen beherzten Sprung und knabberte an der süßen Speise. "Und du bist also...auch eine...Maus?", fragte Belfos. Jan nickte und kicherte weiter: "Ja, warum denn nicht, mh?" "Ach, nur so...", meinte Belfos dann und aß weiter.
Dass irgendjemand ihn erwischen würde, war wohl abzusehen gewesen. Er war eben nur ein Junge. Das Verschwinden seines Meisters war eine merkwürdige Sache, was auch der Grund dafür gewesen war, dass Belfos sich lieber ein Weilchen verstecken wollte, erst recht nach dem Brief, den Jorgan ihm hinterlassen hatte. Davon wollte er eigentlich keinem erzählen, bis er nicht selbst etwas herausgefunden hätte. Aber die Lady und ihr Ehemann, Herr Waldyr, hatten ihm unmissverständlich klargemacht, dass Dinge auf dem Spiel standen, die die Sicherheit des Reiches betrafen. Wenn das Reich in Gefahr wäre, dann war auch die Königin in Gefahr und damit ebenfalls Kanzler Baelon von Glan - und Alysare. Ihr Gesicht hatte Belfos nicht vergessen - wie könnte er?
Die Lady nahm sich einen Krug, füllte ihn mit Wein und sah Belfos an. "Also, Belfos, nochmal von vorn."
"Ich soll alles nochmal erzählen?", fragte er stirnrunzelnd.
"Fangen wir mit deinem Meister an... Jorgan Fausten. Du hast noch nie vom Giganten Jorgan gehört, dem Schelf und was dort passiert ist? Hat er nie etwas dazu gesagt?", erwiderte die Lady.
"Ich habe heute das erste Mal davon gehört."
"Sicher?", fragte Jan.
"Ja, ich bin mir sicher."
"Gut", sagte die Lady, "was ist passiert?"
Belfos erinnerte sich an den letzten Abend. "Ich habe den Auftrag beendet, meinem Meister gezeigt und es eingepackt. Dann hat er mir befohlen, die Arbeit dem Auftraggeber zu bringen. Als ich zurückkehrte, da war mein Meister fort. Und ich habe diesen Brief gefunden."
"Weshalb du dich versteckt hast", meinte Jan.
"Ja, genau."
"Nicht so schnell. Was für ein Auftrag war das?", fragte die Lady.
"Das habe ich doch schon gesagt."
"Dann erzähl es nochmal... es kann wichtig sein."
"Es war ein kleines Spielzeug. Ein Holzpferdchen. Es war.. ist für die kleine Lady. Für Alysare. Sie hat sich sehr gefreut. Und ich war... ich war sehr stolz. Kanzler Baelon hat mich bezahlt, und ich ging auf direktem Weg zurück in die Werkstatt. Dann war er fort. Ich habe alles abgesucht, dann habe ich den Brief gefunden."
Jan nahm Hildegard wieder auf, als sie fertig war und sich mit ihren kleinen Händchen abputzte. "Was stand in dem Brief?", fragte er.
"Ich sollte seine Nachfolge übernehmen. Erst dachte ich nur an sein Handwerk. Aber der Brief war schon seltsam. Er hat von vier Sendboten geschrieben, die sein Werk vollenden würden. Er meinte mich und drei andere", erklärte Belfos und trank einen großen Schluck Milch.
"Diese anderen drei, die kennst du nicht, oder?", fragte die Lady.
"Nein. Nur ihre Namen: Yassir, Akina und Uruku-Xtlan. Den Brief habe ich vernichtet, aber die Namen konnte ich mir merken."
"Yassir ist ein Name aus Samariq. Uruku-Xtlan müsste also einer vom Stamm der Uruku aus Marjastika sein. Wenn ich mich nicht irre, dann ist Akina ein weiblicher Name aus Yarun", sagte Jan und sah dabei zur Lady. "Mehr stand darin nicht über diese Sendboten?", fragte sie.
"Nein. Wir würden sein Werk vollenden. Was bedeutet das? Hat das etwas mit diesen Giganten zu tun?", fragte Belfos unsicher. Er fühlte sich sehr überfordert.
Die Lady sah ihn nachdenklich an. "Das wissen wir noch nicht. Aber wir müssen herausfinden, wer diese Leute sind und ob sie auf dem Weg hierher sind. Jan?"
Der Mäuserich nickte der Lady zu. "Ich werde mich umhören." Dann sah er zu Belfos. "Keine Sorge, kleiner Mann. Hier bist du sicher", sagte er und verließ den Raum.
"Es stand noch etwas in dem Brief..."
"Dir ist noch etwas eingefallen?"
"Nein, ich habe es nur noch nicht gesagt. Ich wollte sicher sein...", sagte er.
"Sicher, dass wir dir nichts Böses wollen?"
"Ja. Mein Meister war immer gut zu mir. Wenn sein Erbe mehr ist als das, was man sehen kann, dann darf das nicht jeder wissen, oder?", fragte er vorsichtig.
"Das stimmt. Und es ist gut, dass du vorsichtig bist, Belfos. Aber du musst uns vertrauen. Wir wollen das Reich beschützen - dazu brauchen wir deine Hilfe."
Er nickte. "Er hat mit Pytharas unterschrieben."
"Tatsächlich, hat er das?"
"Ja, und ich weiß sehr genau, wer das ist. Ich glaube also, dass mein Meister der alte Gelehrte aus Tectaria ist. Keine Ahnung, wie das möglich ist, aber es ist die einzige Erklärung. Vielleicht war er deshalb so traurig. Er hat manchmal von seiner Tochter gesprochen. Ich glaube, das Holzpferd hat ihn an sie erinnert. Vielleicht hat er mir deshalb das Vertrauen geschenkt und mich in die Kanzlei geschickt. Nicht nur, weil er wusste, dass ich ihn nicht einfach weggehen lassen würde."
Sie nickte zustimmend. "Könntest du dir vorstellen, was sein 'Werk' sein könnte?"
Er überlegte. "Nein, nicht richtig. Aber wenn er in Wirklichkeit Pytharas ist... dann muss es etwas mit dessen Werk zu tun haben. Pytharas war ein Gelehrter. Er war Rechenkünstler, Baumeister und.. Anatom. Aber ich habe nie gesehen, dass mein Meister sich damit beschäftigt hat."
"Er hatte Bücher von Pytharas in der Werkstatt. Die habe ich gesehen", sagte die Lady.
"Ja. Aber ich habe mir nie etwas dabei gedacht - bis jetzt."
"Und wenn er sein Wissen versteckt hat?"
"Wie meint Ihr das, Mylady?"
Sie lächelte. "Überleg mal... er hat dich am letzten Abend das erste Mal allein zu einem Auftraggeber geschickt. Und nicht zu irgendeinem. Es war der Kanzler persönlich."
Belfos überlegte wieder. Auf einmal stellte er den Krug ab und beinah fiel ihm das Brot aus der anderen Hand. "Das Holzpferd!"
Allyen lauscht der Geschichte der Wölfe, die für den Feind stehen
Dakhil war schon lange unterwegs, und Cleophos hatte sich offenbart. Hrafna und die anderen waren auf dem Weg, die Hexe Khelain davon abzuhalten, weiteres Unheil über das ohnehin geschundene Skjöldbur zu bringen. "Was die Bewohner dieses Ortes bereits durchmachten - und wir jammern über jeden untreuen Lord", murmelte Allyen, als er mit Aurelion, Cleophos und dem Wal am Feuer saß. Die Wachen waren bereit, und Allyen hatte sein Schwert neben sich liegen, stets bereit, den Ort zu verteidigen. Die Flamme, die König Alikir dem Hetman und seinen Leuten übergeben hatte, leuchtete hell. Bald wäre auch hier der Winter vorüber, denn schon manch warmen Mittag hatten sie in den letzten Tagen erlebt. Frenya und Rodria kümmerten sich zusammen mit Elea und Erika um die Kinder des Ortes, Sigandi drehte seine Runden. Es war eine Idylle, und Allyen hatte seinem Sohn bereits geschrieben, dass er sich hier seinen Lebensabend vorstellen könnte. Aber da war immer noch eine Kälte, da war die Ungewissheit. Nicht nur die Malstromwesen, das Eis und das Feuer. Es war die Ungewissheit, wie die Dinge ihren Lauf nehmen würden und ob er jemals seinen Sohn wiedersehen würde.
"Wenn das eine Anspielung sein sollte...", sagte Cleophos.
"Ach, sei nicht so empfindlich, Mann!", grollte der Wal.
Allyen schüttelte den Kopf. "Ich habe dich gar nicht gemeint. Um ehrlich zu sein, allmählich glaube ich, dass du eher Opfer der Umstände bist. Ich werde mich für dich einsetzen, genau wie Derkos."
"Danke..."
Aurelion sah in das Feuer. "Wie wird es enden..?", fragte er leise.
"Du bist doch der Prophet, sag es uns", meinte Jan, der Wal.
"So funktionieren diese Dinge nicht, mein Freund", antwortete Aurelion und lächelte. "Aber ich bin froh, dass ich hier bin. Ich vermisse Theresia unendlich, aber ich musste herkommen. Wir alle sind Teil dieser Geschichte."
"Wie soll es schon enden? Die Krieger des Winterkönigs und das Eis lauern unten in der Quelle. Die Malstromwesen streifen durch das Land. Und das Feuer... der Salamander... er spricht zu mir", sagte Cleophos.
"Was wir brauchen, ist ein bisschen Optimismus", brummte der Wal und trank einen Schluck Met.
"Ich kenne eine Geschichte, aus der man durchaus Hoffnung schöpfen kann", sagte Aurelion.
Der Wal trank erneut einen Schluck. "Erzähl sie uns."
Aurelion legte etwas Holz nach und fing an. "Die Wölfe bedrohen uns. Die Art und Weise, wie sie dies tun ist aber sehr umfassend. Niemand ist in der Lage, ihr Handeln vollständig zu begreifen.
Manchmal heulen sie, als wären sie in eine Falle gelaufen und verwundet worden. Das Geheul ist in Wahrheit ein Lockruf. Ihm einmal gefolgt, es ist das Ende. Wie Sirenen einen Seefahrer in die Irre leiten, sind es auch die jaulenden Rufe der Wölfe, die ein Kind, das Mitleid fühlt, über den Pfad in das Dickicht tragen, nach einigen Schritten an Kleidung und Hals zerren, bis es sich an die Wucht und Gier der Schleicher gewöhnt – dann folgt es ihnen zweifellos und wird nicht mehr gesehen werden. Der Ruf der Wölfe ist schamlos und lieblich, wenn wir ihn hören. Weil wir die Geschichten der Ältesten kennen, wie die Kinder und Frauen in den Wald gelockt wurden, stopfen wir uns am Abend Wachs in die Ohren, dass kein Schaden entstehen kann, der uns am Ende in Beute verwandelt. Unsere Nahrung finden wir im Fluss. Zu unserem Glück errichteten die Gründerväter der Gemeinde den Grenzzaun zum Wald jenseits des Ufers. Die Fische sind zahlreich. In den alten Legenden heißt es, der Vorrat sei unermesslich und reiche über das Ende der Gemeinde hinaus, weit über die Welt und alle Zeiten, dass sie uns überleben würden. Dankbar verspeisen wir mit einem Gebet jede Mahlzeit. Es kommt vor, dass die Fische, noch am Haken baumelnd, uns vom Geschehen weit weg von der Gemeinschaft berichten. Wenn sie auf den Tellern liegen, begleiten sie unsere Gebete mit fremden Gesängen, die sie irgendwo in den Ozeanen hörten. Fragen wir nach den Wölfen, zittern sie, verstummen, ziehen sich zusammen und beginnen schon, sich selbst zu verspeisen, bevor wir ihre Angst und ihr Leiden beenden. Wenn die Tiere sich fürchten, sobald wir die Wölfe erwähnen, ist es wohl ein Zeichen der großen Gefahr, die sie für alle sind. In der Nacht schleichen die Wölfe durch den Zaun, auf die Straße, zwischen die Häuser. Da wir sie nicht hören, können wir nur ahnen, was dann geschieht. Das Rütteln der Türen sehen wir, wenn das Holz zu zerbersten droht, die Scharniere zittern und Schatten hinter den Schwellen oder unter den Fenstern warten. Wie weinen unsere Kinder, wenn die Bretter und Dielen sich heben und senken, als würde ein Riese unter dem Haus kräftig schnarchen und im nächsten Augenblick aufstehen, das ganze Haus in die Höhe heben und in die Ferne schleudern!
Aber das geschieht nicht. Die Wölfe kriechen in der Morgendämmerung zur Tür, und wir wissen, dass sie am liebsten ihre Klauen in das Holz schlagen und die Schlüssel greifen würden. Auch dies geschah noch nie.
Mit dem Sonnenaufgang sind alle verschwunden. Er kommt immer zur rechten Zeit. Kaum dass die Wölfe, die in jeder Nacht das Eindringen in unsere Stuben studieren und planen, einen Weg entdecken, vertreibt das Licht sie zurück in das Dickicht. Die Ältesten sagen, dass es unsere Gebete seien, die uns retten und die Gemeinde beschützen. Sie geben uns Weisung, wofür wir beten müssen, welche Opfergaben notwendig sind, um den Schaden abzuwenden. Ihre Weisheit ist die einzige Waffe gegen die Wölfe. Das Handeln der Wölfe ist unbegreiflich. Da sie in jeder Nacht ihre Versuche von vorn beginnen, müssen sie am Morgen ihre Fortschritte vergessen haben. Eine andere Möglichkeit wäre, dass sie jeden Abend ein neues Rudel in die Gemeinde befehlen, einen Weg in die Zimmer zu finden. In unseren Gebeten fragen wir nach den Gründen für das Verhalten der Wölfe. Wir fragen die Füchse, die Hirsche und Rehe, selbst die Karnickel geben keine Auskunft. Allen Tieren ist die Ungewissheit gemein, warum die Wölfe die Ergebnisse ihrer Nachforschungen nicht ihren Untergebenen berichten, damit sie in der nächsten Nacht den Schrecken fortsetzen können. Würde ein großer Feldherr in den Rudeln geboren, es wäre das Ende für die Gemeinde. Wie könnte ein General die Lücken unserer Verteidigung nicht nutzen, seine hungrige Horde selbst durch den kleinsten Winkel oder durch den Kamin bis an das Herdfeuer zu treiben!
Die Ältesten haben darauf keine Antwort, nehmen die Opfergaben und sprechen einen Segen. Wird es dunkel, verstecken sie sich unter den Schemeln oder fesseln sich an die Dachbalken der Häuser, um nicht dem Lockruf zu folgen. Manche sind weise genug, dass sie ohne Seil ihren Leib fesseln können.
Die Wölfe müssten nur durch das Holz schlagen, schon wären die Schlüssel in ihrem Besitz. Dass sie es nicht tun, lässt die Ältesten noch enger um die Balken biegen – so närrisch wie sie heute sind, legen sie bald die Schlüssel unter die Fußabtreter, den Wölfen die nächtliche Mühe zu ersparen."
So schloss er die Geschichte. "Ich habe sie hier in Midgard gehört, vom Alten aus der Vestfold."
"Na, ermutigend ist sie aber nicht", meinte der Wal und Cleophos stimmte zu. "Nicht allzu sehr."
"Wo liegt die Hoffnung darin?", fragte Allyen.
Aurelion musste lächeln. "Dass wir nicht so sind wie die Bewohner dieses Dorfes. Seht euch um. Wir fügen uns nicht."
Allyen betrachtete Rodria, die mit einem Holzschwert ein paar Kampfübungen machte. Erika hielt den jungen Radulf im Arm, und Gruschka saß vor der Schmiede und hielt mit einem Lächeln ihren Bauch, denn sie erwartete ein Kind. "Ja...ja, das ist wahr", antwortete Allyen dann.
