Der Bezwinger der Meere
"Wenn die Torbrins weitere Lords um sich scharen, dann ist es vorbei, mein Prinz", sagte Sir Roan, während er und seine Getreuen den Zug des jungen Prinzen sicherten.
Der junge Bretone saß sicher auf dem Ross, das musste man ihm wohl lassen. Ob er mit dem Schwert auch so geschickt war? Nun, bald würde er sich beweisen müssen. Rokil hatte am Herdfeuer berichtet, der Bursche hätte ihn und die Ältesten beeindruckt. Na, dann würde das wohl stimmen, und die Nordmannen zogen für den Richtigen in die große Schlacht gegen die Torbrinschlange.
"Dann gehen wir unter. Aber ich werde ihm niemals das Reich kampflos übergeben, Sir Roan!", rief der junge Prinz selbstbewusst.
Ein anderer Ritter sprach. "Richtig so, Prinz Lerhon! Wir werden siegen, das verspreche ich!"
Lerhon nickte. "Mit den Göttern, Sir Martus." Dann ritt er durch die Reihen seines Heeres, vorbei an den anderen loyalen Rittern, den Freischärlern und Bognern, den Fledderern und Armbrustern, am Ende hielt er bei den Nordmannen, und er sah dem Bezwinger der Meere in die Augen. "Und Ihr, mein Freund, seid Ihr bereit?"
"Wir kamen als Plünderer. Rokil hat uns geeint. Nun werden wir dein Reich retten, junger Prinz", sagte er entschlossen. Auf dem Thing hatte Rokil ihn und die anderen auf den Kampf eingeschworen und ihnen versichert, dass sie eines Tages belohnt werden würden. Mit der Feste Nordstein und den Ländereien der Lande des bretonischen Nordens. Der Bezwinger der Meere hatte jeden Winkel der Welt befahren, vielleicht war es nun, in seinen alten Tagen, an der Zeit, sich ein Fleckchen Erde zu suchen. Seine Mannen waren bereit, ihm auch jetzt zu folgen.
"Ich danke euch allen! Für das Land, für den Frieden, für die Ehre!", rief Lerhon, erhob die Klinge, die im Licht der Sonne glänzte. Sein Falke kreiste hoch über dem Heer, und die Mannen schlugen auf ihre Schilde, brüllten den Namen des Prinzen und erwarteten den Feind.
Die Reihen der Torbrins rückten geschlossen vor. Bald folgte das Zeichen für die Schützen beider Seiten. Pfeile schossen wie Hagel durch die Lüfte, gaben ein ächzendes Surren von sich, schlugen in Schild und Mann. Kurz darauf war das Abtasten vorüber; da stürmten schon die Reiter los, und Lanzen brachen, Rüstungen zersplitterten, Rösser und Reiter wurden aufgespießt, während die Fußtruppen schon in Marsch gesetzt wurden. Stahl schlug gegen Stahl, Beile flogen in Schädel, Schwerter durchbohrten Freund wie Feind. Am Ende waren Blut, Schlamm und Staub Zeuge einer weiteren Schlacht in diesem Bürgerkrieg geworden.
"Mein Prinz, wir haben etwas gefunden", sagte Sir Roan.
"Was?"
"Der Bezwinger der Meere fand einen Knaben."
Lerhon knurrte. "Schicken sie uns schon Kinder?"
"Das allein ist nicht neu", murmelte Sir Martus, "aber dieser hier ist wertvoll."
Lange wurde beraten ob des Fundes. Was hatte sich der alte Caldorvan nur dabei gedacht?
"Wollt Ihr dies für mich tun?", fragte ihn der Prinz, nachdem die Wahl auf ihn gefallen war.
"Lieber würde ich in die nächste Schlacht ziehen. Aber Rokil sagt, es ist wichtig. Ja, ich werde es tun", antwortete der Bezwinger der Meere.
Am nächsten Tag brach er auf und fuhr wieder zur See, den Fund bei sich tragend.
Heute fuhr er immer noch.
Der Unglücksrabe
Seine Ernte hatte die Wetterhexe Edais verdorben, das war schon einige Jahre her. Damals hatte man Sir Lucius geschickt, den Fall zu untersuchen. Der Unglücksrabe hatte gehofft, die Drachenritter würden sich der Sache annehmen, aber man hatte wohl Wichtigeres zu tun als sich um die Not der Bauern zu sorgen. Und Sir Lucius hatte keinen Erfolg, hieß es irgendwann. Nur ein Tag war vergangen, seit der Ritter Edai wieder verlassen hatte, da hatte es plötzlich aufgehört. Nur sein Feld, das hatte die Hexe noch zerstört.
Das Pech verfolgte ihn stets. Als er als Feldarbeiter hatte überleben wollen, bei einem Nachbarn, hatte man ihn des Diebstahls beschuldigt. Dabei hatte er nichts getan! Im hohen Bogen hatte man ihn rausgeworfen, und er war Tagelöhner an der Werft im Norden geworden. Die Trunksucht hatte ihn gepackt, sodass er eines Tages eine ganze Ladung versenkt hatte, weil er am Abend vorher zu viel gesoffen hatte. Dass man ihn zum Trinken verführt hatte, das war irgendein mieser Nordmann gewesen, hatte natürlich nicht interessiert. Sein Weib war schon längst krank geworden und gestorben, und sein Sohn war in die weite Welt hinaus gegangen, um irgendwo sein Glück zu finden.
Was blieb ihm also noch, als sich irgendwo zu verdingen? Da war es ein glücklicher Umstand, dass Lord Dryr nach dem Verschwinden der Drachenritter das Land eingenommen hatte und überall nach weiteren Soldaten suchte. Der Sold war annehmbar, die Unterbringung kein Palast, aber wenigstens ein Zelt, das er sich mit drei anderen teilen musste.
Aber dann, als der Truchsess irgendwo auf See ums Leben gekommen war, da brach dieser vermaledeite Krieg aus. Lord Dryr hatte zweimal die Seiten gewechselt. Ihm, dem Unglücksraben, war das egal. Er bekam seinen Sold, und da scherte es ihn nicht, wen er dafür bekämpfen sollte. Wenigstens etwas Silber und Fressen. Seine Ansprüche waren doch bescheiden geworden.
"Sie werden keine Gefangenen machen. Die Blodhord ist bei ihnen. Sie werden euch überrennen wollen, alle töten, und eure Leichen werden sie nicht bestatten, sondern verspeisen. Flieht nicht, denn sie werden euch bis ans Ende der Welt jagen; ergebt euch nicht, denn sie werden keine Gnade zeigen. Ihnen sind Worte wie Ehre und Gnade so fremd wie ritterliche Tugenden!", hatte Lord Dryr sie eingeschworen.
Da stand er nun. Edailech sollte er verteidigen. Ausgerechnet Edailech. Jeder kannte ihn dort. Vielleicht würde er seine Ehre herstellen können, wenn er heldenhaft kämpfte. Als die ersten Heerscharen des Feindes einfielen, Halbriesen und Vendus, da schickte er schnell einige Frauen und Kinder in die Taverne, ließ die Türen verrammeln und stellte sich in die erste Reihe.
Den ersten Schlägen konnte er ausweichen, und er schaffte es, einen Vendu zu erlegen. Nordmannen folgten der Blodhord, dazu kamen diese Leute von der Nachtwache, Nordmärker, Zwerge und diese Pfeile des Waldes. Einen jungen Burschen erschlug er im Lauf, doch er wurde unachtsam, stolperte über die eigenen Füße und stürzte.
Zuletzt sah er die Klinge einer schwarz gekleideten Nordfrau, dann glaubte er, hinter ihr einen Dämon zu erkennen und sah sich bereits in der Hölle, während er seinen Atem aushauchte.
"Passender hätte es nicht enden können", sagte eine kalte Stimme.
"Wo bin ich?"
"Mein Name ist Caldorvan. Willkommen, Unglücksrabe. Deine Pechsträhne ist vorbei."
Baelon
Seine Glieder schmerzten, als zwei Untote ihn aufrichteten. Zahllos war die schwarze Horde, die ihn aus schwarzen Augen und mit schwarzen Seelen betrachtete. War nun seine Stunde gekommen? Er konnte sich nicht vorstellen, dass Caldorvan ihn gehen lassen würde. Vermutlich würde der Untote ihn nun doch zu einem Teil seiner Armee werden lassen. Was für ein klägliches Ende. Er hätte mehr tun müssen! Baelon wünschte sich, Petyr mit eigenen Händen vor den Augen des Volkes getötet zu haben, genau wie seine verhasste Schwester Irinia. Er hätte den Widerstand führen müssen, hätte Sir Roymar nicht hinhalten sollen, sondern mit aller Macht gegen Bretonia ziehen sollen. Nun war es zu spät. Roymars Mannen zogen unter Grauwinds Banner, unter dem Banner der Angst. Und Thaira? Hätte er sie nicht retten können? Hätten sie nicht fliehen sollen, so wie er es einst vorgeschlagen hatte? Wie würde man sich an Lord Baelon erinnern? An den, der zögerte. An den Feigling, der das Reich nicht retten konnte.
"Ihr seid frei, Lord Baelon", knurrte einer der Untoten, und Baelon glaubte, ihn zu erkennen.
"Sir Marryn, seid Ihr es?"
"Ein anderes Leben, Mylord."
Baelon nickte langsam. "Es tut mir leid. Ich hätte es verhindern müssen."
"Lebans Wege verhindert man nicht. Geht nun."
Marryn reagierte nicht weiter. Zwei andere gaben ihm ein Pferd, seine Waffen und seine Rüstung. Sie eskortierten ihn bis Nobs Stall, wo Baelon etwas Proviant erstehen konnte und gen Norden zog. Er ritt durch das verwüstete Land, vorbei an brennenden Leichenbergen, bis er Edailech erreichte. Nordmannen und Zwerge grüßten ihn schweigend. Am Fluss nahm er eine Fähre, um schließlich bis Tilhold zu reiten. Dort lief er schnell in die Taverne, begrüßte Ephyre und den Lethos und nahm seine Nichte in die Arme.