Phaeron erinnert sich an ein Buch, in dem eine lose Seite versteckt ist
Er hatte seinen Bericht über das, was er gespürt hatte, sofort einem Reiter übergeben. "Das an den Lethos, und diese Abschrift geht an Kanzler Baelon."
"Nichts gegen Eure Intuition, Phaeron, aber daraus lässt sich vieles deuten", sagte Lord Dagharn.
"Natürlich. Die Wege der Götter sind stets sonderbar und geheimnisvoll. Aber nach den Dingen, die am Eisenwall und bei Wilderberg geschehen sind, besteht wohl keinerlei Zweifel, dass Caldorvan nun ein Feind des Reiches ist, der aufgehalten werden muss. Er führt die Malstromwesen. Und der Pakt ist gebrochen worden durch Verrat."
Brutus von Dagharn nickte. "Es ist gerade noch glimpflich ausgegangen, am Eisenwall. Doch Wilderberg - und das steht nun fest - ist von Brylod angegriffen worden. Und Lord Garrilton steht auf seiner Seite. Nach Roglund und Harilos, Aestrinor und Maegranth, haben wir also noch weitere Wilderlandlords verloren. Sie alle sind vogelfrei, auch wenn bei einigen Dokumenten noch das Siegel der Königin fehlt."
"Ich habe Lord Falkenfels in Kenntnis gesetzt und gewarnt. Sollte auch er einem Feind dienen, werden wir kommen. Aber ich glaube, ihm können wir trauen", antwortete Phaeron.
"Eine von Falkenfels ist immer noch in Gewahrsam. Er könnte ihre Herausgabe einfordern...", gab Brutus zu bedenken.
"Dieser Tage sollten wir alle von Forderungen absehen. Das Reich ist in sehr großer Gefahr, unabhängig davon, ob Tysandra nun tot ist oder nicht. Brylods und Garriltons Verbündete sind immer noch da. Sie haben Wilderberg eingenommen - wer immer sie sind."
Ein Diener klopfte an die Tür, öffnete sie einen Spalt. "Lord Brioless ist soeben eingetroffen."
Martus von Brioless bekam einen Krug Wein und nahm Platz. "Lord Yren, Lord Dagharn. Die Götter mit Euch."
"Und mit Euch", sagte Phaeron. Brutus nickte ihm zu.
"Wie sieht es aus?", fragte Brioless.
"Meine Späher haben beobachtet, dass Brylod eine Ausgrabung veranlasst hat. In einer Ruine auf seinem eigenen Land. Nun, dem Land, das ihm noch gehört."
Auch für Phaeron waren das neue Informationen. "Was für eine Ausgrabung? Hat er etwas gefunden?"
Brutus leerte seinen Weinkrug. "Jetzt wird es interessant: Einer der Kundschafter hat gesehen, dass es zu einem Kampf kam. Jemand hat Brylods Männer dort angegriffen. Auch Garrilton hatte Leute dort, und Söldner Crenns trieben sich ebenfalls da rum. Die Angreifer kamen von Süden her, und sie sind mit dem Halbriesen bekannt - ich gehe davon aus, dass das Beutestück bei ihm ist. Für mich bedeutet das: Eine Sorge weniger."
Brioless nickte. "Wenn sie mit Malcoyn bekannt sind, ahne ich, um wen es geht. Ich werde den Kanzler darüber informieren."
"Eine Ruine...?", fragte Phaeron.
"Ja. Mit einer Statue, die einen Diskus oder so etwas in der Hand hält. Sagt Euch das etwas?", fragte Brutus beide.
Brioless schüttelte nun den Kopf, und Phaeron überlegte. "Nein."
"Lord Baelon und die Königin danken Euch für Eure Mühen. Bis eine Entscheidung getroffen ist, werden Brylod und Garrilton ausschließlich beobachtet. Sollte es aber zu auffälligen Truppenbewegungen kommen, besonders gen Süden, setzt uns in Kenntnis und greift sofort ein. Doch sollten sie sich still verhalten, tut nicht mehr, als Kundschafter auszuschicken. Wir müssen uns ihrer Verbündeten und Pläne sicher sein. Falls sich etwas über diese Ausgrabung ergibt, informiert mich. Ich werde den Kanzler unterrichten und den Lethos befragen", sagte Martus. Und wie immer hörter Phaeron Verachtung in seiner Stimme.
"Ich weiß, dass Ihr den Lethos für einen Mann mit zwei Gesichtern haltet. Aber ich habe ein Auge darauf, Lord Brioless", sagte Phaeron.
"Natürlich. Wie alle", antwortete Martus, leerte seinen Krug und machte sich auf den Weg. Brutus folgte ihm. "Ich informiere meine Männer. Auf bald."
"Auf bald, Mylords."
Als er allein in der Stube war, ging Phaeron an ein Regal und suchte ein bestimmtes Buch. Natürlich wusste er sofort, worum es bei der Ausgrabung gegangen sein musste - spätestens als Dagharn den Diskus erwähnt hatte. Und auch der Lethos würde es sofort wissen. Wenn Caldorvan die Malstromwesen führte und wenn er vielleicht mit Brylod und Garrilton gemeinsame Sache machte, also bereits der Angriff auf Wilderberg eine Farce gewesen wäre, dann würde auch der Untote wissen, was dort ausgegraben worden war. Phaeron hatte die Ruine schon seit Jahren im Auge gehabt. Aber Brylods Gier war unermesslich, also konnte Phaeron ihm nicht sagen, was dort verborgen sein könnte. Er blätterte durch die alten vergilbten Seiten, bis er es fand. Es war eine Zeichnung, wie er sie einst in der Abtei gesehen hatte, als er die Kammern Aldwyns gereinigt hatte. Das war zu Beginn des Bürgerkrieges gewesen, bevor er zu Caldorvans Gefangenem geworden war. Nach der Schlacht am Luminus hatte Sir Cleophos ihn und die anderen überlebenden Geistlichen befreit und zurück in die Abtei geleitet. Dort war Phaeron auch den beiden Brüdern begegnet, deren Schicksale bis heute die Geschichte des Landes bestimmten: Erec und Hrabanus. Aus Hrabanus war der 'Weinende Gott' geworden und Erec war nunmehr Hüter Alt-Blyrtindurs. Es war Hrabanus gewesen, der die Zeichen auf der Abbildung selbst zur Überraschung des Abtes hatte entziffern können. Auch Erec war sehr erstaunt gewesen. "Wie hast du das geschafft, Bruder?" Der Abt hatte gelächelt. "Eine besondere und sehr seltene Gabe." Nur Hrabanus hatte keine richtige Antwort gehabt. "Ich habe... es einfach gesehen."
Und nun sah Phaeron sie wieder, die Abbildung. Er hatte es abgezeichnet und in diesem Buch versteckt. "Was willst du uns sagen..., Sigillum Dei? Sind die vier Weisen und ihre Nachfolger gekommen...?
Dakhil und der Stein, bevor er eine Fährte entdeckt
"Aus dem Feuer wird ein Diener kommen, der aus Asche und Staub, aus den Opfern der Namenlosen Geister die Versuchung formt. Und aus dem Eis wird ein Jäger kommen, und sein Pfeil ist der Bote des Geheimnisses." Immer wieder dachte Dakhil an Garraz-Bahals Worte, die sie damals in der Wüste gesprochen hatte. Damals - als Dakhil auf den Pfad der Erleuchtung geschickt worden war. Und wie lange hatte er geglaubt, dass die Vernichtung der Finsternis seine Aufgabe wäre! "Es kommt eine Dunkelheit, so kalt wie die Nacht, ihre Augen leer wie die Leere zwischen den Sternen. Und du bist der Fürst aller Fürsten, und die Erschaffung ist auf deiner Seite." Das waren ihre genauen Worte gewesen. Auch über Zada hatte sie eine Weissagung. "Sie wird siegen. Wenn du das Land verlassen musst, vertraue sie dem an, der wie ein Fisch über Wellen fliegt." Dakhil hatte diesen Mann gefunden, auch wenn er damals nicht daran geglaubt hatte. Nicht alles, was die Hexe des Feuers sagte, entsprach der Wahrheit - und eine Weissagung war immer das Ergebnis aus Vergangenheit und Gegenwart; dazu - je nach Verlässlichkeit des Weissagenden - etwas Vorstellungskraft. Dass er aber so naiv gewesen war, die Worte der Hexe, die die Malstromwesen gemeint hatten, ausschließlich auf die Finsternis zu münzen, ließ ihn heute über sich selbst lachen.
"Khagan, wir haben eine Fährte gefunden. Dort drüben", sagte einer der Panther. Dakhil folgte ihm, roch an der Erde und dem Schnee. "Sie waren hier. Weiter!" Dann eilten die Panther durch das Dickicht. Mehr als zwanzig Krieger. Reitspinnen. Aber in der Witterung, die sie von den Spinnen aufnehmen konnten, lag auch eine menschliche. "Sie haben den Jungen bei sich, und er lebt."
Wieder dachte er an seine Tochter. Zada war ein schlaues Kind, und er dankte Amur dafür, dass der Mann in Schwarz sie nicht hatte überlisten können. Aber bedeutete die Tatsache, dass er schon lang keine Nachricht mehr von ihr durch ein Ecaloscop bekommen hatte, dass sie immer noch frei war? Wieder hallten Garraz-Bahals Worte nach. Als Dakhil in die Wüste gegangen war, war er dem Ruf gefolgt, dem jeder Khagan einmal in seinem Leben folgen würde. Ob es nun Muhammad, Nabil, Shanesh, Qabel oder einer der anderen wäre. Kehrte einer nicht zurück, so war sein Leben vor Amur verwirkt. Der Tod in der Wüste bedeutete ein Versagen vor dem Herrn aller Himmel. Als er selbst gegangen war, da war er auf alles gefasst gewesen - aber eine innere Stimme war sich immer sicher gewesen, dass er überleben würde. Warum sonst sollte Amur ihn aus den Ketten der Sklaverei Tectarias befreit haben, nur damit er in der Wüste scheitern würde? Ohne Proviant war er aufgebrochen:
Am ersten Tag wanderte er sicheren Schrittes über die ersten Ausläufer der Dünen, die das Tal von Khartoumél berührten. Voller Zuversicht und mit der Kraft eines Mannes. Er winkte den Karawanen zu, die auf dem Weg zu den Basaren waren. Die letzte Oase vor der großen Sandwüste ignorierte er. Kein Wasser, kein Brot. Er nächtigte an trockenen Bäumen, sang leise Lieder und sprach seine Gebete. Am vierten Tag begannen Hunger und Durst zu quälen. Die Hitze stieg ihm am Tag in alle Glieder und verwandelte sich nach der Abenddämmerung in ein Kleid aus eiskaltem Wind. Die erste Woche war vergangen, als er in einer Senke die Überreste eines Kamelreiters fand. Er suchte nach Spuren, doch der Wind hatte sie bereits unter Sand begraben. Seine Schritte wurden langsamer, die Lippen bekamen Risse, und die Zunge war ganz trocken geworden. Er wurde dürrer und dürrer, sein Schatten immer schmaler. Der Sand schien sich auch ohne Wind in seine Augen und Ohren zu bohren. Die Luft zitterte. Immer gleißender wurde das Sonnenlicht, und in der Nacht bot der Mond eine Kühlung an, die er an den Tagen seiner Wanderung vermissen mochte. Schon bald waren Zuversicht und Kraft verschwunden, irgendwo zurückgelassen hinter einer von tausend Dünen.
Als er in einer besonders kalten Nacht an einem Stein lagerte - er hatte die Steinwüste Malkarrha erreicht - spürte er einen Stich in den wunden Füßen. Ein Skorpion. Mit schwarzen Augen sah er ihn an, hob seinen Stachel an, um noch einmal in sein Fleisch zu stechen. "Der nächste Stich wird dein Ende sein, Dakhil", sprach der Skorpion mit der Stimme einer Frau. In den Legenden war jeder Skorpion weiblich, denn sie standen für die Falschheit und die angeborene Verderbtheit der Weiber. "Wenn ich sterben muss, dann ist es Amurs Wunsch und kein Sieg für dich", flüsterte Dakhil. "Dein Amur. Er kann mich nicht verschrecken. Dein Leben liegt in meinen Händen, denn ich diene dem Meshiha Deghala, dem großen Widersacher Amurs, der viele Gestalten annehmen kann. Den einer schwarzen Wolke der Finsternis ebenso wie den eines einfachen Priesters, eines Menschen wie dir." "Deine Worte sind mehr Gift als du in deinen Drüsen trägst, Skorpion." Das Tier kicherte und krächzte. "Ich biete dir eine Wette an. Wenn ich gewinne, töte ich dich, und Amur kann dir nicht helfen. Wenn du mich besiegst, lasse ich dich ziehen!" Dakhil lachte. "Ich wette nicht mit dir. Töte mich, wenn du willst." "Aber, aber, großer Khagan, ich mag nimmer satt sein, aber ich biete dir eine Chance an, Amurs Macht zu beweisen." "Dann sprich, denn er ist weise und seine Macht grenzenlos."
Der Skorpion zeigte mit einer Schere auf den Stein: "Kann Amur einen Stein erschaffen, den er selbst nicht tragen kann?"
"Er kann einen Stein schaffen, den er im Augenblick nicht heben kann", antwortete Dakhil.
"Oh, jetzt willst du mich aber zum Narren halten. Denk lieber noch einmal nach. Du bist ein Spielverderber. Kann Amur einen Stein erschaffen, den er selbst nicht tragen kann?"
"Ein solcher Stein kann nicht existieren, denn Amur ist allmächtig. Er würde seine Macht verlieren, wenn man nach deinen Gedanken geht, Skorpion. Du bist es, der mich täuschen will..."
Der Skorpion führte seinen Stachel nah an Dakhils Bein. "Halte mich nicht zum Narren, Dakhil. Kann er es oder kann er es nicht?"
Wieder dachte er nach. Sollte er auf diese Weise sein Leben beenden? Wenn Amur ihn so auf die Probe stellte, warum dann mit einer Frage, die niemand zufriedenstellend beantworten konnte? Selbst die Weisen würden die Antwort nicht kennen. Amurs macht war grenzenlos, also würde er auch einen solchen Stein erschaffen können. Andererseits würde Dakhil mit dieser Antwort die Frage ablehnen, ihre Wendung einfach auflösen, ohne eine echte Antwort zu geben. "Ich kann deine Frage nicht beantworten, ohne dich zu hintergehen."
"Dann gibst du also auf und willst ruhmlos sterben?", fragte der Skorpion. Sein Stachel zitterte.
"Nein."
"Du hast eine letzte Chance, dann ist das Spiel vorüber, und ich werde dich töten. Kann Amur einen Stein erschaffen, den er selbst nicht tragen kann?"
Wieder überdachte Dakhil seine Antwort. Amur war der Herr der Schöpfung. Ihm war alles möglich, ohne Zweifel, ohne Einschränkung und ohne Grenze. Und wenn es so war, dann waren auch die Worte des Skorpions und seine Frage ein Teil von Amurs Schöpferkraft. Dann war es auch der Skorpion selbst. Und wenn der Skorpion dem Meshiha Deghala diente... dann war auch der Meshiha Teil der Schöpfung. Denn ohne das Gute konnte es kein Böses geben. Am Ende arbeitete das Böse dem Guten in die Hände. Das war das Geheimnis von allem. Dakhil musterte den Skorpion, der seine Frage wiederholte: "Kann Amur einen Stein erschaffen, den er selbst nicht tragen kann?"
Dakhil setzte sich auf, berührte den Stein. Dann antwortete er: "Ja."
Im Folgenden hob der Skorpion den Stachel an, um Dakhil zu vergiften und in den Tod zu schicken. Blitzschnell fuhr seine Hand über den Oberschenkel, packte den Skorpion und hielt ihn so, dass sein Stachel ihn nicht erreichen konnte. "Du willst mich dennoch töten? Habe ich deine Frage falsch beantwortet? Sag es mir, sofort!"
Aber der Skorpion war nur ein Skorpion und sprach kein Wort. Verzweifelt warf Dakhil das Tier weit fort, erhob sich und wanderte durch die Nacht. Wieviele Tage es schon waren, wusste er nicht zu sagen. Und ob er die Frage richtig beantwortet hatte, wollte ihm nicht aufgehen. Zu seinen Zweifeln gesellten sich wieder Hunger und vor allem Durst, als der Morgen dämmerte und die Sonne nach wenigen Augenblicken wieder zu einem brennenden Auge aus Flammen wurde, die sich über die ganze Wüste und den kaum erkennbaren Horizont erstreckten, weil dort, wo kein Feuer war, ein schmerzendes Licht auf den einsamen Wanderer wartete. "Amur, warum verlässt du mich...", flüsterte Dakhil und lag kurz darauf mit dem Gesicht auf brennenden Steinen.
"Ich bin Garraz-Bahal", sagte eine Stimme. ""Aus dem Feuer wird ein Diener kommen, der aus Asche und Staub, aus den Opfern der Namenlosen Geister die Versuchung formt. Und aus dem Eis wird ein Jäger kommen, und sein Pfeil ist der Bote des Geheimnisses. Es kommt eine Dunkelheit, so kalt wie die Nacht, ihre Augen leer wie die Leere zwischen den Sternen. Und du bist der Fürst aller Fürsten, und die Erschaffung ist auf deiner Seite. Und deine Tochter: Sie wird siegen. Wenn du das Land verlassen musst, vertraue sie dem an, der wie ein Fisch über Wellen fliegt."
Dakhil kannte die Hexe des Feuers. Die Menschen aus den Dörfern und den Oasen kannten sie als die Feuerschlange, wieder andere sahen in ihr nichts als eine wirre alte Frau. Ob sie wirklich dort gewesen war, während er sterbend unter der Sonne gelegen hatte, wusste er nicht mehr zu sagen. Er drehte sich auf den Rücken und sah in das Licht, das ihn bald verbrennen würde. Da sprach Amurs Stimme zu ihm und führte ihn auf die lange Reise, die ihn nun in die Wälder Midgards gebracht hatte.
"Eine weitere Witterung, Khagan."
Dakhil roch an den Spuren. Die Krieger hatten hier eine Begegnung mit ihren Gefährten. "Dann haben sich hier zwei Gruppen gebildet. Die mit dem Jungen sind dem Pfad gefolgt. Aber... da ist noch etwas anderes."
Als Dakhil die zweite neue Witterung erkannt hatte, teilten sich die Männer auf. Eine Hälfte folgte dem Jungen, die anderen blieben bei ihrem Khagan, der einen überraschenden Geruch aufgenommen hatte.
"Zada... meine Tochter ist hier", sagte er leise.
Caldorvan, der das erste Mal in seinem untoten Leben einen Traum verfolgt
Er war sehr zornig geworden. Khelain hatte versagt - er würde ihr nur noch eine Gelegenheit geben, die Seele zu rauben. Er brauchte sie. Darin war der Beweis, den er benötigte, damit jeder ihm glauben würde, jeder erkennen würde, dass er der war, der er behauptete zu sein. Dank Arans Verrat war Khelain nun der einzige Weg, den Beweis zu erbringen. Er wusste, was sie wollte. Aber es wäre dumm, jetzt gegen die Stadt zu marschieren. Caldorvan würde viele Krieger abziehen müssen. Der Süden wäre ungeschützt, und mit Unterstützung aus Wilderberg war nicht zu rechnen. Die Krähe ließ lieber andere die Arbeit tun. Dies galt wohl auch für Brylod, dem es tatsächlich gelungen war, einen überaus einfachen Auftrag zu vermasseln. Das Sigillum Dei benötigte zwei Schlüssel. Beide waren im Wilderland verborgen, und einer sogar auf Brylods Land. Aber er wurde ihm abgenommen und bewegte sich nun auf Malcoyn zu. Khelain hatte es vollständig abgelehnt, auch nur einen Krieger gegen den Halbriesen zu entsenden, nachdem Caldorvan ihr von dessen Taten im Thronfolgekrieg berichtet hatte:
"Seine Golems... es sind viele. Und du kannst nichts gegen sie ausrichten, Hexe. Selbst die Krähe muss sich ihnen beugen."
"Die Krähe muss satt werden, mein Gemahl."
"Aber nicht auf diese Weise. Ich werde mich persönlich um das Sigillum Dei kümmern. Sorge du dafür, dass Jorgan stirbt", sagte er, bevor sie wieder verschwand.
Dann schritt der Untote durch die Keller seiner kalten Burg. Im ersten Bürgerkrieg hatte er sich offen gegen das Haus Breton gestellt. Viele, auch seine damaligen Verbündeten, hatten es für einen Fehler gehalten, Samgard zu rauben und dazu zu stehen. Wenn sie damals gewusst hätten, was er bis heute vor aller Welt bewahrt hatte, was nicht einmal Khelain wusste, sie hätten anders geurteilt. Wäre nicht Szarak Crenn gewesen und dessen Dokumente, wäre Tysandra nicht wiedergekehrt, er hätte noch viel länger geschwiegen. Und noch nicht gehandelt. Jetzt war es zu spät. Den Verrat seines Sohnes musste er ebenso hinnehmen wie Hlifas Unwissenheit. Nun war Caldorvan von Torbrin wieder ein Feind des Reiches.
Er sah in das flackernde Kerzenlicht, während Saban den Kanal in das Moorwasser öffnete. In der Flamme sah er einen Wagen, auf dem Tote lagen. Ein Mann sprach: "Unsere Wagen tragen die Leiber der Gefallenen. Die eingespannten Pferde fliehen vor den Gerüchen des Krieges, erheben sich, strecken ihre Glieder aus und entkommen in die Nacht. Nun ziehen wir selbst unsere Kameraden.
Ich lasse mich ins Joch spannen, schleppe die Toten über die kargen Felsen, die unseren Weg versperren. Es sind die Trümmer der Friedhöfe. Auf einigen Steinen stehen noch blasse Namen, andere sind durch Moos und Farn verdeckt. Wir stellen uns vor, dass die Bewohner der Gräber sich unserem Trauerzug anschließen, der uns durch das Gebirge führen wird.
Dort angekommen, müssen wir nur dem Ruf der Geier folgen, die unter hellgrauen Wolken wie Eroberer scheinen. Bald werden sie nach und nach die Körper verzehren, welche wir mühsam über den Pass schleppen. Unser Anführer peitscht uns gnadenlos voran, denn vor dem Morgengrauen müssen wir das Dorf erreichen.
Als nur noch die leeren Jacken und Hosen auf den Wagen liegen, die Geier schon längst verschwunden sind, bleiben wir stehen. Es scheint mir selbstverständlich, dass wir uns selbst in die Wagen begeben. Das Joch streife ich ab, dann klettern meine dürren Beine hinein. Der Anführer läuft hinter uns. Der Weg geht steil hinunter, und im Tal sehen wir die einfachen Häuser, den Brunnen und die Felder.
'Sicher hat man uns schon erwartet. Schneller also', sagt der Anführer, der mit der Peitsche immer wieder nach uns schlägt. Die Wagen poltern in das Tal, bis sie unten zum Stillstand kommen.
Schon ist das Dorf nicht mehr zu sehen. Es wird wieder Abend, und die Wagen rollen mit uns weiter."
Caldorvan schüttelte den Kopf, als er etwas Neues im Kerzenlicht erblickte. Er sah Khelain. Neben ihr waren vier alte Männer zu sehen. Er erkannte sie. Es waren Argan von Giltheas, die Alte Krähe aus der Vestfold, Hieronymusz Klammberg und Pytharas, den er wie Argan von Bildnissen kannte. Sie alle sprachen zusammen: "In wenigen Stunden ist der Tag vorüber. Die Menschen kehren heim von den Feldern, um die Früchte der Arbeit und ihren Herrn zu preisen. In kleinen Hütten sitzen sie am Feuer, dass sie in dunkler Nacht nicht erfrieren. Das Brot und die Milch teilen sie unter Brüdern und Schwestern. Sie erzählen sich Geschichten aus den alten Tagen, sprechen von den Propheten und singen Lieder. Manch einer spricht von Liranus, andere nennen wieder andere ihren König.
Von einem Stamm sind die Menschen. Ihr Vater ist ein Betrogener wie sie. Die Sünde fließt in ihren Adern, und die Weiber der Menschen tragen sie in ihrem Schoß, brüten sie aus, lachen, weinen mit ihr. Ich erfreue mich daran. In wenigen Stunden ist der Tag vorüber. Im nahen Dorf steigt schon der Rauch aus den Herdfeuern hinauf in den blanken Himmel. Augen aus Angst blicken nicht ihm nach, sondern schauen den Pfad hinauf, wo erste Felsen auf dem satten Grün ruhen. Denn dort oben steht die große Burg. Wie eine Pfeilspitze, die gegen das Haus des Herrn gerichtet ist, zeigt der Turm in die Höhe, doch wirft er keinen Schatten, weil der Mond die ganze Weltenscheibe erleuchtet. Die Augen verschwinden in den Hütten, und die Menschen versammeln sich; sie sprechen ein Gebet. Ihr eigenes Wort können sie nicht hören; wie können sie da glauben, dass ihr Herr sie lauschen könnte? Denn zu laut ist das Krächzen der Frau, die im Purpurmantel eingehüllt vom Turm bis ins Dorf hinab gezerrt wird. Ihr schwarzes Haar liegt in Fetzen, wie ihre Haut abgerissen ist von den Knochen. Schwarzer Rauch legt sich nun über den Mond, als das Weib in Flammen steht. Ich habe sie empfangen. In wenigen Stunden ist der Tag vorüber. Die große Stadt ist unter den Wolken kaum zu erkennen. Turmhoch ragen die Häuser der Menschen durch Nebeldunst und Dampf empor. Müde vom Tagwerk betreten sie ihre Heimstatt, umarmen die Kinder, nur um später über die Welt zu verzweifeln. Ihr Land und den Boden zerstören sie selbst; einander vernichten sie durch Krieg und Folter; von der Liebe mag keiner mehr sprechen, ohne sich in Pein und Scham zu verkriechen.
Der Dunst trägt Staub durch die Straßen, wo niemand atmet. Der Moloch ihrer Städte hat keinen Namen. In wenigen Stunden ist der Tag vorüber. Die Hand des Herrn schlägt nach mir aus, um sein Spiel zu beginnen. Jeden Tag geschieht es wieder. Er hat mich geschaffen, um sich zu erfreuen, und er wird mich auch eines Tages mit seinem Schwert zerschlagen, den rechtschaffenen Menschen zur Speise geben.
'Zeige mir einen hier, der rechtschaffen ist, und ich werde mich in dein Schwert stürzen, mich selbst zubereiten und auf seinen Tisch legen', sage ich zu ihm.
Er aber lacht. Sein Herz ist fröhlich, wenn er mich betrachten, auf und ab werfen kann oder tanzen lässt. Wenn ich ihm erzähle, was ich vor dem Ende des Tages in der Welt sehe, schüttelt er den Kopf, aber antwortet nicht. Mein Wunsch, die Menschen zu verzehren, ihre Heimat in Brand zu setzen und die Schiffe durch meine Klauen in tausend Stücke zu schlagen, geht verloren.
Denn er wird mich packen, meinen Schlangenleib zerteilen –dann wird er mich den Menschen schenken. Werden sie es ihm danken und das Geschenk achten? In wenigen Stunden ist der Tag vorüber. Was nun mit der Welt passiert, betrachtet niemand mehr. Ich bin fern von ihr in anderen Gefilden. Eines Tages mag ich vielleicht wieder aus den Tiefen kommen, um vom Ende zu verkünden. Auch dann werde ich verlieren, doch ich füge mich in mein Schicksal. Bis dahin umarme ich dich, Purpurfrau, weil dein langer Mantel mich daran erinnert, dass wir anders sind. Willst du mich begleiten? Willst du den Fürsten gebären, der die letzten Tage über Haus, Dorf und Stadt trägt? Du bist sein Sturmgott. Wisse aber, dass man mir in den sterbenden Ländern andere Namen gegeben hat. Auch dich werden sie fürchten und hassen.
n wenigen Stunden ist der Tag vorüber. Es wird dann Nacht sein. Wir schleichen durch den Ozean, bis wir Land sehen. Ich frage dich, wen wir zuerst strafen sollen. Du sagst nichts, sondern deutest auf einen fernen Hügel. Dann flüsterst du mir deinen Namen. Ich kann ihn aber nicht hören, weil das Geschrei meiner Opfer so laut ist:
'Dort, seht nur! Die See verdampft und siedet wie ein kochender Kessel! Wer sich nähert, der spürt das Herz aus Stein! Flieht, Brüder, fort von hier! Dort ist die Frau, und bei ihr ist der Drache!' Wir aber gehen nun."
Caldorvan bemerkte erst jetzt, dass er selbst diese Worte gesprochen hatte. Die Frau war Khelain, und er war der Sturmgott, der Drache.
"Vater?", fragte Saban.
"Ja...?"
"Es ist soweit. Der Weg ist frei - das Ende des Reiches ist gekommen."
Der Todgeweihte
Der Todgeweihte hatte seine Diener auf die Suche geschickt, die er nicht selbst beenden konnte. Seine Zeit war abgelaufen. Erst recht, nachdem er die Dinge erkannt hatte. Er war nicht mehr als ein Diener, er, der glaubte, über allen zu stehen. So verließ er den rottenden Leib, der schon längst begonnen hatte, sich von innen zu verspeisen, wie das Tier in der Wüste:
Die Haut des Tieres war braun. Sie war überzogen von einem dünnen Film aus durchsichtigem Schleim, der eine Schicht über den oberen und unteren Leib bildete. Dieser Schleim lief aus kleinen Drüsen, die am ganzen Körper wie Dornen aufrecht standen. Versehen war die gepanzerte Haut auch mit anderen Stacheln, damit ein möglicher Feind es nicht einfach verspeisen konnte. Am Rücken erhoben sich schwarze Haare, die im Wind der Wüste wie das Haar einer Prinzessin schaukelten. Der Rücken selbst bestand aus mehreren Teilen, die wie Ringe aneinander lagen. Jedes Glied konnte sich allein bewegen, damit das Tier sich durch die Steine winden konnte, um Beute zu machen. Am Rücken hing ein dünner Schwanz. Er war so dürr, dass er mit den Haaren schaukelte. Am Ende des Schwanzes war eine runde Kugel angebracht. Damit klopfte das Tier auf den Boden, um kleine Käfer und Spinnen aufzuscheuchen.
Das Tier hatte fünf Beine. Angeordnet waren sie wie die Finger einer Hand. Auch die Länge der einzelnen Beine, die alle unter dem Kopf hingen und sich nach hinten drehten, entsprach der Länge von verschiedenen Fingern. Die Zehen waren schwarz und bildeten glänzende, spitze Krallen, damit die Beute festgehalten werden konnte. An der Spitze des Kopfes hingen noch an jeder Seite zwei längere Arme, die auch versehen waren mit den Drüsen und Haaren. An den Spitzen der langen Fangarme, die in der Mitte von jeweils drei schwarzen Sehnen unterbrochen wurden, hingen Scheren, um die Panzer anderer Tiere knacken zu können.