"Onkel Baelon, bist du es wirklich?"
"Ja, Alysare, ich bin es. Geht es dir gut?"
Sie nickte und lächelte. "Hier sind alle gut zu mir."
"Du warst auch krank, wie ich. Aber man hat uns gerettet. Und bald müssen wir ein ganzes Reich retten. Du musst weiter stark sein."
"Ja, das werde ich. Hast du auch das goldene Schwert gesehen, Onkel?"
"Ja, das habe ich."
"Und hast du auch von dem hellen Licht geträumt?", fragte sie dann.
Baelon stutzte. "Ich erinnere mich nicht. Erzähl mir davon."
Nachdem Alysare berichtet hatte, erhob sich Baelon. "Ich muss mit der Hetfrau und den anderen sprechen", sagte er zu einem Nordmann.
"Die sind im Süden unterwegs. Aber die Hetfrau ist hier. Folge mir."
"Lord Baelon, er hat Euch gehen lassen", sagte Branda.
"Ja. Und ich muss umgehend mit Euch sprechen. Es geht um Sicarion Grauwind."
Lucius
Der verfluchte Untote war mächtig. Trar wünschte sich, Giltheas hätte die Kontrolle über dieses Monstrum behalten. Wenn dies wirklich Caldorvan von Torbrin war, dann hatte er den strategischen Verstand behalten, aber war umso stärker geworden. Seine Untoten wuchsen nach wie Unkraut. Kaum dass einer von Witrins Verteidigern fiel, stand er als Untoter in Caldorvans Reihen wieder auf. Nur die Werwölfe waren immun gegen diese schwarze Sieche, die schlimmer war als alles, was Lucius je gekannt hatte.
Und er hatte wirklich viel gesehen. Abgesehen von den zweifellosen Wundern und Geheimnissen der Grünen Magie, abgesehen von seiner eigenen Verwandlung in den Wolf und den Ereignissen im Bürgerkrieg, hatte er so viel gesehen. Plötzlich erinnerte er sich. Der Bürgerkrieg. Er hatte Seite an Seite mit dem jungen Prinzen Lerhon gekämpft. Von Schlacht zu Schlacht war er ihm und Roan und Martus gefolgt. Das war, bevor er der Hexe begegnet war und sein Leben sich vollständig geändert hatte. Bevor er die Suche nach Velthan aufgenommen hatte, die nur zu Velthans Tod geführt hatte. Bevor er erst an Giltheas Seite stand und nun in Grauwinds Heer zog, das Moorvolk an seiner Seite. Der Bezwinger der Meere hatte einen Jungen gefunden. Und genau an diesen Knaben erinnerte sich Lucius nun.
Was mochte aus dem Jungen geworden sein? Man hatte den Bezwinger und seine Mannschaft zur See geschickt, da die Torbrinflotte keine nennenswerten Schiffe mehr hatte und der Knabe dort am sichersten aufgehoben war. Doch nach all den Jahren wurden sie nimmer mehr gesehen. Gerade jetzt wäre der Bursche vielleicht ein Schlüssel, diese verdammte Belagerung zu brechen und den Untoten zu vertreiben!
Eine Wache trat ein. "Mylord?"
"Sind sie schon eingedrungen?", fragte Lucius matt.
"Nein, Mylord, aber es hat eine Entwicklung gegeben. Mutter Kelar ist zurück. Oshinya ließ sie zu uns bringen, nachdem sie im Norden war und mit den freien Frauen gesprochen hat."
"Worüber?"
"Der Grüne Golem. Er ist gefallen. Der Tempel hat sich verändert. Die Königin des Westens übt Einfluss aus."
Lucius nickte. "Ja. Ich hoffe, Grauwind wird diesen Einfluss schnell los. Ich hoffe, Mutter Kelar sieht, dass ich nur aus taktischen Gründen ihm und Roymar zur Seite stehe?"
"Ja. Jetzt, da Velthan tot ist, sieht sie ohnehin keine Hoffnung mehr für das Grün. Sie hofft, dass Ihr eines Tages Sicarion vernichten werdet."
Sicarion vernichten. Na, vielleicht sollte ich zuerst meine Burg behalten, dachte er. "Was für Entwicklungen hat es gegeben?"
"Wir haben ihn gefunden."
Lucius ließ sich alles berichten, dann gab er Befehle: "Ein Rudel soll ausbrechen und sich mit dem Moorvolk treffen. Wir müssen schnell handeln!"
Kithei
"Er ist WAS?", polterte sie.
"Bathir von Dryr ist nun König des Reiches. Starys hat ihn krönen lassen", berichtete Grimo, bevor er sich wieder verwandelte.
"Der Mörder meines Geliebten herrscht über ein Reich aus Scherben, und mehr als Scherben wird er niemals haben. Er muss sterben! Ich will seinen Kopf, und ich will sein Herz, damit ich es verzehren kann, dass mein Kind groß und stark wird."
"Beruhige dich, Schwester. Wir werden ihn kriegen", sagte Oshinya.
"Ich kann mich nicht beruhigen. Er ist weiter weg als je zuvor. Bathir von Dryr sitzt hinter ewigen Mauern einer ewigen verdammten Stadt. Mein Zorn ist groß genug, dass ich jeden Stein einzeln zerschlagen könnte, um ihn zu kriegen."
Sverka nickte. "Das wirst du. Edailech ist nicht mehr sein. Vielleicht schnappen wir uns zuerst seinen Neffen, den er zum Lord des Eisenwalls gemacht hat."
"Benutzen wir Sicarion. Meine Gefährten reisen mit ihm und den Wölfen. Man könnte ihm Bretonia schmackhaft machen", schlug Oshinya dann vor, aber Kithei interessierte sich nicht für irgendeinen Dryr, sondern nur für diesen einen, der ihren Geliebten ermordet hatte. Sie hatte so oft davon geträumt, mit ihm allein in die Ferne zu reisen, alles zu vergessen und ein Leben in Frieden und Zweisamkeit zu führen, ein Kind zu erziehen, die Welt sich selbst überlassen. Denn was gab es noch? Die Schrecken des Krieges, Tod, Blut, Elend und Mord. Ohne Marryn war das Leben so sinnlos geworden. Selbst das Mutterglück brachte ihr keine Freude mehr. "Tut, was ihr wollt. Ich werde den Wilderländern sagen, dass wir alles in die Schlacht beim Säulengang werfen müssen, was wir noch haben. Ich will in die Stadt!"
Dann schickte sie ihre Schwestern hinaus, denn ihr wurde übel. Sie übergab sich, aber ihre Kotze ließ sie einfach ins Gras sickern, während sie daneben lag. Langsam schlossen sich ihre verweinten Augen und sie träumte:
Ein Haus, einfach und schön, ein Kräutergarten und Bänke. Sie lag in Marryns Schoß, der ihr ein Lied der Minne sang und ihren Bauch liebkoste. Vögel sangen mit ihm, und Grimo tollte auf einem Hügel mit seinem Sohn Thymo herum. Es war ein gutes Leben. Aber plötzlich starben alle Vögel und die Kräuter gingen ein, als ein kalter Schatten Kithei berührte und sie an Marryns Stelle umarmte, denn Marryn war verschwunden.
"Wir sind Liebende. Und uns ist die Rache", sagte eine Stimme.
"Wer bist du?"
"Ich bin Thaira. Wollen wir zusammen sein?"
Roan
Die Schlacht tobte Tage und Nächte. Der Nachschub der Tyrells, wer auch immer nun an Ivars Stelle herrschte, nahm kein Ende. Stets folgten weitere nach, ob es nun einfache Soldaten, Golems oder Elementare waren. Feuer schlug um sich, und nicht wenige von Roans Mannen bissen ins Gras. Aber sie kämpften tapfer. Den Waldläufern hatten sich Leyris Schützen angeschlossen, genau wie die Leute von Brioless, obwohl ihr Herr immer noch ein Bleicher war. Brioless gab keine Antworten auf die vielen Fragen, die man ihm stellte, und schwarzer Obsidian zeigte immer noch keine Wirkung. So war Roan davon überzeugt, dass etwas in der Festung Wilderberg sein musste, was Brioless heilen könnte.
Die Berichte der alten Frau, die ihn aufgesucht hatte und die vorgab, Lady Glorianna zu dienen, waren glaubhaft und hoch interessant. Ja, er glaubte ihr. Nach allem, was er von Lady Glorianna wusste, so war dies nicht unbedingt unwahrscheinlich. Xenophilius berichtete ihm stets von ihren Besuchen und was sie tat. Außerdem arbeitete der Magus an einem Zauber, der das Blatt im Kampf um Wilderberg wenden konnte.
"Mylord, Sir Leyris lässt ausrichten, dass sich weitere Freischärler unserem Kampf verschrieben haben. Außerdem berichteten einige Fischer von einer Begegnung auf See", sagte Emes.
Roan runzelte die Stirn. "Welcher Fischer ist so irre und fährt jetzt noch zur See. Da lauern noch Yaruner, und sie folgen dem Verräter Roymar und dem Ketzer Sicarion. Aber, egal, was berichten sie? Ich hoffe, es ist wichtig in dieser Schlacht. In den Kernlanden lauern außerdem Caldorvans Untote, und er selbst zieht gegen Trar. Ich hoffe also, der Bericht von ein paar Anglern ändert die Lage entscheidend?"
"Entscheidet selbst. Damals war ich ein einfacher Leutnant in des Prinzen Armee. Aber auch ich erinnere mich an das, was der Bezwinger der Meere gefunden hat, Lord Carmon."
Diesen Namen hatte Roan lange nicht mehr gehört. Nach der Schlacht in den Südlanden, vor dem Sieg und seiner Ernennung zum Lordprotektor von Caldorvans Burg, hatte er das erste und letzte Mal vom Bezwinger der Meere gehört. "Er ist zurück? Nach all der Zeit?"