Lange Schleimfäden hingen am Maul, das ansonsten zahnlos war. Es war rund und hatte keine Lippen. Dahinter lag ein innerer Schlauch für die Aufnahme der Nahrung. Die Zunge war in der Mitte geteilt. Darauf lagen auch kleine Haare, damit das Tier, wenn es noch nicht satt war, die Nahrung würgen konnte, um sie noch einmal zu verspeisen.
Die innere Haut des Rachens war scharlachrot. Kleine Poren darin konnten sich öffnen und schließen, um die aufgenommene Speise mit Speichel weicher zu machen. Die Nahrung lief also von den Beinen oder Armen in den runden Mund, wurde von der Zunge an die Poren gerieben und eingeweicht. Dann stellte sich das Tier immer aufrecht hin, damit die Nahrung schneller in den hinteren Bereich gelangen konnte. Die Rückenglieder, die es auch innen gab, bewegten sich gegeneinander und verdrehten sich wie nasse Zahnräder, so dass die Nahrung in den Magen gelangen konnte. Der Magen war ein Dottersack, in dem die weiche Nahrung zerkleinert und aufgenommen wurde in ähnliche Poren wie im Rachen.
Wenn das Tier noch nicht satt war, dann stellte es sich auf seine Scheren auf und ließ mit entgegengesetzten Bewegungen der Rückenglieder die Nahrung durch den Körper zurück laufen. Aus Poren glitten entnommene Teile zurück, damit am Ende wieder die ganze unverbrauchte Nahrung vor dem Tier stand. Dann fraß es erneut auf die beschriebene Weise. Und wurde es wieder nicht satt, dann wiederholte es den ganzen Ablauf und so fort.
Das Gesicht des Tieres bestand aus dem beschriebenen Mund, es hatte keine Nase. Es atmete auch nicht. Die Augen waren sehr groß geraten und standen ein wenig hervor, um Beute schneller zu finden. Ansonsten glichen die Augen des Tieres einem alltäglichen Blick. Überhaupt schien das Gesicht insgesamt nicht genau das eines Tieres zu sein.
Das Tier war einzigartig. Es gab kein anderes dieser Art. Seine Manieren waren sicher nicht die besten, aber essen mussten eben alle. Und Nahrung wurde immer knapper in der Wüste. Das Tier presste den Mund weit auseinander, so dass er sich über den ganzen Kopf erstreckte. Die Arme drückten den Kopf und den Leib in den Magen, dass sie selbst darin verschwanden.
So konnten die Stacheln es nicht verletzen. Dann schob sich der Schwanz verkehrt herum in die hungernde Öffnung. Am Rücken, der von innen hineingezogen wurde, kletterten die Beine entlang (sie waren wie Finger gegliedert), schoben alles auseinander und krochen in die Schwärze. Dann lag das Tier im eigenen Magen satt in der Wüste und sah den Panther, der es all die Jahrhunderte verfolgt hatte.
Würde es noch einmal hungrig sein, dann könnte es den Vorgang ja umkehren und wiederholen. Das Tier schlief glücklich ein. Der Magen rutschte unter einen Stein.
Indes wurden die Käfer unter dem Stein sehr satt durch das wehrlose Tier. Alle waren zufrieden.
Die Geschichte hatte der Todgeweihte vor langer Zeit in der Abtei gehört, bevor sein Leben sich für immer verändert hatte. Er war das Tier, und der Panther folgte ihm. Als die Hülle zurückblieb, nahm sie ein Pferd und ritt nach Bretonia.
Esthelion schaut in den Osten und sieht eine Frühlingsblume
Nach der Begegnung mit dem Weib, das ihn geboren hatte, war er milde betrachtet enttäuscht. Da war keine Liebe, kein Bedauern, nur Kälte. Auch wenn Khelain vorgab, sich nach ihrem Sohn zu sehnen, so konnte er sehr wohl spüren, dass sie mit gespaltener und toter Zunge sprach. Nicht nur war sie untot, auch all ihre Gedanken waren von der Gier getrieben, die Krähe satt zu machen. Um die Sicherheit Brandas und Skjöldburs zu gewährleisten, hatte Esthelion sich angeboten. Aber sie lehnten ab. Also tat er alles, um zu helfen und spürte den Vortex auf, den sie geschaffen hatte, um den unter Skjöldbur ebenso zu beherrschen, aus der Ferne. Derkos hatte ihm gesagt, dass der Vortex, der Skjöldburs Quelle schützte, von Khelain zum Zeitpunkt seiner Geburt geschaffen worden war. "Hier bin ich also geboren", sagte er leis, nachdem er den Vortex gefunden hatte und die anderen fort waren. Cleophos saß gemeinsam mit Allyen, Aurelion und Jan an einem Feuer und Esthelion war, was er in gewisser Weise am liebsten war: allein. Bevor auch er nach unten gehen würde, um die Sache zu untersuchen und den Ort seiner Geburt zu sehen, wagte er einen weiteren Blick in das Ecaloscop. Ihn interessierte die Umgebung und ob Dakhil wohlauf war. Er konnte die Panther ausmachen und wie sie sich trennten. Eine weitere Spur?
Dann warf er seine Blicke auf das Meer hinaus. Er sah Blyrtindur, wie es hinter dem Zeitfluch verborgen war. Östlich davon war eine andere Insel. Er sah Menschen. Sie waren in großer Bedrängnis, aber es war niocht möglich, sie zu holen - zu weit entfernt. Eine sehr schöne Frau, auch für menschliche Maßstäbe, floh vor einer Eisspinne, und ihr Gefährte, ein Krieger, stellte sich dem Schrecken entgegen. Das Ecaloscop schlug seltsam aus, und dann sah Esthelion mehrere Gesichter: Erst sah er einen Jungen, der in seiner Hand ein Messer hielt. Dann sah er einen Hun, der mit geschwungenem Säbel über Wellen sprang. Ihm folgte die schöne Frau, die in ihrem Haar eine Blume trug, und dann glaubte Esthelion, Uruku zu sehen. Die anderen Gesichter waren älter. War das nicht Argan? Und der andere war Hieronymusz Klammberg. Schließlich war da das Gesicht des alten Nordmannes aus der Vestfold. Das letzte Gesicht war ein uralter Mann, vermutlich ein Bretone. Die acht Personen waren umgeben von einer goldenen Scheibe. Und dann brachen die Bilder ab. Esthelion hatte alles aufgezeichnet, bevor er nach unten in das Gewölbe ging, wo Theralia und die anderen schon warteten.
Belfos berichtet über die Dinge, die da kommen
Der Bursche nahm noch etwas vom Honigbrot und einen Krug Milch, den die Lady ihm vorhin in die Hand gedrückt hatte. Er sah nochmal zu dem Kerl, der ihn auf dem Markt verfolgt und geschnappt hatte. Jan kicherte, als Belfos ein paar Brotkrumen nahm und sie der Maus Hildegard hinwarf. Hildegard kletterte über den Rand von Jans Hut, seine Schultern, Brust und Hüften entlang, dann machte sie einen beherzten Sprung und knabberte an der süßen Speise. "Und du bist also...auch eine...Maus?", fragte Belfos. Jan nickte und kicherte weiter: "Ja, warum denn nicht, mh?" "Ach, nur so...", meinte Belfos dann und aß weiter.
Dass irgendjemand ihn erwischen würde, war wohl abzusehen gewesen. Er war eben nur ein Junge. Das Verschwinden seines Meisters war eine merkwürdige Sache, was auch der Grund dafür gewesen war, dass Belfos sich lieber ein Weilchen verstecken wollte, erst recht nach dem Brief, den Jorgan ihm hinterlassen hatte. Davon wollte er eigentlich keinem erzählen, bis er nicht selbst etwas herausgefunden hätte. Aber die Lady und ihr Ehemann, Herr Waldyr, hatten ihm unmissverständlich klargemacht, dass Dinge auf dem Spiel standen, die die Sicherheit des Reiches betrafen. Wenn das Reich in Gefahr wäre, dann war auch die Königin in Gefahr und damit ebenfalls Kanzler Baelon von Glan - und Alysare. Ihr Gesicht hatte Belfos nicht vergessen - wie könnte er?
Die Lady nahm sich einen Krug, füllte ihn mit Wein und sah Belfos an. "Also, Belfos, nochmal von vorn."
"Ich soll alles nochmal erzählen?", fragte er stirnrunzelnd.
"Fangen wir mit deinem Meister an... Jorgan Fausten. Du hast noch nie vom Giganten Jorgan gehört, dem Schelf und was dort passiert ist? Hat er nie etwas dazu gesagt?", erwiderte die Lady.
"Ich habe heute das erste Mal davon gehört."
"Sicher?", fragte Jan.
"Ja, ich bin mir sicher."
"Gut", sagte die Lady, "was ist passiert?"
Belfos erinnerte sich an den letzten Abend. "Ich habe den Auftrag beendet, meinem Meister gezeigt und es eingepackt. Dann hat er mir befohlen, die Arbeit dem Auftraggeber zu bringen. Als ich zurückkehrte, da war mein Meister fort. Und ich habe diesen Brief gefunden."
"Weshalb du dich versteckt hast", meinte Jan.
"Ja, genau."
"Nicht so schnell. Was für ein Auftrag war das?", fragte die Lady.
"Das habe ich doch schon gesagt."
"Dann erzähl es nochmal... es kann wichtig sein."
"Es war ein kleines Spielzeug. Ein Holzpferdchen. Es war.. ist für die kleine Lady. Für Alysare. Sie hat sich sehr gefreut. Und ich war... ich war sehr stolz. Kanzler Baelon hat mich bezahlt, und ich ging auf direktem Weg zurück in die Werkstatt. Dann war er fort. Ich habe alles abgesucht, dann habe ich den Brief gefunden."
Jan nahm Hildegard wieder auf, als sie fertig war und sich mit ihren kleinen Händchen abputzte. "Was stand in dem Brief?", fragte er.
"Ich sollte seine Nachfolge übernehmen. Erst dachte ich nur an sein Handwerk. Aber der Brief war schon seltsam. Er hat von vier Sendboten geschrieben, die sein Werk vollenden würden. Er meinte mich und drei andere", erklärte Belfos und trank einen großen Schluck Milch.
"Diese anderen drei, die kennst du nicht, oder?", fragte die Lady.
"Nein. Nur ihre Namen: Yassir, Akina und Uruku-Xtlan. Den Brief habe ich vernichtet, aber die Namen konnte ich mir merken."
"Yassir ist ein Name aus Samariq. Uruku-Xtlan müsste also einer vom Stamm der Uruku aus Marjastika sein. Wenn ich mich nicht irre, dann ist Akina ein weiblicher Name aus Yarun", sagte Jan und sah dabei zur Lady. "Mehr stand darin nicht über diese Sendboten?", fragte sie.
"Nein. Wir würden sein Werk vollenden. Was bedeutet das? Hat das etwas mit diesen Giganten zu tun?", fragte Belfos unsicher. Er fühlte sich sehr überfordert.
Die Lady sah ihn nachdenklich an. "Das wissen wir noch nicht. Aber wir müssen herausfinden, wer diese Leute sind und ob sie auf dem Weg hierher sind. Jan?"
Der Mäuserich nickte der Lady zu. "Ich werde mich umhören." Dann sah er zu Belfos. "Keine Sorge, kleiner Mann. Hier bist du sicher", sagte er und verließ den Raum.
"Es stand noch etwas in dem Brief..."
"Dir ist noch etwas eingefallen?"
"Nein, ich habe es nur noch nicht gesagt. Ich wollte sicher sein...", sagte er.
"Sicher, dass wir dir nichts Böses wollen?"
"Ja. Mein Meister war immer gut zu mir. Wenn sein Erbe mehr ist als das, was man sehen kann, dann darf das nicht jeder wissen, oder?", fragte er vorsichtig.
"Das stimmt. Und es ist gut, dass du vorsichtig bist, Belfos. Aber du musst uns vertrauen. Wir wollen das Reich beschützen - dazu brauchen wir deine Hilfe."
Er nickte. "Er hat mit Pytharas unterschrieben."
"Tatsächlich, hat er das?"
"Ja, und ich weiß sehr genau, wer das ist. Ich glaube also, dass mein Meister der alte Gelehrte aus Tectaria ist. Keine Ahnung, wie das möglich ist, aber es ist die einzige Erklärung. Vielleicht war er deshalb so traurig. Er hat manchmal von seiner Tochter gesprochen. Ich glaube, das Holzpferd hat ihn an sie erinnert. Vielleicht hat er mir deshalb das Vertrauen geschenkt und mich in die Kanzlei geschickt. Nicht nur, weil er wusste, dass ich ihn nicht einfach weggehen lassen würde."
Sie nickte zustimmend. "Könntest du dir vorstellen, was sein 'Werk' sein könnte?"
Er überlegte. "Nein, nicht richtig. Aber wenn er in Wirklichkeit Pytharas ist... dann muss es etwas mit dessen Werk zu tun haben. Pytharas war ein Gelehrter. Er war Rechenkünstler, Baumeister und.. Anatom. Aber ich habe nie gesehen, dass mein Meister sich damit beschäftigt hat."
"Er hatte Bücher von Pytharas in der Werkstatt. Die habe ich gesehen", sagte die Lady.
"Ja. Aber ich habe mir nie etwas dabei gedacht - bis jetzt."
"Und wenn er sein Wissen versteckt hat?"
"Wie meint Ihr das, Mylady?"
Sie lächelte. "Überleg mal... er hat dich am letzten Abend das erste Mal allein zu einem Auftraggeber geschickt. Und nicht zu irgendeinem. Es war der Kanzler persönlich."
Belfos überlegte wieder. Auf einmal stellte er den Krug ab und beinah fiel ihm das Brot aus der anderen Hand. "Das Holzpferd!"
Allyen lauscht der Geschichte der Wölfe, die für den Feind stehen
Dakhil war schon lange unterwegs, und Cleophos hatte sich offenbart. Hrafna und die anderen waren auf dem Weg, die Hexe Khelain davon abzuhalten, weiteres Unheil über das ohnehin geschundene Skjöldbur zu bringen. "Was die Bewohner dieses Ortes bereits durchmachten - und wir jammern über jeden untreuen Lord", murmelte Allyen, als er mit Aurelion, Cleophos und dem Wal am Feuer saß. Die Wachen waren bereit, und Allyen hatte sein Schwert neben sich liegen, stets bereit, den Ort zu verteidigen. Die Flamme, die König Alikir dem Hetman und seinen Leuten übergeben hatte, leuchtete hell. Bald wäre auch hier der Winter vorüber, denn schon manch warmen Mittag hatten sie in den letzten Tagen erlebt. Frenya und Rodria kümmerten sich zusammen mit Elea und Erika um die Kinder des Ortes, Sigandi drehte seine Runden. Es war eine Idylle, und Allyen hatte seinem Sohn bereits geschrieben, dass er sich hier seinen Lebensabend vorstellen könnte. Aber da war immer noch eine Kälte, da war die Ungewissheit. Nicht nur die Malstromwesen, das Eis und das Feuer. Es war die Ungewissheit, wie die Dinge ihren Lauf nehmen würden und ob er jemals seinen Sohn wiedersehen würde.
"Wenn das eine Anspielung sein sollte...", sagte Cleophos.
"Ach, sei nicht so empfindlich, Mann!", grollte der Wal.
Allyen schüttelte den Kopf. "Ich habe dich gar nicht gemeint. Um ehrlich zu sein, allmählich glaube ich, dass du eher Opfer der Umstände bist. Ich werde mich für dich einsetzen, genau wie Derkos."
"Danke..."
Aurelion sah in das Feuer. "Wie wird es enden..?", fragte er leise.
"Du bist doch der Prophet, sag es uns", meinte Jan, der Wal.
"So funktionieren diese Dinge nicht, mein Freund", antwortete Aurelion und lächelte. "Aber ich bin froh, dass ich hier bin. Ich vermisse Theresia unendlich, aber ich musste herkommen. Wir alle sind Teil dieser Geschichte."
"Wie soll es schon enden? Die Krieger des Winterkönigs und das Eis lauern unten in der Quelle. Die Malstromwesen streifen durch das Land. Und das Feuer... der Salamander... er spricht zu mir", sagte Cleophos.
"Was wir brauchen, ist ein bisschen Optimismus", brummte der Wal und trank einen Schluck Met.
"Ich kenne eine Geschichte, aus der man durchaus Hoffnung schöpfen kann", sagte Aurelion.
Der Wal trank erneut einen Schluck. "Erzähl sie uns."
Aurelion legte etwas Holz nach und fing an. "Die Wölfe bedrohen uns. Die Art und Weise, wie sie dies tun ist aber sehr umfassend. Niemand ist in der Lage, ihr Handeln vollständig zu begreifen.
Manchmal heulen sie, als wären sie in eine Falle gelaufen und verwundet worden. Das Geheul ist in Wahrheit ein Lockruf. Ihm einmal gefolgt, es ist das Ende. Wie Sirenen einen Seefahrer in die Irre leiten, sind es auch die jaulenden Rufe der Wölfe, die ein Kind, das Mitleid fühlt, über den Pfad in das Dickicht tragen, nach einigen Schritten an Kleidung und Hals zerren, bis es sich an die Wucht und Gier der Schleicher gewöhnt – dann folgt es ihnen zweifellos und wird nicht mehr gesehen werden. Der Ruf der Wölfe ist schamlos und lieblich, wenn wir ihn hören. Weil wir die Geschichten der Ältesten kennen, wie die Kinder und Frauen in den Wald gelockt wurden, stopfen wir uns am Abend Wachs in die Ohren, dass kein Schaden entstehen kann, der uns am Ende in Beute verwandelt. Unsere Nahrung finden wir im Fluss. Zu unserem Glück errichteten die Gründerväter der Gemeinde den Grenzzaun zum Wald jenseits des Ufers. Die Fische sind zahlreich. In den alten Legenden heißt es, der Vorrat sei unermesslich und reiche über das Ende der Gemeinde hinaus, weit über die Welt und alle Zeiten, dass sie uns überleben würden. Dankbar verspeisen wir mit einem Gebet jede Mahlzeit. Es kommt vor, dass die Fische, noch am Haken baumelnd, uns vom Geschehen weit weg von der Gemeinschaft berichten. Wenn sie auf den Tellern liegen, begleiten sie unsere Gebete mit fremden Gesängen, die sie irgendwo in den Ozeanen hörten. Fragen wir nach den Wölfen, zittern sie, verstummen, ziehen sich zusammen und beginnen schon, sich selbst zu verspeisen, bevor wir ihre Angst und ihr Leiden beenden. Wenn die Tiere sich fürchten, sobald wir die Wölfe erwähnen, ist es wohl ein Zeichen der großen Gefahr, die sie für alle sind. In der Nacht schleichen die Wölfe durch den Zaun, auf die Straße, zwischen die Häuser. Da wir sie nicht hören, können wir nur ahnen, was dann geschieht. Das Rütteln der Türen sehen wir, wenn das Holz zu zerbersten droht, die Scharniere zittern und Schatten hinter den Schwellen oder unter den Fenstern warten. Wie weinen unsere Kinder, wenn die Bretter und Dielen sich heben und senken, als würde ein Riese unter dem Haus kräftig schnarchen und im nächsten Augenblick aufstehen, das ganze Haus in die Höhe heben und in die Ferne schleudern!
Aber das geschieht nicht. Die Wölfe kriechen in der Morgendämmerung zur Tür, und wir wissen, dass sie am liebsten ihre Klauen in das Holz schlagen und die Schlüssel greifen würden. Auch dies geschah noch nie.
Mit dem Sonnenaufgang sind alle verschwunden. Er kommt immer zur rechten Zeit. Kaum dass die Wölfe, die in jeder Nacht das Eindringen in unsere Stuben studieren und planen, einen Weg entdecken, vertreibt das Licht sie zurück in das Dickicht. Die Ältesten sagen, dass es unsere Gebete seien, die uns retten und die Gemeinde beschützen. Sie geben uns Weisung, wofür wir beten müssen, welche Opfergaben notwendig sind, um den Schaden abzuwenden. Ihre Weisheit ist die einzige Waffe gegen die Wölfe. Das Handeln der Wölfe ist unbegreiflich. Da sie in jeder Nacht ihre Versuche von vorn beginnen, müssen sie am Morgen ihre Fortschritte vergessen haben. Eine andere Möglichkeit wäre, dass sie jeden Abend ein neues Rudel in die Gemeinde befehlen, einen Weg in die Zimmer zu finden. In unseren Gebeten fragen wir nach den Gründen für das Verhalten der Wölfe. Wir fragen die Füchse, die Hirsche und Rehe, selbst die Karnickel geben keine Auskunft. Allen Tieren ist die Ungewissheit gemein, warum die Wölfe die Ergebnisse ihrer Nachforschungen nicht ihren Untergebenen berichten, damit sie in der nächsten Nacht den Schrecken fortsetzen können. Würde ein großer Feldherr in den Rudeln geboren, es wäre das Ende für die Gemeinde. Wie könnte ein General die Lücken unserer Verteidigung nicht nutzen, seine hungrige Horde selbst durch den kleinsten Winkel oder durch den Kamin bis an das Herdfeuer zu treiben!
Die Ältesten haben darauf keine Antwort, nehmen die Opfergaben und sprechen einen Segen. Wird es dunkel, verstecken sie sich unter den Schemeln oder fesseln sich an die Dachbalken der Häuser, um nicht dem Lockruf zu folgen. Manche sind weise genug, dass sie ohne Seil ihren Leib fesseln können.
Die Wölfe müssten nur durch das Holz schlagen, schon wären die Schlüssel in ihrem Besitz. Dass sie es nicht tun, lässt die Ältesten noch enger um die Balken biegen – so närrisch wie sie heute sind, legen sie bald die Schlüssel unter die Fußabtreter, den Wölfen die nächtliche Mühe zu ersparen."
So schloss er die Geschichte. "Ich habe sie hier in Midgard gehört, vom Alten aus der Vestfold."
"Na, ermutigend ist sie aber nicht", meinte der Wal und Cleophos stimmte zu. "Nicht allzu sehr."
"Wo liegt die Hoffnung darin?", fragte Allyen.
Aurelion musste lächeln. "Dass wir nicht so sind wie die Bewohner dieses Dorfes. Seht euch um. Wir fügen uns nicht."
Allyen betrachtete Rodria, die mit einem Holzschwert ein paar Kampfübungen machte. Erika hielt den jungen Radulf im Arm, und Gruschka saß vor der Schmiede und hielt mit einem Lächeln ihren Bauch, denn sie erwartete ein Kind. "Ja...ja, das ist wahr", antwortete Allyen dann.
Phaeron erinnert sich an ein Buch, in dem eine lose Seite versteckt ist
Er hatte seinen Bericht über das, was er gespürt hatte, sofort einem Reiter übergeben. "Das an den Lethos, und diese Abschrift geht an Kanzler Baelon."
"Nichts gegen Eure Intuition, Phaeron, aber daraus lässt sich vieles deuten", sagte Lord Dagharn.
"Natürlich. Die Wege der Götter sind stets sonderbar und geheimnisvoll. Aber nach den Dingen, die am Eisenwall und bei Wilderberg geschehen sind, besteht wohl keinerlei Zweifel, dass Caldorvan nun ein Feind des Reiches ist, der aufgehalten werden muss. Er führt die Malstromwesen. Und der Pakt ist gebrochen worden durch Verrat."
Brutus von Dagharn nickte. "Es ist gerade noch glimpflich ausgegangen, am Eisenwall. Doch Wilderberg - und das steht nun fest - ist von Brylod angegriffen worden. Und Lord Garrilton steht auf seiner Seite. Nach Roglund und Harilos, Aestrinor und Maegranth, haben wir also noch weitere Wilderlandlords verloren. Sie alle sind vogelfrei, auch wenn bei einigen Dokumenten noch das Siegel der Königin fehlt."
"Ich habe Lord Falkenfels in Kenntnis gesetzt und gewarnt. Sollte auch er einem Feind dienen, werden wir kommen. Aber ich glaube, ihm können wir trauen", antwortete Phaeron.
"Eine von Falkenfels ist immer noch in Gewahrsam. Er könnte ihre Herausgabe einfordern...", gab Brutus zu bedenken.
"Dieser Tage sollten wir alle von Forderungen absehen. Das Reich ist in sehr großer Gefahr, unabhängig davon, ob Tysandra nun tot ist oder nicht. Brylods und Garriltons Verbündete sind immer noch da. Sie haben Wilderberg eingenommen - wer immer sie sind."
Ein Diener klopfte an die Tür, öffnete sie einen Spalt. "Lord Brioless ist soeben eingetroffen."
Martus von Brioless bekam einen Krug Wein und nahm Platz. "Lord Yren, Lord Dagharn. Die Götter mit Euch."
"Und mit Euch", sagte Phaeron. Brutus nickte ihm zu.
"Wie sieht es aus?", fragte Brioless.
"Meine Späher haben beobachtet, dass Brylod eine Ausgrabung veranlasst hat. In einer Ruine auf seinem eigenen Land. Nun, dem Land, das ihm noch gehört."
Auch für Phaeron waren das neue Informationen. "Was für eine Ausgrabung? Hat er etwas gefunden?"
Brutus leerte seinen Weinkrug. "Jetzt wird es interessant: Einer der Kundschafter hat gesehen, dass es zu einem Kampf kam. Jemand hat Brylods Männer dort angegriffen. Auch Garrilton hatte Leute dort, und Söldner Crenns trieben sich ebenfalls da rum. Die Angreifer kamen von Süden her, und sie sind mit dem Halbriesen bekannt - ich gehe davon aus, dass das Beutestück bei ihm ist. Für mich bedeutet das: Eine Sorge weniger."
Brioless nickte. "Wenn sie mit Malcoyn bekannt sind, ahne ich, um wen es geht. Ich werde den Kanzler darüber informieren."
"Eine Ruine...?", fragte Phaeron.
"Ja. Mit einer Statue, die einen Diskus oder so etwas in der Hand hält. Sagt Euch das etwas?", fragte Brutus beide.
Brioless schüttelte nun den Kopf, und Phaeron überlegte. "Nein."
"Lord Baelon und die Königin danken Euch für Eure Mühen. Bis eine Entscheidung getroffen ist, werden Brylod und Garrilton ausschließlich beobachtet. Sollte es aber zu auffälligen Truppenbewegungen kommen, besonders gen Süden, setzt uns in Kenntnis und greift sofort ein. Doch sollten sie sich still verhalten, tut nicht mehr, als Kundschafter auszuschicken. Wir müssen uns ihrer Verbündeten und Pläne sicher sein. Falls sich etwas über diese Ausgrabung ergibt, informiert mich. Ich werde den Kanzler unterrichten und den Lethos befragen", sagte Martus. Und wie immer hörter Phaeron Verachtung in seiner Stimme.
"Ich weiß, dass Ihr den Lethos für einen Mann mit zwei Gesichtern haltet. Aber ich habe ein Auge darauf, Lord Brioless", sagte Phaeron.
"Natürlich. Wie alle", antwortete Martus, leerte seinen Krug und machte sich auf den Weg. Brutus folgte ihm. "Ich informiere meine Männer. Auf bald."
"Auf bald, Mylords."
Als er allein in der Stube war, ging Phaeron an ein Regal und suchte ein bestimmtes Buch. Natürlich wusste er sofort, worum es bei der Ausgrabung gegangen sein musste - spätestens als Dagharn den Diskus erwähnt hatte. Und auch der Lethos würde es sofort wissen. Wenn Caldorvan die Malstromwesen führte und wenn er vielleicht mit Brylod und Garrilton gemeinsame Sache machte, also bereits der Angriff auf Wilderberg eine Farce gewesen wäre, dann würde auch der Untote wissen, was dort ausgegraben worden war. Phaeron hatte die Ruine schon seit Jahren im Auge gehabt. Aber Brylods Gier war unermesslich, also konnte Phaeron ihm nicht sagen, was dort verborgen sein könnte. Er blätterte durch die alten vergilbten Seiten, bis er es fand. Es war eine Zeichnung, wie er sie einst in der Abtei gesehen hatte, als er die Kammern Aldwyns gereinigt hatte. Das war zu Beginn des Bürgerkrieges gewesen, bevor er zu Caldorvans Gefangenem geworden war. Nach der Schlacht am Luminus hatte Sir Cleophos ihn und die anderen überlebenden Geistlichen befreit und zurück in die Abtei geleitet. Dort war Phaeron auch den beiden Brüdern begegnet, deren Schicksale bis heute die Geschichte des Landes bestimmten: Erec und Hrabanus. Aus Hrabanus war der 'Weinende Gott' geworden und Erec war nunmehr Hüter Alt-Blyrtindurs. Es war Hrabanus gewesen, der die Zeichen auf der Abbildung selbst zur Überraschung des Abtes hatte entziffern können. Auch Erec war sehr erstaunt gewesen. "Wie hast du das geschafft, Bruder?" Der Abt hatte gelächelt. "Eine besondere und sehr seltene Gabe." Nur Hrabanus hatte keine richtige Antwort gehabt. "Ich habe... es einfach gesehen."
Und nun sah Phaeron sie wieder, die Abbildung. Er hatte es abgezeichnet und in diesem Buch versteckt. "Was willst du uns sagen..., Sigillum Dei? Sind die vier Weisen und ihre Nachfolger gekommen...?
Dakhil und der Stein, bevor er eine Fährte entdeckt
"Aus dem Feuer wird ein Diener kommen, der aus Asche und Staub, aus den Opfern der Namenlosen Geister die Versuchung formt. Und aus dem Eis wird ein Jäger kommen, und sein Pfeil ist der Bote des Geheimnisses." Immer wieder dachte Dakhil an Garraz-Bahals Worte, die sie damals in der Wüste gesprochen hatte. Damals - als Dakhil auf den Pfad der Erleuchtung geschickt worden war. Und wie lange hatte er geglaubt, dass die Vernichtung der Finsternis seine Aufgabe wäre! "Es kommt eine Dunkelheit, so kalt wie die Nacht, ihre Augen leer wie die Leere zwischen den Sternen. Und du bist der Fürst aller Fürsten, und die Erschaffung ist auf deiner Seite." Das waren ihre genauen Worte gewesen. Auch über Zada hatte sie eine Weissagung. "Sie wird siegen. Wenn du das Land verlassen musst, vertraue sie dem an, der wie ein Fisch über Wellen fliegt." Dakhil hatte diesen Mann gefunden, auch wenn er damals nicht daran geglaubt hatte. Nicht alles, was die Hexe des Feuers sagte, entsprach der Wahrheit - und eine Weissagung war immer das Ergebnis aus Vergangenheit und Gegenwart; dazu - je nach Verlässlichkeit des Weissagenden - etwas Vorstellungskraft. Dass er aber so naiv gewesen war, die Worte der Hexe, die die Malstromwesen gemeint hatten, ausschließlich auf die Finsternis zu münzen, ließ ihn heute über sich selbst lachen.