"Ein Geisterschiff, sagen die Leute. Doch sie sind sich sicher, dass Nordmannen an Bord waren. Die beiden Fischer hatten sogar den Mut, das Schiff eine Weile zu verfolgen. Dann verirrten sie ich im Nebel, riefen einem anderen Schiff zu, aber man drehte nicht bei", erklärte der Heermeister.
"Ich habe kein Schiff. Wir stehen hier am Abgrund, Emes. Aber jemand muss es finden. Er ist vielleicht noch dort. Das wäre eine Wende. Genau das, was wir alle brauchen in diesem Krieg. Lady Theresia wäre Königin! Und Sicarion könnte seinen König Roymar vergessen, genau wie Caldorvan seine wirren Pläne, diesen Aran zum König zu machen, was einfach lächerlich ist."
"Ich werde sehen, was ich tun kann", sagte Emes und salutierte. Er schickte einige Mannen nach Waldwacht, die sich mit Sack und Pack zur Küste aufmachen sollten.
Roan warf wieder einen Blick auf die Karte. Sicher, er könnte Tyrell in den Rücken fallen, aber für einen Marsch durch das Wilderland müsste er seine Armee aufteilen. Das Risiko war zu groß.
"Wache!"
"Mylord?"
"Schickt so viele Pfeilhagel gegen die Zinnen wie es geht. Und bereitet die Ramme vor."
"Jetzt schon?"
"Ja, jetzt schon", sagte Roan und erinnerte sich an die Augen dieses Knaben, den sie damals gefunden hatten. Sie waren wie das Meer gewesen.
Starys
"Und wie lauten die Befehle Seiner Majestät?", fragte Starys.
Bathir von Dryr lachte. "Ich mag es, wie Ihr diesen Titel aussprecht. Leicht verachtend und doch würdevoll, Sir Starys. Aber Ihr hattet keine andere Wahl. Wer sollte es sonst tun?"
"Nun, Majestät, Ihr habt Edailech verloren. Betrachtet es als den Segen der Götter, dass wir an Euch dachten, die Lücke, die schmerzliche Lücke zu füllen, die König Petyr und die Regentin Irinia hinterlassen haben."
"Und wie ich es als Segen betrachte. Ihr solltet wissen, Starys, ich hätte mir den Thron ohnehin genommen. Ob nun mit der Hilfe dieser Kitheihure oder dadurch, dass ich ihren Geliebten töte - es spielt keine Rolle für mich. Wichtig ist das Ergebnis."
Starys nickte. Er hatte tatsächlich keine andere Wahl gehabt. Dryr als Herrscher war keineswegs die ideale Lösung, aber eine starke Hand könnte jetzt dafür sorgen, dass das Reich zur Ruhe käme. Da war der Zorn Kitheis, ja, da war der Norden, natürlich. Aber wenn Dryr sich geschickt anstellen würde, könnte man mit Grauwind verhandeln, gegen Giltheas ziehen und hätte auf einen Schlag eine gewaltige Armee. Starys war bewusst, dass der Norden ihn niemals verschonen würde, nach allem, wa er getan hatte. Also musste er diesen Krieg vergrößern, um ihn zu beenden. Schon, um seine eigene Haut zu retten. "Ja, das Ergebnis zählt, Majestät."
"Findet Lord Baelon. Er soll knien und mich König nennen. Und findet diese kleine Prinzessin. Ich will beide richten. Sie sind gefährlich."
"Majestät, wenn ich Euch einen idealeren Vorschlag machen dürfte?", fragte Starys.
"Nur zu. Ich höre mir alles an, Berater", lachte Dryr.
"Gebt beiden einen Landsitz, irgendwo im Süden, wo noch nicht gekämpft wird. Man wird Euch einen Schlächter nennen, wenn Ihr ein Kind ermorden lasst. Und es würde ein Licht auf Euch werfen, dass eines Königs nicht würdig ist. Das Volk muss Euch achten."
"Es muss mich vor allem fürchten. Furcht ist eine Waffe, Starys. Versteht Ihr das etwa nicht? Wie sonst war es mir wohl möglich, dem Feind keinen einzigen Soldaten in Edailech zu überlassen?"
"Woher wusstet Ihr, dass sie nicht Eisendorf, sondern Edailech angreifen würden?", fragte Starys neugierig.
"Das will ich Euch sagen: Ich bekam einen Hinweis, dass man mich täuschen will. Grauwind hatte einen Spion in Tilhold. Man wird ihn sicher mittlerweile gefunden haben, aber er hat gute Dienste getan. Für Grauwind, aber am Ende auch für mich."
"Sicarion Grauwind hat Euch gewarnt? Warum das?"
"Spielt es eine Rolle? Schafft mir meine Ritter her, ich will mich beraten mit ihnen!"
Starys verließ den Saal. War Dryr am Ende noch irrer als Petyr? Erkannte er nicht, dass Grauwind damit Edailechs Schicksal besiegelt hatte, weil er genau gewusst haben musste, dass Dryr den Thron annehmen und damit Edailech aufgeben würde? Nein, es war unmöglich, dass Dryr dies nicht wusste. Sein Neffe Elyarn war nun Lord des Eisenwalls. Ein unerfahrener Mann, weniger blutrünstig und eher besonnen. Dryr war der Thron wichtiger als ein festes Reich, zweifellos.
Starys lief schnell in die Rüstkammer und hoffte, Sir Allyen allein anzutreffen.
"Sir Allyen, wie schön, Euch zu sehen."
Allyen knurrte. "Ihr habt einen Verrückten gegen einen Mörder ausgetauscht. Er war es, er hat Marryn erschlagen, nicht wahr?"
"Ich bitte Euch, das war in der Schlacht. Es war ein Zweikampf, und Sir Marryn hat ihn verloren."
"Was wollt Ihr?"
"Sir Allyen, ich habe eine Bitte. Es ist kein Befehl. Ich möchte, dass Ihr dem jungen Lord Dryr einen Besuch abstattet. Er soll wissen, dass eine wichtige Aufgabe vor ihm steht. Er soll Edailech in Frieden lassen, aber seine Grenzen gegen den Norden sichern. Man wird auch Eisendorf einnehmen wollen. Außerdem braucht er eine Hand, die ihn führt."
Roymar
Was würde er seiner Liebsten berichten, wenn er jemals wieder die Silberküste sehen würde, das Licht des Leuchtturms von Vanycia und die Delphine in den Wellen vor Tharos? Dass er ausgerechnet dem Schlächter von Markinos folgte, dem Brenner, dem Schänder mit den Feuerhänden, Sicarion Grauwind? Würde sie verstehen, dass er all dies tat, weil er hoffte, auf dem Wege eines Tages für Lord Baelon den Thron zu erobern? Und würde irgendjemand hier ihm noch glauben? Wieviele Gräueltaten Sicarions er noch mitansehen und mittragen müsste, das wusste Roymar nicht. Die grausamen Träume, die ihn zum König des Reiches machten, endeten nicht. Eines Tages hatte er sich sogar dabei ertappt, wie er Sicarion davon berichtet hatte.
"Gut. Ihr bereitet Euch seelisch auf Eure Aufgabe vor", war die einfache Antwort Grauwinds gewesen.
"Ich meine, Lord Baelon wäre ein gerechter König. Meinetwegen auch Lady Theresia. Stimmen sie Euch nicht zufrieden, weil sie nicht aus Tectaria kommen?"
"Wir kommen alle aus Tectaria, Sir Roymar, doch meint Ihr nicht, dass Ihr ein weiser und gerechter König wäret? Befreit das Land von der Glanplage, tötet den Hund des Eisenwalles, und alles liegt Euch zu Füßen!"
"Ich bin ein Feldherr, kein König."
Sicarion hatte darauf nicht mehr geantwortet. Roymar hatte noch gesehen, wie er Wara und Jaravhar zu sich gerufen hatte, um mit ihnen den Bau zu besprechen. Worum es sich da handelte, wusste Roymar nicht, aber täglich wurden Steine auf See transportiert, um ein unbekanntes Ziel zu versorgen. Roymar hatte Styros gefragt, ob er etwas wüsste, doch der Heermeister Caenors war entweder zu feige oder wirklich ahnungslos gewesen, denn er hatte nur den Kopf geschüttelt.
Roymar ließ sein Pferd satteln. "Proviant für einen Tag", befahl er dem Burschen.
"Wohin des Weges?", fragte Sicarion.
"Ich will sehen, wie es um Bredorf steht. Ich nehme einige Templer mit."
"Gut. Ihr zeigt Interesse."
"Natürlich tue ich das! Dort leben viele unschuldige Menschen, und Tars Wölfe machen kaum einen Unterschied zwischen Soldat und Bürger."
"Seht Ihr, so handelt ein König", spottete Sicarion und ließ ihn ziehen.
Dass Eunuchen ihm folgen würden, war Roymar bewusst. Darum ließ er die Templer allein nach Bredorf reiten und schlug irgendwann eine andere Richtung ein, bis er den geheimen Treffpunkt erreichte, den Lord Baelon ihm einst genannt hatte. Doch weder war Sir Belforr anzutreffen zur besagten Stunde noch Sir Hermos oder Sir Allyen. Er war allein. Gab es denn keine Hoffnung mehr?
"Mein König, da bist du ja", flüsterte Thaira.
"Nein, bitte lass mich endlich in Ruhe, Rachegeist! Ich werde niemals König sein!"
Nachdem der Geist der Königin ihm seine Geheimnisse genannt hatte, sah Roymar ein goldenes Schwert, und er erkannte endlich sein Schicksal.
Mercutio
Der schwarze Lord verließ den Blauen Turm, wie er gekommen war. Ohne seinen Nachtmahr, zu Fuß, und ohne Proviant. Verzicht war eine seiner leichtesten Übungen. Seine Pläne waren durch Sicarion Grauwind vereitelt worden, und er musste sich neu orientieren. Dazu gehörte die Askese, die er stets gepredigt hatte. Dies tat er, um sich für seine eigene Unachtsamkeit zu bestrafen, denn die Pläne von Jahrzehnten waren in einer einzigen Nacht zerstört worden. Der verdammte Tectarier hatte ihn überrollt, sodass er in die Ferne geflohen war. An der Nebelküste hatte er ein Schiff entdeckt, das die Yaruner zurück gelassen hatten, und er konnte endlich den Notfallplan umsetzen.
Mehrere Stunden waren sie gesegelt, bis sie endlich die Insel erreicht hatten, die Argan in seinen Aufzeichnungen als Hort des Tempels von Eis und Feuer beschrieben hatte. Aber der Tempel war nicht das Ziel von Mercutio gewesen: Es war der Schiffsfriedhof. Als er damals die Insel des Rosentempels und das Grab Cyrians besucht hatte, war es ihm gelungen, den Geist des Lethos zu rufen und ihn für einen Moment gefügig zu machen. Da hatte er die Grabstätte von Darius erfahren, und wie man sie gesichert hatte. Jahrelang hatten die Übungen gedauert, die magischen und heiligen Versiegelungen zu überwinden, die man dort angebracht hatte.
"Mylord, das ist ein Ecaloscop. Man wird sehen, was wir hier getan haben."
"Das soll man auch. Ich werde Hilfe brauchen, das Skelett zu verteidigen, wenn Grauwind oder Trar mich gefunden haben."
"Warum bitten wir nicht um Hilfe?", fragte der Heermeister der Drakoskrieger.
"Weil wir nur Leban bitten. Sie sollen denken, es wäre ihre eigene Idee, mir zur Seite zu stehen."
Als Mercutio sein Versteck erreichte, hatte man das Skelett schon vorbereitet. Er würde offenbaren müssen, was der Plan war. Doch zuvor musste er auf Zeit spielen. Er musste den Angriff riskieren, um die Leute aus dem Norden dazu zu zwingen, einzugreifen. Erst dann wären sie überzeugt.
"Hat es sich schon bewegt?", fragte er einen Mazzrarim.
Das Wesen nickte schweigend.
"Wundervoll. Welch Ironie: Eure Herren haben ihn damals in den Tod durch des Nordmanns Schwert getrieben, und heute retten wir ihn, damit er das Reich retten kann."
Bathir
Nach der Unterredung mit den Rittern ließ der König sich zwei Huren kommen. Obwohl sie willig waren, denn man belohnte sie gut, fiel er über sie her, als wären sie Schweine auf einer Festtafel. Die eine überlebte ihn nicht, die andere lag am Ende weinend in seinen Säften. Er lachte nur, warf ihr die Münzen vor die Füße und schickte sie fort. Die andere ließ er auf einem Armenfriedhof als Kriegsopfer verscharren.
Dass Sir Allyen abwesend war, kam ihm gelegen. Der alte Ritter war ihm ein Dorn im Auge. Nun, er würde Marryn bald Gesellschaft leisten dürfen. Was aus Elyarn wurde, scherte ihn auch nicht. Eisenwall würde sicher bald an den Norden gehen, doch Bathir verfolgte eigene Pläne, was das Reich betraf. Das Geschenk des Narren, die Feuerklinge, übertraf Samgard. Trotzdem musste er diese verdammte Königsklinge bekommen. Er fragte sich, weshalb diese Söldnerschlampe immer noch das Recht genoss, das Schwert der Könige zu beschützen. Sollte es nicht in des Königs Hand sein?
"Schafft mir Belforr her!"
Der Ritter betrat die Kammer, musterte nur kurz die blutigen Laken und verneigte sich. "Majestät."
"Ich habe bereits bei der Unterredung gemerkt, wie unzufrieden Ihr seid. Sagt, Sir Belforr, wieviele Ritter stehen in Wahrheit auf Lord Baelons Seite? Ich bin weniger zimperlich als es Petyr war."
"Ich weiß nicht, wovon Ihr redet, Majestät."
"Ich habe einen Auftrag für Euch. Reitet nach Bredorf und holt mir die Söldnerin Ephyre her. Sie muss Samgard dem Königshaus übergeben. Und sei es nur symbolisch."
"Mein König, sie ist nicht mehr in Bredorf. Die Söldnerin wurde von den Tyrells entführt, aber sie konnte entkommen."
"Dann will ich den Roten Narren sprechen."
"Er ist derzeit auf Reisen."
"Auf Reisen, während Carmon seine Burg belagert? Ist er verrückt? Nein, antwortet nicht. Er ist es. Gut, dann wird dieses Weib wohl im Norden sein. Reitet dort hin und holt sie her!"
"Mein König? Der Norden hat Edailech eingenommen. Die Blodhord ist dort, wie soll man Ephyre erreichen?"
"Lasst Euch was einfallen!", brüllte Bathir.
Als der König wieder allein war, da nahm er die Feuerklinge und betrachtete sie.
"Feuer", murmelte er, "wird die Verräter gefügig machen!"
Sicarion
Unzufrieden ließ er sich berichten, dass die Eunuchen am Blauen Turm geschlagen worden waren. Waren diese Tirinaither nicht friedlich und unerfahren? Offenbar hatten sie Hilfe bekommen. Einen weiteren Angriff konnte er nicht wagen, denn er hatte ebenso von Trar die Nachricht bekommen, dass Caldorvan Witrin belagerte. Der Untote durfte vorerst nicht mehr in seine Nähe kommen, das stand fest.
Also musste er einen anderen Weg finden, Giltheas aufzuspüren, um den Pakt mit der Königin des Westens zu lösen. Ein Pakt, der ihm eines Tages das Leben kosten würde, wie auch seine unsterbliche Seele sonst dem Ungeheuer gehören würde, das im nächsten Moment wieder wie die schönste Frau auf Erden war, nur um dann in all ihrer Hässlichkeit ihre Eier zu legen, woraus ihre Echsen schlüpften.
Es war vor vielen Jahren gewesen. Wegen seiner Verbindung mit der Sklavin Wara hatte man ihn aus der Kirche verbannt und anschließend exkommuniziert:
Zwar behielt er seine Fähigkeiten, aber Tectaria musste er verlassen. Dhelod und die anderen ihm loyalen Inquisitoren, Priester, Messdiener und Templer zogen mit ihm davon. Er beschloss, die Route von Liranus zu nehmen, in dieses gelobte Land, das die Frechheit besaß, sich nach seinem Entdecker Bretonia zu nennen. Ein Neuanfang vielleicht. Hoffnung gab es wenig. Doch ein Sturm ließ viele Schiffe seiner Flotte zerschellen, während ein Teil überlebte.
Sie fanden eine grüne Küste, dahinter riesige Bäume, die in der schwülen Hitze sich vom Monate anhaltenden Regen nährten. Exotische Pflanzen und Tiere, Eingeborene und Echsenwesen lebten in diesem Land. Das musste Marjastika sein. Sicarion und seine Männer erkundeten das Land nach Dingen, die sie rauben konnten, nach Schätzen und Sklaven. Doch dann, im Westen des Landes, fanden sie einen riesigen Bau. Stufenförmig stiegt das Gestein in schwindlige Höhen, und auf der Spitze des Zikkurats thronte ein goldenes Ungeheuer. In seinem Schnabel saß eine wunderschöne unbekleidete Frau mit dunkler Haut. Sie stieg hinab und erleuchtete Sicarion.
Nachdem er sie geschwängert hatte, war er so blind gewesen, dass er den Vertrag mit seinem eigenen Blut unterschrieben hatte. "Du wirst herrschen", sagte sie.
Und die Brut, die ihm von Marjastika bis hierher gefolgt war, sie waren alle seine Söhne.
"Herr?"
"Sprich, Eunuch."
Der Krieger berichtete von dem, was Mutter Kelar gesehen hatte. Nun, auf die Hexe war also doch noch Verlass. Trar hatte sie gefügig gemacht. Nun sollte der Moorlord die Sache beenden.
"Er soll Giltheas lebend zu mir bringen! Hat unsere Illusion Thairas Roymar überzeugt?"
"Er will es nun."
Caldorvan
Zufrieden betrachtete der Untote, wie sein Heer mit jedem gefallenen Menschen, der Trar diente, größer wurde. Es war fast schon bedauernswert, wie Trar seine kleine Armee ausschickte, voller Verzweiflung, um das Unausweichliche, denn es war Lebans Wille, zu verhindern. Und doch beschloss der Untote, dieses Treiben noch einige Tage schweifen zu lassen. Denn er musste die größte Armee der Welt erschaffen, um Lebans Wünsche zu erfüllen. Er, Caldorvan, war Lebans Hand. Und Lebans Hand hatte die Pflicht, das Werk des Dunklen zu erfüllen und zu vollenden. Aran, den er nun durch die simple und leere Drohung, Owen in seine Armee einzugliedern, gewonnen hatte, war nur ein Teil im Räderwerk des Todes, das Caldorvan gedachte, wie einen Totenmantel über das Land zu ziehen. Die größte Macht der Welt war er, der Untote.
"Mylord."
"Sprecht, Sir Marryn."
"Wir haben Lord Baelon ziehen lassen."
"Gut. Wir wollen unser Wort halten. Was noch?"
Marryn räusperte sich. "Einige Wölfe und Truppen Oshinyas sind ausgebrochen. Sie fliehen, wie es scheint."
"Lassen wir sie fliehen. Gute Arbeit, Sir Marryn. Leban ist glücklich."
Der Ritter zog wieder in den Kampf. Caldorvan spürte, wie das Wasser des Seelenmoors ihn und seine Armee immer gewaltiger machte. Konnte es so leicht sein?
Irgendwann spürte er Thairas Gegenwart. "Was willst du hier? Ich habe dir gesagt, die Nordfrau sucht dich. Sie wollen dich erlösen. Hast du kein Interesse mehr daran?"