"Khagan, wir haben eine Fährte gefunden. Dort drüben", sagte einer der Panther. Dakhil folgte ihm, roch an der Erde und dem Schnee. "Sie waren hier. Weiter!" Dann eilten die Panther durch das Dickicht. Mehr als zwanzig Krieger. Reitspinnen. Aber in der Witterung, die sie von den Spinnen aufnehmen konnten, lag auch eine menschliche. "Sie haben den Jungen bei sich, und er lebt."
Wieder dachte er an seine Tochter. Zada war ein schlaues Kind, und er dankte Amur dafür, dass der Mann in Schwarz sie nicht hatte überlisten können. Aber bedeutete die Tatsache, dass er schon lang keine Nachricht mehr von ihr durch ein Ecaloscop bekommen hatte, dass sie immer noch frei war? Wieder hallten Garraz-Bahals Worte nach. Als Dakhil in die Wüste gegangen war, war er dem Ruf gefolgt, dem jeder Khagan einmal in seinem Leben folgen würde. Ob es nun Muhammad, Nabil, Shanesh, Qabel oder einer der anderen wäre. Kehrte einer nicht zurück, so war sein Leben vor Amur verwirkt. Der Tod in der Wüste bedeutete ein Versagen vor dem Herrn aller Himmel. Als er selbst gegangen war, da war er auf alles gefasst gewesen - aber eine innere Stimme war sich immer sicher gewesen, dass er überleben würde. Warum sonst sollte Amur ihn aus den Ketten der Sklaverei Tectarias befreit haben, nur damit er in der Wüste scheitern würde? Ohne Proviant war er aufgebrochen:
Am ersten Tag wanderte er sicheren Schrittes über die ersten Ausläufer der Dünen, die das Tal von Khartoumél berührten. Voller Zuversicht und mit der Kraft eines Mannes. Er winkte den Karawanen zu, die auf dem Weg zu den Basaren waren. Die letzte Oase vor der großen Sandwüste ignorierte er. Kein Wasser, kein Brot. Er nächtigte an trockenen Bäumen, sang leise Lieder und sprach seine Gebete. Am vierten Tag begannen Hunger und Durst zu quälen. Die Hitze stieg ihm am Tag in alle Glieder und verwandelte sich nach der Abenddämmerung in ein Kleid aus eiskaltem Wind. Die erste Woche war vergangen, als er in einer Senke die Überreste eines Kamelreiters fand. Er suchte nach Spuren, doch der Wind hatte sie bereits unter Sand begraben. Seine Schritte wurden langsamer, die Lippen bekamen Risse, und die Zunge war ganz trocken geworden. Er wurde dürrer und dürrer, sein Schatten immer schmaler. Der Sand schien sich auch ohne Wind in seine Augen und Ohren zu bohren. Die Luft zitterte. Immer gleißender wurde das Sonnenlicht, und in der Nacht bot der Mond eine Kühlung an, die er an den Tagen seiner Wanderung vermissen mochte. Schon bald waren Zuversicht und Kraft verschwunden, irgendwo zurückgelassen hinter einer von tausend Dünen.
Als er in einer besonders kalten Nacht an einem Stein lagerte - er hatte die Steinwüste Malkarrha erreicht - spürte er einen Stich in den wunden Füßen. Ein Skorpion. Mit schwarzen Augen sah er ihn an, hob seinen Stachel an, um noch einmal in sein Fleisch zu stechen. "Der nächste Stich wird dein Ende sein, Dakhil", sprach der Skorpion mit der Stimme einer Frau. In den Legenden war jeder Skorpion weiblich, denn sie standen für die Falschheit und die angeborene Verderbtheit der Weiber. "Wenn ich sterben muss, dann ist es Amurs Wunsch und kein Sieg für dich", flüsterte Dakhil. "Dein Amur. Er kann mich nicht verschrecken. Dein Leben liegt in meinen Händen, denn ich diene dem Meshiha Deghala, dem großen Widersacher Amurs, der viele Gestalten annehmen kann. Den einer schwarzen Wolke der Finsternis ebenso wie den eines einfachen Priesters, eines Menschen wie dir." "Deine Worte sind mehr Gift als du in deinen Drüsen trägst, Skorpion." Das Tier kicherte und krächzte. "Ich biete dir eine Wette an. Wenn ich gewinne, töte ich dich, und Amur kann dir nicht helfen. Wenn du mich besiegst, lasse ich dich ziehen!" Dakhil lachte. "Ich wette nicht mit dir. Töte mich, wenn du willst." "Aber, aber, großer Khagan, ich mag nimmer satt sein, aber ich biete dir eine Chance an, Amurs Macht zu beweisen." "Dann sprich, denn er ist weise und seine Macht grenzenlos."
Der Skorpion zeigte mit einer Schere auf den Stein: "Kann Amur einen Stein erschaffen, den er selbst nicht tragen kann?"
"Er kann einen Stein schaffen, den er im Augenblick nicht heben kann", antwortete Dakhil.
"Oh, jetzt willst du mich aber zum Narren halten. Denk lieber noch einmal nach. Du bist ein Spielverderber. Kann Amur einen Stein erschaffen, den er selbst nicht tragen kann?"
"Ein solcher Stein kann nicht existieren, denn Amur ist allmächtig. Er würde seine Macht verlieren, wenn man nach deinen Gedanken geht, Skorpion. Du bist es, der mich täuschen will..."
Der Skorpion führte seinen Stachel nah an Dakhils Bein. "Halte mich nicht zum Narren, Dakhil. Kann er es oder kann er es nicht?"
Wieder dachte er nach. Sollte er auf diese Weise sein Leben beenden? Wenn Amur ihn so auf die Probe stellte, warum dann mit einer Frage, die niemand zufriedenstellend beantworten konnte? Selbst die Weisen würden die Antwort nicht kennen. Amurs macht war grenzenlos, also würde er auch einen solchen Stein erschaffen können. Andererseits würde Dakhil mit dieser Antwort die Frage ablehnen, ihre Wendung einfach auflösen, ohne eine echte Antwort zu geben. "Ich kann deine Frage nicht beantworten, ohne dich zu hintergehen."
"Dann gibst du also auf und willst ruhmlos sterben?", fragte der Skorpion. Sein Stachel zitterte.
"Nein."
"Du hast eine letzte Chance, dann ist das Spiel vorüber, und ich werde dich töten. Kann Amur einen Stein erschaffen, den er selbst nicht tragen kann?"
Wieder überdachte Dakhil seine Antwort. Amur war der Herr der Schöpfung. Ihm war alles möglich, ohne Zweifel, ohne Einschränkung und ohne Grenze. Und wenn es so war, dann waren auch die Worte des Skorpions und seine Frage ein Teil von Amurs Schöpferkraft. Dann war es auch der Skorpion selbst. Und wenn der Skorpion dem Meshiha Deghala diente... dann war auch der Meshiha Teil der Schöpfung. Denn ohne das Gute konnte es kein Böses geben. Am Ende arbeitete das Böse dem Guten in die Hände. Das war das Geheimnis von allem. Dakhil musterte den Skorpion, der seine Frage wiederholte: "Kann Amur einen Stein erschaffen, den er selbst nicht tragen kann?"
Dakhil setzte sich auf, berührte den Stein. Dann antwortete er: "Ja."
Im Folgenden hob der Skorpion den Stachel an, um Dakhil zu vergiften und in den Tod zu schicken. Blitzschnell fuhr seine Hand über den Oberschenkel, packte den Skorpion und hielt ihn so, dass sein Stachel ihn nicht erreichen konnte. "Du willst mich dennoch töten? Habe ich deine Frage falsch beantwortet? Sag es mir, sofort!"
Aber der Skorpion war nur ein Skorpion und sprach kein Wort. Verzweifelt warf Dakhil das Tier weit fort, erhob sich und wanderte durch die Nacht. Wieviele Tage es schon waren, wusste er nicht zu sagen. Und ob er die Frage richtig beantwortet hatte, wollte ihm nicht aufgehen. Zu seinen Zweifeln gesellten sich wieder Hunger und vor allem Durst, als der Morgen dämmerte und die Sonne nach wenigen Augenblicken wieder zu einem brennenden Auge aus Flammen wurde, die sich über die ganze Wüste und den kaum erkennbaren Horizont erstreckten, weil dort, wo kein Feuer war, ein schmerzendes Licht auf den einsamen Wanderer wartete. "Amur, warum verlässt du mich...", flüsterte Dakhil und lag kurz darauf mit dem Gesicht auf brennenden Steinen.
"Ich bin Garraz-Bahal", sagte eine Stimme. ""Aus dem Feuer wird ein Diener kommen, der aus Asche und Staub, aus den Opfern der Namenlosen Geister die Versuchung formt. Und aus dem Eis wird ein Jäger kommen, und sein Pfeil ist der Bote des Geheimnisses. Es kommt eine Dunkelheit, so kalt wie die Nacht, ihre Augen leer wie die Leere zwischen den Sternen. Und du bist der Fürst aller Fürsten, und die Erschaffung ist auf deiner Seite. Und deine Tochter: Sie wird siegen. Wenn du das Land verlassen musst, vertraue sie dem an, der wie ein Fisch über Wellen fliegt."
Dakhil kannte die Hexe des Feuers. Die Menschen aus den Dörfern und den Oasen kannten sie als die Feuerschlange, wieder andere sahen in ihr nichts als eine wirre alte Frau. Ob sie wirklich dort gewesen war, während er sterbend unter der Sonne gelegen hatte, wusste er nicht mehr zu sagen. Er drehte sich auf den Rücken und sah in das Licht, das ihn bald verbrennen würde. Da sprach Amurs Stimme zu ihm und führte ihn auf die lange Reise, die ihn nun in die Wälder Midgards gebracht hatte.
"Eine weitere Witterung, Khagan."
Dakhil roch an den Spuren. Die Krieger hatten hier eine Begegnung mit ihren Gefährten. "Dann haben sich hier zwei Gruppen gebildet. Die mit dem Jungen sind dem Pfad gefolgt. Aber... da ist noch etwas anderes."
Als Dakhil die zweite neue Witterung erkannt hatte, teilten sich die Männer auf. Eine Hälfte folgte dem Jungen, die anderen blieben bei ihrem Khagan, der einen überraschenden Geruch aufgenommen hatte.
"Zada... meine Tochter ist hier", sagte er leise.
Caldorvan, der das erste Mal in seinem untoten Leben einen Traum verfolgt
Er war sehr zornig geworden. Khelain hatte versagt - er würde ihr nur noch eine Gelegenheit geben, die Seele zu rauben. Er brauchte sie. Darin war der Beweis, den er benötigte, damit jeder ihm glauben würde, jeder erkennen würde, dass er der war, der er behauptete zu sein. Dank Arans Verrat war Khelain nun der einzige Weg, den Beweis zu erbringen. Er wusste, was sie wollte. Aber es wäre dumm, jetzt gegen die Stadt zu marschieren. Caldorvan würde viele Krieger abziehen müssen. Der Süden wäre ungeschützt, und mit Unterstützung aus Wilderberg war nicht zu rechnen. Die Krähe ließ lieber andere die Arbeit tun. Dies galt wohl auch für Brylod, dem es tatsächlich gelungen war, einen überaus einfachen Auftrag zu vermasseln. Das Sigillum Dei benötigte zwei Schlüssel. Beide waren im Wilderland verborgen, und einer sogar auf Brylods Land. Aber er wurde ihm abgenommen und bewegte sich nun auf Malcoyn zu. Khelain hatte es vollständig abgelehnt, auch nur einen Krieger gegen den Halbriesen zu entsenden, nachdem Caldorvan ihr von dessen Taten im Thronfolgekrieg berichtet hatte:
"Seine Golems... es sind viele. Und du kannst nichts gegen sie ausrichten, Hexe. Selbst die Krähe muss sich ihnen beugen."
"Die Krähe muss satt werden, mein Gemahl."
"Aber nicht auf diese Weise. Ich werde mich persönlich um das Sigillum Dei kümmern. Sorge du dafür, dass Jorgan stirbt", sagte er, bevor sie wieder verschwand.
Dann schritt der Untote durch die Keller seiner kalten Burg. Im ersten Bürgerkrieg hatte er sich offen gegen das Haus Breton gestellt. Viele, auch seine damaligen Verbündeten, hatten es für einen Fehler gehalten, Samgard zu rauben und dazu zu stehen. Wenn sie damals gewusst hätten, was er bis heute vor aller Welt bewahrt hatte, was nicht einmal Khelain wusste, sie hätten anders geurteilt. Wäre nicht Szarak Crenn gewesen und dessen Dokumente, wäre Tysandra nicht wiedergekehrt, er hätte noch viel länger geschwiegen. Und noch nicht gehandelt. Jetzt war es zu spät. Den Verrat seines Sohnes musste er ebenso hinnehmen wie Hlifas Unwissenheit. Nun war Caldorvan von Torbrin wieder ein Feind des Reiches.
Er sah in das flackernde Kerzenlicht, während Saban den Kanal in das Moorwasser öffnete. In der Flamme sah er einen Wagen, auf dem Tote lagen. Ein Mann sprach: "Unsere Wagen tragen die Leiber der Gefallenen. Die eingespannten Pferde fliehen vor den Gerüchen des Krieges, erheben sich, strecken ihre Glieder aus und entkommen in die Nacht. Nun ziehen wir selbst unsere Kameraden.
Ich lasse mich ins Joch spannen, schleppe die Toten über die kargen Felsen, die unseren Weg versperren. Es sind die Trümmer der Friedhöfe. Auf einigen Steinen stehen noch blasse Namen, andere sind durch Moos und Farn verdeckt. Wir stellen uns vor, dass die Bewohner der Gräber sich unserem Trauerzug anschließen, der uns durch das Gebirge führen wird.
Dort angekommen, müssen wir nur dem Ruf der Geier folgen, die unter hellgrauen Wolken wie Eroberer scheinen. Bald werden sie nach und nach die Körper verzehren, welche wir mühsam über den Pass schleppen. Unser Anführer peitscht uns gnadenlos voran, denn vor dem Morgengrauen müssen wir das Dorf erreichen.
Als nur noch die leeren Jacken und Hosen auf den Wagen liegen, die Geier schon längst verschwunden sind, bleiben wir stehen. Es scheint mir selbstverständlich, dass wir uns selbst in die Wagen begeben. Das Joch streife ich ab, dann klettern meine dürren Beine hinein. Der Anführer läuft hinter uns. Der Weg geht steil hinunter, und im Tal sehen wir die einfachen Häuser, den Brunnen und die Felder.
'Sicher hat man uns schon erwartet. Schneller also', sagt der Anführer, der mit der Peitsche immer wieder nach uns schlägt. Die Wagen poltern in das Tal, bis sie unten zum Stillstand kommen.
Schon ist das Dorf nicht mehr zu sehen. Es wird wieder Abend, und die Wagen rollen mit uns weiter."
Caldorvan schüttelte den Kopf, als er etwas Neues im Kerzenlicht erblickte. Er sah Khelain. Neben ihr waren vier alte Männer zu sehen. Er erkannte sie. Es waren Argan von Giltheas, die Alte Krähe aus der Vestfold, Hieronymusz Klammberg und Pytharas, den er wie Argan von Bildnissen kannte. Sie alle sprachen zusammen: "In wenigen Stunden ist der Tag vorüber. Die Menschen kehren heim von den Feldern, um die Früchte der Arbeit und ihren Herrn zu preisen. In kleinen Hütten sitzen sie am Feuer, dass sie in dunkler Nacht nicht erfrieren. Das Brot und die Milch teilen sie unter Brüdern und Schwestern. Sie erzählen sich Geschichten aus den alten Tagen, sprechen von den Propheten und singen Lieder. Manch einer spricht von Liranus, andere nennen wieder andere ihren König.