"Du hast gesagt, ich muss erst meine Aufgabe erfüllen."
"Und? Ist es dir gelungen, Thaira?"
"Ja. Kithei wird ihre Rache bekommen."
"Ausgezeichnet. Verschwinde."
König Bathir würde wenig Freude daran haben, über das Land zu herrschen. Wie sollte er auch? Immerhin gab es nur einen Träger Samgards: Aran von Torbrin!
Caldorvan war sicher. Leban hatte es gesagt.
Der Stumme
Auch wenn die Sonne hoch über dem Meer stand, so empfand der Stumme keine Freude und sah kein Licht. Immer wenn ein Schiff sie passierte, hoffte er, man würde ihn sehen. Ihn oder seine Begleiter. Er wusste nicht, wer er war. Doch tief in seinem Herzen fühlte er, wie sich eine Schlange erhob, um ihre Giftzähne in die Schlagader eines Königs zu stoßen.
"Wer bin ich, Kameraden?", fragte der Kapitän Stunde um Stunde.
"Der Bezwinger der Meere! Für Lerhon! Für den Sieg!"
Ein neuer Anfang
Ein neuer Anfang - Teil 1
Bredo, ein Säufer
Bredo hatte schon lange keinen edlen Tropfen mehr getrunken. Vor vielen Jahren, da war er noch ein reicher Mann gewesen:
Der Handel lief gut, denn Seide und anderes Geschmeide brauchten die Frauen in Bretonia immer. Er war regelmäßiger Besucher des besten Bordells der Stadt, hatte viele Freunde, feierte Feste und genoss auch im Adel höchstes Ansehen - es hätte nicht besser laufen können. Oft hatte er sich gefragt, woher dieses Glück nur gekommen war, oder ob es ewig andauern würde. Ja, er ging zum Gebet, besuchte die Gottesdienste. Fromm war er nicht gewesen, aber die Götter wollte er nicht herausfordern, das stand wohl fest. Seine Ehe lief auch prächtig, und sein Weib konnte ihm den ein oder anderen Fehltritt vergeben, wenn er sturzbetrunken ins Bett kam oder sie den Duft der Huren an seinen Lenden riechen konnte; immerhin gab es auch für sein Weib nur die besten Stoffe und die edelsten Speisen.
Das war lange her. Dann kam die Feuernacht, in der Liraner und Lebaner sich gegenseitig umbringen wollten, in der die halbe Stadt in Flammen ausgebrochen war. Und natürlich auch sein Geschäft, seine zwei Lagerhäuser und die geheimen Vorräte im Keller. Als er dann seinem Weib sagte, sie müsste sich eine Arbeit suchen, da hatte es sich den nächsten Händler geschnappt, dessen Hab und Gut nicht in Schutt und Asche lag. Ja, Bredo hatte fortan wenig Glück. Und dabei hatte er stets die Kirche besucht, gebetet und der Predigt gelauscht. Lethos Helemos von Brioless hatte ihn persönlich gesegnet, und auch Lethos Cyrian schätzte seine Schneiderkünste. All das verging in nur einer Nacht!
Dann, als es nur noch hätte aufwärts gehen können, hatten ihn zwei Männer besucht:
Der erste war ein Bretone. Zumindest hatte Bredo das damals noch gedacht. Der Unbekannte stellte sich als Sicarion vor. Dass es derselbe sein würde, der viele Jahre später das Reich bedrohen würde, war ihm damals natürlich nicht aufgegangen.
"Ich möchte eine Bestellung aufgeben, Bredo."
"Ich habe nichts mehr. Ich lebe im Armenhaus, also, wie sollte das gehen?"
"Ich zahle gut. Ich gebe Euch alles, was Ihr zur Fertigstellung benötigt."
Sicarion hatte ihn wahrlich gut bezahlt. Das Wams war schon nach zehn Tagen fertig gewesen, und Bredo konnte sich ein Zimmer im Einsamen Wanderer zu Bredorf erlauben. Leider hatte ihn wieder die Trunksucht gepackt, sodass er nach einem Monat wieder ausziehen musste. Hin und wieder zurück, bergauf, bergab.
Der zweite Besucher war ein Elaya gewesen:
"Wie ich hörte, laufen Eure Geschäfte nicht mehr gut?", fragte der Grauhaarige.
"Scherzt Ihr? Vor kurzem schien es wieder gut zu gehen, aber ich saufe. Sehe ich eine Flasche, ist es schon passiert. Ich habe kein Glück. Nur frag ich mich, wieso ich immer noch so gefragt bin. Also, was wollt Ihr von mir, Esthelion?"
Dass dieser Elaya später einmal an Bathir von Dryrs Seite stehen würde, war ihm damals natürlich auch noch nicht aufgegangen.
"Ich möchte Euch anwerben, als meinen Verwalter."
"Ein Verwalter? Ein Verwalter für was?"
"Sehen wir uns das Objekt an?", fragte Esthelion.
"Von mir aus."
Der Elaya führte ihn ins Wilderland, bis zur eisigen Küste. Dort fuhren sie mit einer kleinen Mannschaft aufs Meer hinaus, bis sie die Küste einer Insel sahen.
"Was ist das da für ein Land?", fragte Bredo.
"Das? Ach, unwichtig. Blyrtindur nennt man diese Insel. Wir können sie nicht erreichen. Wir wollen das auch nicht. Etwas Böses lebt dort, sagt man. Uns interessiert das, was unter uns liegt."
Bredo verstand nicht. "Tauchen?"
"Oh ja. Keine Sorge", sagte Esthelion, wirbelte mit den Händen, sprach seltsame Worte, und Bredo spürte weder Kälte, noch musste er auf das Atmen unter Wasser verzichten. Und was er sah, veränderte sein Leben.
"Das ist.. das ist Bretonia!"
"Ja. Und es gehört Euch."
Später hatte er vernommen, dass Esthelion gestorben wäre. Da war Bredo schon König des Reiches geworden.
Juleg, ein Soldat
Juleg Branden war ein einfacher Mann. Sein Vater war ein einfacher Mann gewesen, dessen Vater war ein einfacher Mann gewesen, all seine Ahnen waren einfache Leute gewesen. Mit dieser Tradition konnte Juleg natürlich nicht brechen. Also wurde er erst Landarbeiter in Edailech, dann, im Großen Krieg, hatte man ihn eingezogen - und irgendwie war er dabei geblieben. Das Essen war einfach, der Schlafplatz ebenso, und auch seine Aufgaben waren es. In Friedenszeiten sicherte er den Marktplatz der Stadt, und nun, im Krieg hatte es ihn ans Tor verschlagen. Ein einfacher Dienst für einen einfachen Mann.
Irgendwie war er erleichtert gewesen, als Sir Marryn ihm und den anderen befohlen hatte, das Tor nicht zu verlassen, egal was kommen mochte.
So sah er den Kampf um die Abtei nur aus der Ferne, und der Angriff der Wilderländer war für ihn nur eine Mischung aus Geschrei und Waffengeklapper gewesen. Als König Petyr gefallen war, da hatte Sir Marryn ihnen mitgeteilt, dass dies keine Aktion von Sir Allyen und Lord Baelon gewesen war. Zu der Zeit hatten sich die Ritter und der Lord immer regelmäßig mit den Offizieren und den loyalen Soldaten, zu denen Juleg gehörte, getroffen. Da war auch Sir Roymar noch auf Lord Baelons Seite gewesen. Jetzt sah das wohl anders aus.
Irgendwann hatte Juleg gehört, dass Sir Marryn in der Schlacht gegen die Wilderländer gefallen war. Er wusste, dass Starys ihn in den Kampf geschickt hatte. Und kürzlich hatte Sir Belforr ihm und den anderen berichtet, dass Bathir von Dryr Marryn besiegt hatte. Schon wieder wechselten die Eisenwaller die Seiten. Juleg und seine Kameraden hatten gerade ein Gebet für Marryn gesprochen, da rief man Bathir zum König des Reiches aus. Nun, auch für einen einfachen Mann wie Juleg stank das bis zum Himmel. Wahrscheinlich hatte man den König für seine Tat belohnt, Marryn zu töten. Juleg hatte nur Verachtung für Bathir übrig. Damals, als er noch in Edailech gewesen war, da war ihm der Neffe des Königs, Elyarn, begegnet. Der war solide, der war in Ordnung. Aber Bathir als König? Warum nicht gleich diesen Untoten auf den Thron setzen?
Das war dann wohl der nächste Schicksalsschlag:
Heute durfte Juleg nämlich vom Tor aus beobachten, wie Caldorvan, jener Untote, einen Krieger nach dem anderen in seine Reihen holte. Die Söldner des Schwarzen Stabes waren viele, doch hatte man wohl große Probleme. Wenn der Untote bis ans Tor käme, es wäre wohl auch für Juleg und seine Kameraden vorbei. Ein mieses Gefühl, aufgrund der Befehle das Ende einfach abwarten zu müssen. Die anderen liefen nervös auf und ab. Manche wünschten sich, Bathir möge endlich einen Ausfallbefehl geben.
Der kam dann auch, aber nicht vom König:
"Marsch, Marsch, los, wir greifen ein. Der Untote muss von der Stadt fern bleiben! Zum Angriff!", rief Sir Belforr.
Kurz darauf stand Juleg mitten in der Schlacht, als von der anderen Seite Eisenwaller kamen und ebenso die Streitmacht des Untoten angriffen.
"Von wem kam der Befehl?", rief Juleg einem seiner Kameraden zu, als sie gerade stürmten.
"Lord Baelon! Der König ist geflohen! Wir haben den Segen des Lethos!"
Den Segen des Lethos? Juleg hatte keine Zeit, zu überlegen, als zwei Untote ihm gegenüber standen. Nein, es waren drei, denn gerade war sein Kamerad gefallen. Nun erhob er das dunkle Schwert gegen Juleg.
Malvas, ein junger Messdiener
Die Truppen des neuen Königs hatten alle Ausgänge der Kirche besetzt. Gläubige wurden akribisch kontrolliert, Bewaffnete durften den Saal nicht betreten. Predigten wurden vorher von Offizieren gelesen und, falls in den Augen des Königs notwendig, verändert. Gottesdienste waren nur noch spärlich besucht, seit König Bathir die Kirche kontrollierte.
Und auch der Abtei, wo Malvas aufgewachsen war, sollte es so ergehen, wie man hörte. Es war eine Schande, ein Frevel! Aber was sollte er dagegen tun? Er war ein einfacher Mönch, der noch weit von der Priesterweihe entfernt war. Lethos Ascanio war irgendwo im Norden, niemand half. Lord Baelon versuchte, den König umzustimmen, aber einen König Bathir konnte man nicht überzeugen. Vor den Toren der Stadt wurde gekämpft. Es war das Ende von allem. Da brauchte es kaum noch einen Sicarion Grauwind, um die verfallenen Reste des einst blühenden Reiches zu zerstören.
Alles hatte mit dem Tod Lerhons begonnen. Malvas war damals noch ein Knabe gewesen, als die Wölfe gekommen waren. Danach lag alle Hoffnung bei Aurelia von Torbrin. Sie war so anders als der Rest dieser schaurigen Familie. Doch Janus Theren ließ sie vergiften. Das war der Anfang vom Ende gewesen. Malvas erinnerte sich, wie Lethos Cyrian, bevor er nach Samariq zur Letzten Schlacht aufgebrochen war, ihm eine Hand auf die Schulter gelegt hatte:
"Verzage nicht, Bruder Malvas. Alles wird gut", sagte Cyrian.
"Ich sehe nur Grauen und Krieg."
"Dieser Krieg ist bald vorüber. Erinnerst du dich, was ich dir einst zeigte? Der Stammbaum?"
"Ja, ehrwürdiger Diener der Götter."
"Behüte ihn gut."
Das tat Malvas stets. Er trug ihn immer bei sich. Kein Versteck war ausreichend. Wenn dieses Dokument in die falschen Hände geriete, das wäre schlimm. So hoffte er jeden Tag, die Soldaten Bathirs würden ihn nicht auch noch durchsuchen, obwohl er Diener der Kirche war. Aber an unwichtigen Messdienern hatten sie kein Interesse.
"Es ist ein Wunder!", rief eine Stimme plötzlich, als ein gleißendes Licht die Kirche umhüllte. Die Stimme, das war keiner seiner Mitbrüder. Das war einer der Offiziere!
Malvas lief durch den Saal. Die Ausgänge waren überfüllt. Soldaten knieten nieder, Bürger weinten, Geistliche sprachen Gebete.
Vor der Kirche stand ein Mann, durchbohrt von der Klinge eines Soldaten. Doch er packte den Schwertgriff, zog sie heraus und war unverletzt. Das Licht der Sonne fiel auf den Mann herab, der ganz umgeben war von hellen Farben. Auf seiner Stirn glänzten das Sonnensiegel des Liras und er Mond Lebans.
"Das ist der neue Lethos des Reiches!", rief ein Priester, und die anderen folgten dem Ruf nach. Selbst Bathirs Soldaten konnten nicht anders, als helle Engelsschwingen den Mann umgaben und bis zum Altar trugen.
"Steht auf, Brüder und Schwestern. Ich bin gekommen, das Reich zu retten. Bald wird es keinen Untoten mehr geben, der uns bedroht, und keinen Grauwind, der mit seiner Armee gegen Bretonia ziehen wird. Im Namen des Liras und im Namen des Leban: Gehet hin in Frieden", sprach die Stimme des Lethos.
Als sich nach Stunden die Lage beruhigt hatte und die Soldaten die Kirche frei gegeben hatten, da sprach der Lethos zu Malvas:
"Bruder Malvas, ich habe viel zu tun. Bis dahin kümmert Euch um die Menschen. Ich komme zurück, wenn die Bedrohung des Reiches vernichtet ist."
"Ja, ehrwürdiger Diener der Götter."
So verließ der Lethos die Stadt. Malvas sprach zusammen mit den Menschen Gebete, bereitete einen Gottesdienst vor und hatte einen ereignisreichen Tag. Erst am Abend fand er Ruhe, das Geschehen zu überdenken, sich zu sammeln und den Göttern noch einmal in aller Stille für das Wunder zu danken.
Grausiger Nebel stieg durch sein Fenster, und eine schwarze Gestalt trat hervor.
"Ist das mein Ende? Nach einem so herrlichen Tag für den Glauben?", fragte Malvas zitternd, denn er erkannte, wer da vor ihm stand.
"Nein. Aber du hast etwas, das mir gehört."
Theresia
Sie vermisste die Zeit im Tiefenwald, als Lariena sie unterrichtet hatte. Doch es war ihre heiligste und wichtigste Aufgabe, von allen Seiten zu lernen, um zu verstehen und den Menschen Hoffnung zu sein. Wenn ihr Leben einen Sinn hatte, dann war es der, den Menschen zu dienen. Sei es nun als Königin oder nur als Theresia. Macht war etwas, das die Menschen beherrschen konnte. Doch sie, sie wollte sie selbst bleiben. Als Königin wäre sie ein Symbol, und sie würde aufgehen darin und, wenn nötig, dahinter verschwinden. Nicht für irgendeinen Thron oder für irgendein Reich, sondern für Sicherheit und Frieden für alle, gleich woher einer stammte.
Theresia bedauerte Esthelions Tod, auch wenn er vielleicht notwendig gewesen war. Sein Herz war immer kalt gewesen, doch ihm lag tatsächlich daran, sie alles zu lehren, was für eine Königin wichtig wäre. Nun, nach seinem Ende, war das Eis geschwächt. Die Königin des Westens war gekommen. Es war also Zeit für das Feuer geworden:
Aenthalas war schwierig. Es war problematisch, zu erkennen, ob er etwas ernst meinte oder ob es einer seiner verrückten Scherze war. Eigentlich war er noch schwieriger zu deuten als Esthelion. Mal weinte der Rote Narr um seinen verstorbenen Erzfeind, dann wieder lachte er darüber. Wenn er ihr vom Feuer erzählte, dann wurde er sehr ernst, nur um kurz darauf einen unflätigen Spruch über ihre Brüste oder ihren Po zu machen. Aber Theresia übte Geduld und hörte zu, gleich ob er einen Witz machte oder ihr mehr über die Geheimnisse des Feuers, der Vulkane und über die Urgründe der elementaren Gewalten erzählte. Aenthalas schien zufrieden mit ihr. Sie teilten jede Mahlzeit miteinander, und am Abend tauschten sie ihr Wissen aus. Manchmal wechselten sie die Ebene der Existenz, und Aenthalas zeigte ihr Wunder, von denen keine Schulweisheit sich hätte erträumen können, dass es sie zwischen Himmel und Erde geben würde. Sie reisten an die Nebel von Saräus, tanzten mit den Feuerpferden des Rioth oder reisten mit der Feuerkapsel bis in die Gefilde Tirinaiths, wo sie den Sonnenläufern lauschten oder den roten Monden beim Untergehen zusahen.
In den stillen Nächten, wenn auch Aenthalas mal Schlaf brauchte, entsann sie sich an das letzte Gespräch, das sie mit Lord Baelon geführt hatte. Das war vor Wilderberg gewesen, vor der Befreiung der Feste durch Lord Carmon und Lord Melther:
"Wenn Lord Carmon die Festung eingenommen hat, was werdet Ihr dann tun, Mylady?"
"Lord Baelon, was erwartet Ihr von mir?"
"Das Volk braucht Euch. Lord Carmon wünscht sich eine Königin für das Land", sagte Baelon.
"Und Ihr?"
"Prinzessin Alysare ist jung. Und sie hat kein Anrecht auf den Thron. Nicht, seit die Glans taten, was sie taten. Der Tod meines Bruders und meiner Schwester hat Euch die Pforte geöffnet, Lady Theresia. Ich stehe Euch allein zu Diensten."
"Ich muss noch viel tun. Feuer und Eis waren nie unsere Feinde, aber ihre Methoden waren es. Jetzt, da Grauwind und die Königin des Westens gekommen sind, haben wir alle noch einen weiten Weg vor uns. Und vergessen wir nicht Caldorvan. Oder Giltheas."
Baelon nickte. "Werdet Ihr zurückkehren?"
"Ja, das werde ich."
Heute war wieder so eine stille Nacht. Aber sie wollte jetzt nicht an ihr Schicksal denken oder daran, ob sie jemals Königin sein würde. Heute wollte sie am liebsten wieder die kleine Theresia sein. Aber das war sie nicht mehr; nicht, seit sie Lazarus vernichtet hatte und Remigius geheilt. Seitdem träumte sie nicht mehr von Lerhon oder Remigius.
"Bist du traurig?", fragte eine sanfte Stimme. Da stand ein Mann vor ihr. Edel im Gemüt, mit Augen, blau wie das Meer vor Marjastika.
Theresias Herz pochte schneller. Was war das für ein Gefühl? "Wer bist du?", fragte sie.
"Ich bin Aurelion."
Lucius
Jeder Plan war nur so gut wie die, die ihn ausführen mussten. Und hatte er nicht seine Wölfe darauf eingeschworen, sie würden Velthan zum Sieg verhelfen? Hatte er ihnen nicht geschworen, dass die Zeit der Wölfe dann gekommen wäre, die Herrschaft der Grünen Hexerei, seine Herrschaft durch Velthan?
Als der Bursche im Kampf gegen den Schwarzdrachen gefallen war, hatte Lucius von Trar keine andere Chance mehr gesehen, als sich diesem Grauwind anzuschließen. Mit Oshinya hatte er abgemacht, dass sie versuchen würden, Roymar zu bekehren, sich von Sicarion abzuwenden, um dann gemeinsam gegen Bretonia zu ziehen.