Von einem Stamm sind die Menschen. Ihr Vater ist ein Betrogener wie sie. Die Sünde fließt in ihren Adern, und die Weiber der Menschen tragen sie in ihrem Schoß, brüten sie aus, lachen, weinen mit ihr. Ich erfreue mich daran. In wenigen Stunden ist der Tag vorüber. Im nahen Dorf steigt schon der Rauch aus den Herdfeuern hinauf in den blanken Himmel. Augen aus Angst blicken nicht ihm nach, sondern schauen den Pfad hinauf, wo erste Felsen auf dem satten Grün ruhen. Denn dort oben steht die große Burg. Wie eine Pfeilspitze, die gegen das Haus des Herrn gerichtet ist, zeigt der Turm in die Höhe, doch wirft er keinen Schatten, weil der Mond die ganze Weltenscheibe erleuchtet. Die Augen verschwinden in den Hütten, und die Menschen versammeln sich; sie sprechen ein Gebet. Ihr eigenes Wort können sie nicht hören; wie können sie da glauben, dass ihr Herr sie lauschen könnte? Denn zu laut ist das Krächzen der Frau, die im Purpurmantel eingehüllt vom Turm bis ins Dorf hinab gezerrt wird. Ihr schwarzes Haar liegt in Fetzen, wie ihre Haut abgerissen ist von den Knochen. Schwarzer Rauch legt sich nun über den Mond, als das Weib in Flammen steht. Ich habe sie empfangen. In wenigen Stunden ist der Tag vorüber. Die große Stadt ist unter den Wolken kaum zu erkennen. Turmhoch ragen die Häuser der Menschen durch Nebeldunst und Dampf empor. Müde vom Tagwerk betreten sie ihre Heimstatt, umarmen die Kinder, nur um später über die Welt zu verzweifeln. Ihr Land und den Boden zerstören sie selbst; einander vernichten sie durch Krieg und Folter; von der Liebe mag keiner mehr sprechen, ohne sich in Pein und Scham zu verkriechen.
Der Dunst trägt Staub durch die Straßen, wo niemand atmet. Der Moloch ihrer Städte hat keinen Namen. In wenigen Stunden ist der Tag vorüber. Die Hand des Herrn schlägt nach mir aus, um sein Spiel zu beginnen. Jeden Tag geschieht es wieder. Er hat mich geschaffen, um sich zu erfreuen, und er wird mich auch eines Tages mit seinem Schwert zerschlagen, den rechtschaffenen Menschen zur Speise geben.
'Zeige mir einen hier, der rechtschaffen ist, und ich werde mich in dein Schwert stürzen, mich selbst zubereiten und auf seinen Tisch legen', sage ich zu ihm.
Er aber lacht. Sein Herz ist fröhlich, wenn er mich betrachten, auf und ab werfen kann oder tanzen lässt. Wenn ich ihm erzähle, was ich vor dem Ende des Tages in der Welt sehe, schüttelt er den Kopf, aber antwortet nicht. Mein Wunsch, die Menschen zu verzehren, ihre Heimat in Brand zu setzen und die Schiffe durch meine Klauen in tausend Stücke zu schlagen, geht verloren.
Denn er wird mich packen, meinen Schlangenleib zerteilen –dann wird er mich den Menschen schenken. Werden sie es ihm danken und das Geschenk achten? In wenigen Stunden ist der Tag vorüber. Was nun mit der Welt passiert, betrachtet niemand mehr. Ich bin fern von ihr in anderen Gefilden. Eines Tages mag ich vielleicht wieder aus den Tiefen kommen, um vom Ende zu verkünden. Auch dann werde ich verlieren, doch ich füge mich in mein Schicksal. Bis dahin umarme ich dich, Purpurfrau, weil dein langer Mantel mich daran erinnert, dass wir anders sind. Willst du mich begleiten? Willst du den Fürsten gebären, der die letzten Tage über Haus, Dorf und Stadt trägt? Du bist sein Sturmgott. Wisse aber, dass man mir in den sterbenden Ländern andere Namen gegeben hat. Auch dich werden sie fürchten und hassen.
n wenigen Stunden ist der Tag vorüber. Es wird dann Nacht sein. Wir schleichen durch den Ozean, bis wir Land sehen. Ich frage dich, wen wir zuerst strafen sollen. Du sagst nichts, sondern deutest auf einen fernen Hügel. Dann flüsterst du mir deinen Namen. Ich kann ihn aber nicht hören, weil das Geschrei meiner Opfer so laut ist:
'Dort, seht nur! Die See verdampft und siedet wie ein kochender Kessel! Wer sich nähert, der spürt das Herz aus Stein! Flieht, Brüder, fort von hier! Dort ist die Frau, und bei ihr ist der Drache!' Wir aber gehen nun."
Caldorvan bemerkte erst jetzt, dass er selbst diese Worte gesprochen hatte. Die Frau war Khelain, und er war der Sturmgott, der Drache.
"Vater?", fragte Saban.
"Ja...?"
"Es ist soweit. Der Weg ist frei - das Ende des Reiches ist gekommen."
Der Todgeweihte
Der Todgeweihte hatte seine Diener auf die Suche geschickt, die er nicht selbst beenden konnte. Seine Zeit war abgelaufen. Erst recht, nachdem er die Dinge erkannt hatte. Er war nicht mehr als ein Diener, er, der glaubte, über allen zu stehen. So verließ er den rottenden Leib, der schon längst begonnen hatte, sich von innen zu verspeisen, wie das Tier in der Wüste:
Die Haut des Tieres war braun. Sie war überzogen von einem dünnen Film aus durchsichtigem Schleim, der eine Schicht über den oberen und unteren Leib bildete. Dieser Schleim lief aus kleinen Drüsen, die am ganzen Körper wie Dornen aufrecht standen. Versehen war die gepanzerte Haut auch mit anderen Stacheln, damit ein möglicher Feind es nicht einfach verspeisen konnte. Am Rücken erhoben sich schwarze Haare, die im Wind der Wüste wie das Haar einer Prinzessin schaukelten. Der Rücken selbst bestand aus mehreren Teilen, die wie Ringe aneinander lagen. Jedes Glied konnte sich allein bewegen, damit das Tier sich durch die Steine winden konnte, um Beute zu machen. Am Rücken hing ein dünner Schwanz. Er war so dürr, dass er mit den Haaren schaukelte. Am Ende des Schwanzes war eine runde Kugel angebracht. Damit klopfte das Tier auf den Boden, um kleine Käfer und Spinnen aufzuscheuchen.
Das Tier hatte fünf Beine. Angeordnet waren sie wie die Finger einer Hand. Auch die Länge der einzelnen Beine, die alle unter dem Kopf hingen und sich nach hinten drehten, entsprach der Länge von verschiedenen Fingern. Die Zehen waren schwarz und bildeten glänzende, spitze Krallen, damit die Beute festgehalten werden konnte. An der Spitze des Kopfes hingen noch an jeder Seite zwei längere Arme, die auch versehen waren mit den Drüsen und Haaren. An den Spitzen der langen Fangarme, die in der Mitte von jeweils drei schwarzen Sehnen unterbrochen wurden, hingen Scheren, um die Panzer anderer Tiere knacken zu können.
Lange Schleimfäden hingen am Maul, das ansonsten zahnlos war. Es war rund und hatte keine Lippen. Dahinter lag ein innerer Schlauch für die Aufnahme der Nahrung. Die Zunge war in der Mitte geteilt. Darauf lagen auch kleine Haare, damit das Tier, wenn es noch nicht satt war, die Nahrung würgen konnte, um sie noch einmal zu verspeisen.
Die innere Haut des Rachens war scharlachrot. Kleine Poren darin konnten sich öffnen und schließen, um die aufgenommene Speise mit Speichel weicher zu machen. Die Nahrung lief also von den Beinen oder Armen in den runden Mund, wurde von der Zunge an die Poren gerieben und eingeweicht. Dann stellte sich das Tier immer aufrecht hin, damit die Nahrung schneller in den hinteren Bereich gelangen konnte. Die Rückenglieder, die es auch innen gab, bewegten sich gegeneinander und verdrehten sich wie nasse Zahnräder, so dass die Nahrung in den Magen gelangen konnte. Der Magen war ein Dottersack, in dem die weiche Nahrung zerkleinert und aufgenommen wurde in ähnliche Poren wie im Rachen.
Wenn das Tier noch nicht satt war, dann stellte es sich auf seine Scheren auf und ließ mit entgegengesetzten Bewegungen der Rückenglieder die Nahrung durch den Körper zurück laufen. Aus Poren glitten entnommene Teile zurück, damit am Ende wieder die ganze unverbrauchte Nahrung vor dem Tier stand. Dann fraß es erneut auf die beschriebene Weise. Und wurde es wieder nicht satt, dann wiederholte es den ganzen Ablauf und so fort.
Das Gesicht des Tieres bestand aus dem beschriebenen Mund, es hatte keine Nase. Es atmete auch nicht. Die Augen waren sehr groß geraten und standen ein wenig hervor, um Beute schneller zu finden. Ansonsten glichen die Augen des Tieres einem alltäglichen Blick. Überhaupt schien das Gesicht insgesamt nicht genau das eines Tieres zu sein.
Das Tier war einzigartig. Es gab kein anderes dieser Art. Seine Manieren waren sicher nicht die besten, aber essen mussten eben alle. Und Nahrung wurde immer knapper in der Wüste. Das Tier presste den Mund weit auseinander, so dass er sich über den ganzen Kopf erstreckte. Die Arme drückten den Kopf und den Leib in den Magen, dass sie selbst darin verschwanden.
So konnten die Stacheln es nicht verletzen. Dann schob sich der Schwanz verkehrt herum in die hungernde Öffnung. Am Rücken, der von innen hineingezogen wurde, kletterten die Beine entlang (sie waren wie Finger gegliedert), schoben alles auseinander und krochen in die Schwärze. Dann lag das Tier im eigenen Magen satt in der Wüste und sah den Panther, der es all die Jahrhunderte verfolgt hatte.
Würde es noch einmal hungrig sein, dann könnte es den Vorgang ja umkehren und wiederholen. Das Tier schlief glücklich ein. Der Magen rutschte unter einen Stein.
Indes wurden die Käfer unter dem Stein sehr satt durch das wehrlose Tier. Alle waren zufrieden.
Die Geschichte hatte der Todgeweihte vor langer Zeit in der Abtei gehört, bevor sein Leben sich für immer verändert hatte. Er war das Tier, und der Panther folgte ihm. Als die Hülle zurückblieb, nahm sie ein Pferd und ritt nach Bretonia.
Alea iacta est.
Die Würfel sind gefallen!
Die Würfel sind gefallen!
Re: Ein scharlachroter Tod
Epilog: Am Scheideweg
Die neuen Sendboten
Akina hatte Maila um etwas Wasser, eine Schale und eine einfache Kanne gebeten. Dann hatte sie ein kleines Feuer entzündet, das Wasser aufgekocht und ihre Teekräuter hineingegeben. Der Tee schmeckte nicht wie früher, denn Daisuke hatte ihn immer zubereitet. Jetzt, ohne ihn, schmeckte er fad. Aber seine Wirkung verfehlte er nicht. Die Geisha aus dem Land jenseits des Gelben Meeres sah im aufsteigenden Rauch einen Jungen, der Belfos genannt wurde. Er berichtete einer Frau alles, was er über Jorgan und Pytharas wusste. Doch der Rauch wurde dichter, und Akina konnte ihn nicht mehr sehen. Stattdessen sah sie ein ihr unbekanntes Wesen. Es ähnelte Heron, dem kleinen Mann, der Albertus im Archiv half. Doch auf seiner Haut waren seltsame Zeichen. Es war ihr, als würde Uruku, so sein Name, sie auch sehen, während er in ein Feuer blickte, umgeben von anderen seiner Art. Dann zeigte seine Hand auf einen kleinen Bachlauf, und Akina folgte ihr mit ihrem trüben Blick, denn der Tee war ihr schwer zu Kopfe gestiegen.
Sie sah einen anderen. Akina erinnerte sich an das, was sie von den Seefahrern gehört hatte. Der Fremde war ein Hun. Er stand am Bug eines Schiffes, das über die Wellen flog wie ein Delphin.
"Yassir, wir sind bald eingetroffen. Was willst du tun, wenn wir die Küste erreicht haben?", fragte jemand. Akina verstand alles.
"Es gibt eine Frau, die sich in diesem Land versteckt. Ihr Herz ist kalt und aus Stein, ihre Seele ist dunkel. Ihr Name ist Khelain."
"Willst du sie töten?"
"Nein... ich will sie retten."
Ricardus Schwarzstern ist auf der Suche
Er brauchte Zhaerius nicht mehr, und Zhaerius war nicht mehr. Sein geliebtes Gefäß war verbraucht. Er hatte es verzehrt wie die Würmer die Toten fraßen - mit dem Unterschied, dass Zhaerius noch lebendig gewesen war. Und Ricardus Schwarzstern war wieder ohne Form, ohne Materie. Sein hohes Ziel hatte er verfehlt. Weder war Zada in seiner Gewalt noch war es ihm gelungen, die Hand aufzuhalten. Die Omenmaschine war immer noch nicht entdeckt, und mit dem Erscheinen Khelains und dem Erwachen des Jägers aus der Kälte schienen alle Ziele so weit entfernt wie nie. Wie würde er die Tür öffnen, die ihn von dem trennte, was sein eigentliches Ansinnen war? Die vier Reiter waren gekommen und umgarnten nun die vier Säulen. Und die vier alten Sendboten waren beinahe bereit, die vier neuen Sendboten zu den Trägern aller Geheimnisse zu machen. Und Ricardus? Er trieb umher wie ein Blatt im Wind. Er war nicht mehr der Mann in Schwarz. Er war nur noch er selbst.
Der Herr der Plagen breitete seine schwarzen unförmigen Schwingen aus und flog durch die Nacht. Es war ihm Gewissheit, dass jene, die ihn jagten, ihn in seinem Hain zuerst suchen würden. Und genau das war sein Ziel, damit rechnete er. Wenn sie die wahre Identität der vier Reiter der Hand erkennen würden, sie würden ganz zuerst die Stimme bergen wollen.
"Wer ist dort, ich sehe dich nicht", sagte sie.
"Ich bin es nur, mein Kind, ich bin zurück. Du wirst etwas für mich tun."
"Was verlangst du?"
"Rufe mir den Salamander."
Caldorvan erkennt sich selbst
Der Untote war geflohen. All sein Streben hatte sich gegen seinen Sohn Aran und gegen das Reich und seine Königin gerichtet. Aber sie hatten ihn vertrieben. Seine Braut Khelain fasste seine Hand und sah ihn an. Es war ihm, als würde sie durch das schwarze Visier direkt in seine toten Augen und in das schauen können, was einst Caldorvan von Torbrin gewesen war.
"Wir werden siegen. Ich werde gleich noch aufbrechen und die Krankheit in die Flüsse des Landes spülen. Auf dass sie alle eins mit dir und mir werden", sagte sie.
"Theresia. Ist sie tot?"
"Sorge dich nicht darum..."
Doch Caldorvan zog seine Hand zurück und packte Khelain an den Armen. "All mein Streben galt ihr. Galt dem, was mein ist. Also, sage mir: Ist sie tot, habe ich gewonnen?"
"Schau in dein Herz."
"Da ist kein Herz, Khelain. Ich spüre nichts. Selbst Leban spüre ich nicht. Hatte ich denn nicht seinen Segen, bin ich denn nicht seine Hand?"
"Schau in mein Herz, Caldorvan", antwortete die Krähenfrau.
"Auch dort sehe ich kein Herz. Wir sind nur Schatten dessen, was wir waren. Was also redest du da?", fragte er mit Zorn in der kalten Stimme.
Nun berührte sie seine Brust. Es war ihm, als würde sie durch den Panzer auf seine abgestorbene Haut fassen. "Du bist nicht Caldorvan, denn Caldorvans Leichnam ruht tief unter dem Land. Schon seit Jahren. Seit er im Bürgerkrieg gestorben ist. Es war Phaeron, der ihn bestattet hat. Du bist nicht Caldorvan."
Es war ihm, als hätte er es immer gewusst. Als wären all die Erinnerungen nur Schatten gewesen. Dinge, die er geglaubt, aber nie gewusst hatte. "Was bin ich?"
"Du bist Krankheit. Und deine Brüder sind Tod, Hunger und Krieg. Und ihr gehört mir."
Die Omenmaschine ist auf der Reise
Tausend Stimmen hörte die Maschine. Alle Götter sprachen zu ihr, ohne Unterlass und ohne ihr die Möglichkeit zu geben, die Bilder in Worte zu formen. Immer nur ein kleiner Teil drang von ihren Ohren auf ihre Zunge und in den Mund, damit die Worte der himmlischen Herren zu Taten werden würden. Worte, die vorher eine andere Maschine gesprochen hatte. Und als diese ihr Werk vollendet hatte und tief unter Eis und Schnee begraben worden war, da wusste die neue Omenmaschine, dass es nun an ihr wäre, den Kreis zu schließen und das Große Geheimnis zu beschützen. Sie kannte die Namen derer, die aus der Gleichung entfernt werden mussten und auch die Namen derer, die einen Unterschied machten. Und sie wusste, dass sie niemals sicher wäre, solange Khelain, die Hand, der Salamander, der Schwarzstern und der Jäger aus der Kälte und sein Winterkönig keinen Frieden schlossen.
Und Frieden war noch nie so fern wie jetzt.
Die Omenmaschine wanderte durch das Mathricodon wie das Wasser durch die Bäche und Flüsse, auf der Suche nach ihrem Nachfolger, der die neuen Sendboten gegen die Vier einsetzen würde.
"Manchmal ist die Zukunft der Prolog zur Gegenwart...", flüsterte die Maschine. Ihre Worte hallten durch das Mathricodon.
Gwayan untersucht eine Pflanze
Nachdem Gwayan mit den Skjöldburern gesprochen hatte und auch Argan die Gelegenheit gegeben hatte, mit ihnen zu reden, sah er wieder zu ihm. "Argan, du musst mir von allem berichten. Wie können wir den Ausgleich zwischen den Elementen schaffen? Die Welt wird enden, wenn wir nichts unternehmen. Und es gibt eines, das wichtiger ist als alles andere: Sage mir den Namen des Jägers aus der Kälte. Wenn er des Salamanders Bruder ist... nun... wie kann das sein?"
"In diesen Geschehnissen haben viele etwas gemeinsam, Gwayan. Sie sind Bruder und Schwester, Mutter und Sohn oder sogleich alles davon."
Gwayan murrte leise. "Das ist keine Antwort. Spann mich nicht auf die Folter, Argan von Giltheas!"
"Was, wenn ich dir sagte, dass nichts ohne Grund geschieht und vieles davon schon einmal auf andere Weise geschah?"
Gwayan kannte den Zyklus von Blyrtindur. "Der Zyklus ist gebrochen worden, schon vor einigen Jahren."
"Davon spreche ich nicht. Schau, ich will es dir zeigen..."
Der alte Mann öffnete eine Tür und kletterte vorsichtig eine Stiege hinab. Gwayan befahl dem Elementar, gemeinsam mit der Alten Krähe oben in der Halle zu warten, bevor er Argan folgte. Unter der Halle war eine kleine Kammer. Hier war es viel wärmer, und ein Feuer brannte in der Mitte. Der Rauch stieg durch einen schmalen Kamin nach oben in die eisigen Felsen des Berges, an dem der Tempel errichtet worden war. Argan zeigte auf ein Gefäß aus Marmor. Darin wuchs eine Pflanze heran. Gwayan kannte alle Schätze der Erde. Es war keine besondere Pflanze; sie war in jeder Hinsicht gewöhnlich.
"Was ist das?", fragte Argan.
"Eine Pflanze..."
"Zukunft und Vergangenheit. Genau wie sie auch Gegenwart ist."
"Das ist wieder keine Antwort", erwiderte Gwayan.
"Oh, und ob es eine ist. Wenn diese Pflanze nicht mehr ist, dann wird aus ihren Samen eine neue Pflanze. Und doch ist die Mutter immer noch da..."
Gwayan nickte langsam. "Weil aus den Samen dieselbe Pflanze wächst."
"Und so ist es auch mit dem Salamander, dem Jäger aus der Kälte und vielen anderen. Es begann, als die Träume in die Welt fielen."
"Was begann?"
"Die Wiedergeburten..."
Bevor Gwayan eine weitere Frage stellen konnte, spürten beide eine Erschütterung. "Warte hier unten, Argan, ich brauche dich noch!", rief Gwayan und eilte hinauf in die Halle, wo Eissplitter von der Decke stürzten.
"Was ist passiert?"
"Wir werden angegriffen", rief die Alte Krähe.
Die Elementare eilten hinaus. Gwayan und Garsils Elementar folgten ihnen.
Vor dem Tor versammelte sich das Eis. Es waren Tausende...
Die neuen Sendboten
Akina hatte Maila um etwas Wasser, eine Schale und eine einfache Kanne gebeten. Dann hatte sie ein kleines Feuer entzündet, das Wasser aufgekocht und ihre Teekräuter hineingegeben. Der Tee schmeckte nicht wie früher, denn Daisuke hatte ihn immer zubereitet. Jetzt, ohne ihn, schmeckte er fad. Aber seine Wirkung verfehlte er nicht. Die Geisha aus dem Land jenseits des Gelben Meeres sah im aufsteigenden Rauch einen Jungen, der Belfos genannt wurde. Er berichtete einer Frau alles, was er über Jorgan und Pytharas wusste. Doch der Rauch wurde dichter, und Akina konnte ihn nicht mehr sehen. Stattdessen sah sie ein ihr unbekanntes Wesen. Es ähnelte Heron, dem kleinen Mann, der Albertus im Archiv half. Doch auf seiner Haut waren seltsame Zeichen. Es war ihr, als würde Uruku, so sein Name, sie auch sehen, während er in ein Feuer blickte, umgeben von anderen seiner Art. Dann zeigte seine Hand auf einen kleinen Bachlauf, und Akina folgte ihr mit ihrem trüben Blick, denn der Tee war ihr schwer zu Kopfe gestiegen.
Sie sah einen anderen. Akina erinnerte sich an das, was sie von den Seefahrern gehört hatte. Der Fremde war ein Hun. Er stand am Bug eines Schiffes, das über die Wellen flog wie ein Delphin.
"Yassir, wir sind bald eingetroffen. Was willst du tun, wenn wir die Küste erreicht haben?", fragte jemand. Akina verstand alles.
"Es gibt eine Frau, die sich in diesem Land versteckt. Ihr Herz ist kalt und aus Stein, ihre Seele ist dunkel. Ihr Name ist Khelain."
"Willst du sie töten?"
"Nein... ich will sie retten."
Ricardus Schwarzstern ist auf der Suche
Er brauchte Zhaerius nicht mehr, und Zhaerius war nicht mehr. Sein geliebtes Gefäß war verbraucht. Er hatte es verzehrt wie die Würmer die Toten fraßen - mit dem Unterschied, dass Zhaerius noch lebendig gewesen war. Und Ricardus Schwarzstern war wieder ohne Form, ohne Materie. Sein hohes Ziel hatte er verfehlt. Weder war Zada in seiner Gewalt noch war es ihm gelungen, die Hand aufzuhalten. Die Omenmaschine war immer noch nicht entdeckt, und mit dem Erscheinen Khelains und dem Erwachen des Jägers aus der Kälte schienen alle Ziele so weit entfernt wie nie. Wie würde er die Tür öffnen, die ihn von dem trennte, was sein eigentliches Ansinnen war? Die vier Reiter waren gekommen und umgarnten nun die vier Säulen. Und die vier alten Sendboten waren beinahe bereit, die vier neuen Sendboten zu den Trägern aller Geheimnisse zu machen. Und Ricardus? Er trieb umher wie ein Blatt im Wind. Er war nicht mehr der Mann in Schwarz. Er war nur noch er selbst.
Der Herr der Plagen breitete seine schwarzen unförmigen Schwingen aus und flog durch die Nacht. Es war ihm Gewissheit, dass jene, die ihn jagten, ihn in seinem Hain zuerst suchen würden. Und genau das war sein Ziel, damit rechnete er. Wenn sie die wahre Identität der vier Reiter der Hand erkennen würden, sie würden ganz zuerst die Stimme bergen wollen.
"Wer ist dort, ich sehe dich nicht", sagte sie.
"Ich bin es nur, mein Kind, ich bin zurück. Du wirst etwas für mich tun."
"Was verlangst du?"
"Rufe mir den Salamander."
Caldorvan erkennt sich selbst
Der Untote war geflohen. All sein Streben hatte sich gegen seinen Sohn Aran und gegen das Reich und seine Königin gerichtet. Aber sie hatten ihn vertrieben. Seine Braut Khelain fasste seine Hand und sah ihn an. Es war ihm, als würde sie durch das schwarze Visier direkt in seine toten Augen und in das schauen können, was einst Caldorvan von Torbrin gewesen war.
"Wir werden siegen. Ich werde gleich noch aufbrechen und die Krankheit in die Flüsse des Landes spülen. Auf dass sie alle eins mit dir und mir werden", sagte sie.
"Theresia. Ist sie tot?"
"Sorge dich nicht darum..."
Doch Caldorvan zog seine Hand zurück und packte Khelain an den Armen. "All mein Streben galt ihr. Galt dem, was mein ist. Also, sage mir: Ist sie tot, habe ich gewonnen?"
"Schau in dein Herz."
"Da ist kein Herz, Khelain. Ich spüre nichts. Selbst Leban spüre ich nicht. Hatte ich denn nicht seinen Segen, bin ich denn nicht seine Hand?"
"Schau in mein Herz, Caldorvan", antwortete die Krähenfrau.
"Auch dort sehe ich kein Herz. Wir sind nur Schatten dessen, was wir waren. Was also redest du da?", fragte er mit Zorn in der kalten Stimme.
Nun berührte sie seine Brust. Es war ihm, als würde sie durch den Panzer auf seine abgestorbene Haut fassen. "Du bist nicht Caldorvan, denn Caldorvans Leichnam ruht tief unter dem Land. Schon seit Jahren. Seit er im Bürgerkrieg gestorben ist. Es war Phaeron, der ihn bestattet hat. Du bist nicht Caldorvan."
Es war ihm, als hätte er es immer gewusst. Als wären all die Erinnerungen nur Schatten gewesen. Dinge, die er geglaubt, aber nie gewusst hatte. "Was bin ich?"
"Du bist Krankheit. Und deine Brüder sind Tod, Hunger und Krieg. Und ihr gehört mir."
Die Omenmaschine ist auf der Reise
Tausend Stimmen hörte die Maschine. Alle Götter sprachen zu ihr, ohne Unterlass und ohne ihr die Möglichkeit zu geben, die Bilder in Worte zu formen. Immer nur ein kleiner Teil drang von ihren Ohren auf ihre Zunge und in den Mund, damit die Worte der himmlischen Herren zu Taten werden würden. Worte, die vorher eine andere Maschine gesprochen hatte. Und als diese ihr Werk vollendet hatte und tief unter Eis und Schnee begraben worden war, da wusste die neue Omenmaschine, dass es nun an ihr wäre, den Kreis zu schließen und das Große Geheimnis zu beschützen. Sie kannte die Namen derer, die aus der Gleichung entfernt werden mussten und auch die Namen derer, die einen Unterschied machten. Und sie wusste, dass sie niemals sicher wäre, solange Khelain, die Hand, der Salamander, der Schwarzstern und der Jäger aus der Kälte und sein Winterkönig keinen Frieden schlossen.
Und Frieden war noch nie so fern wie jetzt.
Die Omenmaschine wanderte durch das Mathricodon wie das Wasser durch die Bäche und Flüsse, auf der Suche nach ihrem Nachfolger, der die neuen Sendboten gegen die Vier einsetzen würde.
"Manchmal ist die Zukunft der Prolog zur Gegenwart...", flüsterte die Maschine. Ihre Worte hallten durch das Mathricodon.
Gwayan untersucht eine Pflanze
Nachdem Gwayan mit den Skjöldburern gesprochen hatte und auch Argan die Gelegenheit gegeben hatte, mit ihnen zu reden, sah er wieder zu ihm. "Argan, du musst mir von allem berichten. Wie können wir den Ausgleich zwischen den Elementen schaffen? Die Welt wird enden, wenn wir nichts unternehmen. Und es gibt eines, das wichtiger ist als alles andere: Sage mir den Namen des Jägers aus der Kälte. Wenn er des Salamanders Bruder ist... nun... wie kann das sein?"
"In diesen Geschehnissen haben viele etwas gemeinsam, Gwayan. Sie sind Bruder und Schwester, Mutter und Sohn oder sogleich alles davon."
Gwayan murrte leise. "Das ist keine Antwort. Spann mich nicht auf die Folter, Argan von Giltheas!"
"Was, wenn ich dir sagte, dass nichts ohne Grund geschieht und vieles davon schon einmal auf andere Weise geschah?"
Gwayan kannte den Zyklus von Blyrtindur. "Der Zyklus ist gebrochen worden, schon vor einigen Jahren."
"Davon spreche ich nicht. Schau, ich will es dir zeigen..."
Der alte Mann öffnete eine Tür und kletterte vorsichtig eine Stiege hinab. Gwayan befahl dem Elementar, gemeinsam mit der Alten Krähe oben in der Halle zu warten, bevor er Argan folgte. Unter der Halle war eine kleine Kammer. Hier war es viel wärmer, und ein Feuer brannte in der Mitte. Der Rauch stieg durch einen schmalen Kamin nach oben in die eisigen Felsen des Berges, an dem der Tempel errichtet worden war. Argan zeigte auf ein Gefäß aus Marmor. Darin wuchs eine Pflanze heran. Gwayan kannte alle Schätze der Erde. Es war keine besondere Pflanze; sie war in jeder Hinsicht gewöhnlich.
"Was ist das?", fragte Argan.
"Eine Pflanze..."
"Zukunft und Vergangenheit. Genau wie sie auch Gegenwart ist."
"Das ist wieder keine Antwort", erwiderte Gwayan.
"Oh, und ob es eine ist. Wenn diese Pflanze nicht mehr ist, dann wird aus ihren Samen eine neue Pflanze. Und doch ist die Mutter immer noch da..."
Gwayan nickte langsam. "Weil aus den Samen dieselbe Pflanze wächst."
"Und so ist es auch mit dem Salamander, dem Jäger aus der Kälte und vielen anderen. Es begann, als die Träume in die Welt fielen."
"Was begann?"
"Die Wiedergeburten..."
Bevor Gwayan eine weitere Frage stellen konnte, spürten beide eine Erschütterung. "Warte hier unten, Argan, ich brauche dich noch!", rief Gwayan und eilte hinauf in die Halle, wo Eissplitter von der Decke stürzten.
"Was ist passiert?"
"Wir werden angegriffen", rief die Alte Krähe.
Die Elementare eilten hinaus. Gwayan und Garsils Elementar folgten ihnen.
Vor dem Tor versammelte sich das Eis. Es waren Tausende...
Alea iacta est.
Die Würfel sind gefallen!
Die Würfel sind gefallen!