All diese Vorhaben hatte der verdammte Untote, der verfluchte Caldorvan, vernichtet. Seine Untoten hatten mit ihm gespielt. Lucius musste sich eingestehen, dass der Untote die Burg bereits nach einem Tag hätte nehmen können, doch er kämpfte noch länger, um seine Armee zu vergrößern. Jetzt hatte Caldorvan von Torbrin gewonnen und seine alte Feste erobert. Und mit ihr all die Geheimnisse. Die Dokumente von Starys, mit deren Hilfe er den Blutigen Stumpf gerufen hatte, zum Glück hatte er sie ihm wieder überlassen. Doch die letzte Seite, auf der auch der Ritus der Vernichtung geschrieben stand, die hatte Lucius Starys nicht gegeben - denn er brauchte eine Sicherheit. Als aber die Untoten die Mauern erstürmt hatten, da war es zu spät gewesen. Jetzt war Caldorvan mächtiger als je zuvor.
"Was willst du noch hier?", fragte einer der Krieger, als Lucius und eine Handvoll Wölfe das Lager erreichten.
"Ist sie hier?"
"Wir können sie rufen. Im Augenblick plant sie gemeinsam mit ihren Schwestern das weitere Vorgehen. Aber ob sie dich freundlich empfangen wird, nachdem all deine Vorschläge sich als sinnlos erwiesen haben?"
"Ruft sie einfach her!"
Nach einigen Stunden erreichte Oshinya ihr Lager im Moor.
"Lucius von Trar. Wir haben dich schon unter vielen Leichenbergen gesucht, Landstreicher", spottete sie.
"Nun, wie du siehst, lebe ich noch."
"Was willst du noch? Meine Krieger beobachten weiter Sicarions und Roymars Treiben. Mutter Kelar berät den Untoten, sodass wir ihn uns vom Hals halten können."
"Ich will helfen. König Bathir muss sterben", antwortete Lucius.
"Dann solltest du folgende Dinge wissen: Für Bathir ist gesorgt, in mehrfacher Hinsicht. Außerdem ist nicht er das Problem, sondern Grauwind. Er plant etwas. Und er weiht meinen Heermeister nicht ein. Wir stehen also im Moment dumm da."
"Dann gehe ich zu ihm. Oder hat er meine Wölfe schon in die Wildnis verbannt?"
Oshinya lachte. "Sie sind noch am zerstörten Turm. Aber ob Sicarion dich noch braucht, nachdem du deine Festung aufgeben musstest?"
"Lass es mich versuchen. Ich habe nichts mehr. Entweder tötet er mich oder ich gewinne sein Vertrauen."
Oshinya war einverstanden. Lucius nahm ein Pferd, ritt durch den Wald, bis er die Ebene erreichte. Plötzlich hörte er wildes Geschrei, und Rauch stieg in seine Nase. Eine brennende Graserherde stürzte über die Steppe. Als Lucius Thyms Rast sah, da wusste er, dass er zu spät gekommen war.
Denyo
So ganz konnte Denyo verschiedene Dinge immer noch nicht ganz glauben. Zum Beispiel, wie er es vom Tagelöhner zum Räuber und Dieb und schließlich zum Retter der Flüchtlinge geschafft hatte. Argas war so ein Dummkopf gewesen, und vermutlich verrottete seine Leiche gerade irgendwo in einem Graben oder eben dort, wohin es ihn verschlagen hatte. Eigentlich musste Denyo seinen Wandel nicht glauben. Es reichte wohl, dass er damit erfolgreich gewesen war. Man hatte sie in Tilhold aufgenommen, und er wurde bald Vater. Irgendwie hatte er es geschafft, und er war zufrieden. Sein Vorleben als Gauner hatte er abgelegt, und sein Weib hatte es tatsächlich geschafft, dass er jeden Morgen und jeden Abend ein Gebet zu den Göttern sprach. Ja, Denyo war ihnen dankbar.
Dass einer der Gemeinschaft ein Diener von diesem Grauwind gewesen war, hatte ihn sehr beunruhigt. Noch am selben Abend ließ er sich von jedem seine Lebensgeschichte erzählen, da sich gezeigt hatte, dass Geheimnisse schnell zu Problemen werden konnten.
Seine eigene Geschichte ließ er dabei nicht aus; wie er geraubt und geplündert hatte; wie er schon als kleiner Bub gestohlen hatte. Aber einen Mord, nein, einen Mord hatte Denyo nie begangen.
Gut, da war das Scharmützel mit den Grenzwachen von Peliad gewesen - aber das war im Großen Krieg gewesen, und Peliad gab es nicht mehr, denn da herrschte nun nach Dunkelwald erst Caenor und dann dieser Grauwind. Er ließ also diese Geschichte, wie er den jungen Milizionär im Kampf erschlagen hatte, besser aus. Abends entschuldigte er sich bei den Göttern.
Denyo lag gerade neben Mertha und hielt ihren Bauch. Ein Kind. Und es sollte besser aufwachsen und leben als sein Vater es getan hatte. Niemals sollte es auf so eine schiefe Bahn kommen, und es sollte nicht hungern, genug Kleidung haben und gute Freunde. Wahrscheinlich würde Denyo mal in Nordstein nach Arbeit suchen, sobald alle Flüchtlinge untergebracht waren. Konnte ja nicht falsch sein. Vielleicht als Wache auf den Zinnen zum Wilderland oder als Stallbursche, vielleicht sogar Koch. Talente hatte er in seinem Räuberleben eigentlich genug angesammelt. Und Mertha und das Kind wären abgesichert. Vielleicht eine kleine Stube in Nordstein, für den Anfang. Irgendwann könnte er ein Haus im Norden bauen. Ja, sie kämen klar. Irgendwie war er zufriedener geworden. Sogar irgendwie glücklich.
"Autsch", seufzte Mertha und wachte davon auf.
"Was ist? Ist etwas nicht in Ordnung? Das Kind?"
"Es ist noch etwas jung, um zu treten, meinst du nicht?", fragte sie.
"Na, was weiß ich denn. Was hast du?"
"Hab nur falsch gelegen. Dieses Zelt, der harte Boden, das nervt langsam."
Er nickte. "Morgen frage ich in Nordstein, ob du ein Bett kriegen kannst."
Mertha lächelte, gab ihm einen Kuss und schlief bald wieder ein. Ihr Haar leuchtete im einfallenden Mondlicht golden, und Denyo liebte sie wirklich, wie er bemerkte.
Roan
Xenophilius hatte eine magische Botschaft schicken lassen, da Roan noch für einige Tage in Wilderberg bleiben wollte: Die alte Frau hatte, wie es ausgemacht war, sich das Dokument Tyrells angesehen - und es war bestätigt worden, dass nur Sicarion Grauwind Lord Brioless heilen könnte. Da es gewisse Pläne gab, den Pakt Grauwinds mit der Königin des Westens zu brechen, bedurfte es Zeit und genauer Planung. Man musste Grauwind zwingen, Brioless zu helfen. Danach sollte mit dem Tectarier geschehen, was auch immer geschehen mochte.
Roan hatte zudem noch andere Sorgen. Ihm war wohl zu Ohren gekommen, dass Caldorvan von Torbrin seinen Tod wollte. Nicht dass er sich fürchten würde, der verdammten Schlange ein weiteres Mal im Zweikampf zu beweisen, wer der bessere Streiter war, doch die Tatsache, dass es sich nun um einen sehr mächtigen Leichnam handelte, mit einer riesigen Armee im Rücken, ließ doch einige Bedenken in Lord Carmon aufkommen. Er würde Waldwacht noch mehr absichern müssen. Vielleicht sollte er dem Untoten zuvor kommen und ihn fordern? Nein, erst mussten noch andere Dinge geregelt werden. Sir Roymar hatte den Thron von Bathir gefordert. Also musste nun entsprechend reagiert werden.
"Meint Ihr nicht, dieser Schritt sollte mit Lord Baelon besprochen werden?", fragte Lord Melther.
"Lord Baelon favorisiert nach meinem Wissen dieselbe Königin wie wir. Er wird also damit einverstanden sein, nicht wahr?"
"Gewiss, Roan, doch ich meine etwas anderes."
"Wilion, mir ist bewusst, was Ihr meint. Doch habe ich nicht vor, einem Glan diese Position zu schenken. Der Name ist mit Blut und Schande verbunden. Auch wenn Baelon anderen Schlages ist. Und jetzt, nachdem das Land einen neuen Lethos hat, sollte man nicht auch noch die andere Position einem Namen geben, den man mit Dunkelheit in Verbindung bringen könnte."
"Die Götter haben diesen Lethos gewählt. Selbst Ascanio unternimmt nichts. Es ist, wie es ist. Wollen wir also wirklich noch mehr Unruhe stiften?", fragte Melther.
"Ja, wollen wir. Müssen wir. Ich bin fest entschlossen, dass es nur so gehen wird. Gehen muss!"
Da traf ein Meldereiter ein. "Mylords?"
Sir Leyris, der die ganze Zeit geschwiegen hatte, nahm die Botschaft an sich. "Bei den Göttern. König Bathir hat die Stadt auf Geheimwegen verlassen!"
"Wieso das?", fragte Roan verblüfft.
"Der Lethos. Die Soldaten haben dem König nach der Offenbarung den Dienst verweigert."
"Ausgezeichnet. Auch wenn ich immer noch entsetzt bin, was die Wahl der Götter angeht", murrte Roan.
"Werdet Ihr dennoch den Erlass verkünden?", fragte Melther.
"Ja, das werde ich."
Sir Leyris räusperte sich. "Mylords, da ist noch etwas."
"Was?", fragten beide Lords gleichzeitig.
"Man zieht gegen Wilderberg."
Fortsetzung folgt.
Bredo, ein Säufer
Bredo hatte schon lange keinen edlen Tropfen mehr getrunken. Vor vielen Jahren, da war er noch ein reicher Mann gewesen:
Der Handel lief gut, denn Seide und anderes Geschmeide brauchten die Frauen in Bretonia immer. Er war regelmäßiger Besucher des besten Bordells der Stadt, hatte viele Freunde, feierte Feste und genoss auch im Adel höchstes Ansehen - es hätte nicht besser laufen können. Oft hatte er sich gefragt, woher dieses Glück nur gekommen war, oder ob es ewig andauern würde. Ja, er ging zum Gebet, besuchte die Gottesdienste. Fromm war er nicht gewesen, aber die Götter wollte er nicht herausfordern, das stand wohl fest. Seine Ehe lief auch prächtig, und sein Weib konnte ihm den ein oder anderen Fehltritt vergeben, wenn er sturzbetrunken ins Bett kam oder sie den Duft der Huren an seinen Lenden riechen konnte; immerhin gab es auch für sein Weib nur die besten Stoffe und die edelsten Speisen.
Das war lange her. Dann kam die Feuernacht, in der Liraner und Lebaner sich gegenseitig umbringen wollten, in der die halbe Stadt in Flammen ausgebrochen war. Und natürlich auch sein Geschäft, seine zwei Lagerhäuser und die geheimen Vorräte im Keller. Als er dann seinem Weib sagte, sie müsste sich eine Arbeit suchen, da hatte es sich den nächsten Händler geschnappt, dessen Hab und Gut nicht in Schutt und Asche lag. Ja, Bredo hatte fortan wenig Glück. Und dabei hatte er stets die Kirche besucht, gebetet und der Predigt gelauscht. Lethos Helemos von Brioless hatte ihn persönlich gesegnet, und auch Lethos Cyrian schätzte seine Schneiderkünste. All das verging in nur einer Nacht!
Dann, als es nur noch hätte aufwärts gehen können, hatten ihn zwei Männer besucht:
Der erste war ein Bretone. Zumindest hatte Bredo das damals noch gedacht. Der Unbekannte stellte sich als Sicarion vor. Dass es derselbe sein würde, der viele Jahre später das Reich bedrohen würde, war ihm damals natürlich nicht aufgegangen.
"Ich möchte eine Bestellung aufgeben, Bredo."
"Ich habe nichts mehr. Ich lebe im Armenhaus, also, wie sollte das gehen?"
"Ich zahle gut. Ich gebe Euch alles, was Ihr zur Fertigstellung benötigt."
Sicarion hatte ihn wahrlich gut bezahlt. Das Wams war schon nach zehn Tagen fertig gewesen, und Bredo konnte sich ein Zimmer im Einsamen Wanderer zu Bredorf erlauben. Leider hatte ihn wieder die Trunksucht gepackt, sodass er nach einem Monat wieder ausziehen musste. Hin und wieder zurück, bergauf, bergab.
Der zweite Besucher war ein Elaya gewesen:
"Wie ich hörte, laufen Eure Geschäfte nicht mehr gut?", fragte der Grauhaarige.
"Scherzt Ihr? Vor kurzem schien es wieder gut zu gehen, aber ich saufe. Sehe ich eine Flasche, ist es schon passiert. Ich habe kein Glück. Nur frag ich mich, wieso ich immer noch so gefragt bin. Also, was wollt Ihr von mir, Esthelion?"
Dass dieser Elaya später einmal an Bathir von Dryrs Seite stehen würde, war ihm damals natürlich auch noch nicht aufgegangen.
"Ich möchte Euch anwerben, als meinen Verwalter."
"Ein Verwalter? Ein Verwalter für was?"
"Sehen wir uns das Objekt an?", fragte Esthelion.
"Von mir aus."
Der Elaya führte ihn ins Wilderland, bis zur eisigen Küste. Dort fuhren sie mit einer kleinen Mannschaft aufs Meer hinaus, bis sie die Küste einer Insel sahen.
"Was ist das da für ein Land?", fragte Bredo.
"Das? Ach, unwichtig. Blyrtindur nennt man diese Insel. Wir können sie nicht erreichen. Wir wollen das auch nicht. Etwas Böses lebt dort, sagt man. Uns interessiert das, was unter uns liegt."
Bredo verstand nicht. "Tauchen?"
"Oh ja. Keine Sorge", sagte Esthelion, wirbelte mit den Händen, sprach seltsame Worte, und Bredo spürte weder Kälte, noch musste er auf das Atmen unter Wasser verzichten. Und was er sah, veränderte sein Leben.
"Das ist.. das ist Bretonia!"
"Ja. Und es gehört Euch."
Später hatte er vernommen, dass Esthelion gestorben wäre. Da war Bredo schon König des Reiches geworden.
Juleg, ein Soldat
Juleg Branden war ein einfacher Mann. Sein Vater war ein einfacher Mann gewesen, dessen Vater war ein einfacher Mann gewesen, all seine Ahnen waren einfache Leute gewesen. Mit dieser Tradition konnte Juleg natürlich nicht brechen. Also wurde er erst Landarbeiter in Edailech, dann, im Großen Krieg, hatte man ihn eingezogen - und irgendwie war er dabei geblieben. Das Essen war einfach, der Schlafplatz ebenso, und auch seine Aufgaben waren es. In Friedenszeiten sicherte er den Marktplatz der Stadt, und nun, im Krieg hatte es ihn ans Tor verschlagen. Ein einfacher Dienst für einen einfachen Mann.
Irgendwie war er erleichtert gewesen, als Sir Marryn ihm und den anderen befohlen hatte, das Tor nicht zu verlassen, egal was kommen mochte.
So sah er den Kampf um die Abtei nur aus der Ferne, und der Angriff der Wilderländer war für ihn nur eine Mischung aus Geschrei und Waffengeklapper gewesen. Als König Petyr gefallen war, da hatte Sir Marryn ihnen mitgeteilt, dass dies keine Aktion von Sir Allyen und Lord Baelon gewesen war. Zu der Zeit hatten sich die Ritter und der Lord immer regelmäßig mit den Offizieren und den loyalen Soldaten, zu denen Juleg gehörte, getroffen. Da war auch Sir Roymar noch auf Lord Baelons Seite gewesen. Jetzt sah das wohl anders aus.
Irgendwann hatte Juleg gehört, dass Sir Marryn in der Schlacht gegen die Wilderländer gefallen war. Er wusste, dass Starys ihn in den Kampf geschickt hatte. Und kürzlich hatte Sir Belforr ihm und den anderen berichtet, dass Bathir von Dryr Marryn besiegt hatte. Schon wieder wechselten die Eisenwaller die Seiten. Juleg und seine Kameraden hatten gerade ein Gebet für Marryn gesprochen, da rief man Bathir zum König des Reiches aus. Nun, auch für einen einfachen Mann wie Juleg stank das bis zum Himmel. Wahrscheinlich hatte man den König für seine Tat belohnt, Marryn zu töten. Juleg hatte nur Verachtung für Bathir übrig. Damals, als er noch in Edailech gewesen war, da war ihm der Neffe des Königs, Elyarn, begegnet. Der war solide, der war in Ordnung. Aber Bathir als König? Warum nicht gleich diesen Untoten auf den Thron setzen?
Das war dann wohl der nächste Schicksalsschlag:
Heute durfte Juleg nämlich vom Tor aus beobachten, wie Caldorvan, jener Untote, einen Krieger nach dem anderen in seine Reihen holte. Die Söldner des Schwarzen Stabes waren viele, doch hatte man wohl große Probleme. Wenn der Untote bis ans Tor käme, es wäre wohl auch für Juleg und seine Kameraden vorbei. Ein mieses Gefühl, aufgrund der Befehle das Ende einfach abwarten zu müssen. Die anderen liefen nervös auf und ab. Manche wünschten sich, Bathir möge endlich einen Ausfallbefehl geben.
Der kam dann auch, aber nicht vom König:
"Marsch, Marsch, los, wir greifen ein. Der Untote muss von der Stadt fern bleiben! Zum Angriff!", rief Sir Belforr.
Kurz darauf stand Juleg mitten in der Schlacht, als von der anderen Seite Eisenwaller kamen und ebenso die Streitmacht des Untoten angriffen.
"Von wem kam der Befehl?", rief Juleg einem seiner Kameraden zu, als sie gerade stürmten.
"Lord Baelon! Der König ist geflohen! Wir haben den Segen des Lethos!"
Den Segen des Lethos? Juleg hatte keine Zeit, zu überlegen, als zwei Untote ihm gegenüber standen. Nein, es waren drei, denn gerade war sein Kamerad gefallen. Nun erhob er das dunkle Schwert gegen Juleg.
Malvas, ein junger Messdiener
Die Truppen des neuen Königs hatten alle Ausgänge der Kirche besetzt. Gläubige wurden akribisch kontrolliert, Bewaffnete durften den Saal nicht betreten. Predigten wurden vorher von Offizieren gelesen und, falls in den Augen des Königs notwendig, verändert. Gottesdienste waren nur noch spärlich besucht, seit König Bathir die Kirche kontrollierte.
Und auch der Abtei, wo Malvas aufgewachsen war, sollte es so ergehen, wie man hörte. Es war eine Schande, ein Frevel! Aber was sollte er dagegen tun? Er war ein einfacher Mönch, der noch weit von der Priesterweihe entfernt war. Lethos Ascanio war irgendwo im Norden, niemand half. Lord Baelon versuchte, den König umzustimmen, aber einen König Bathir konnte man nicht überzeugen. Vor den Toren der Stadt wurde gekämpft. Es war das Ende von allem. Da brauchte es kaum noch einen Sicarion Grauwind, um die verfallenen Reste des einst blühenden Reiches zu zerstören.
Alles hatte mit dem Tod Lerhons begonnen. Malvas war damals noch ein Knabe gewesen, als die Wölfe gekommen waren. Danach lag alle Hoffnung bei Aurelia von Torbrin. Sie war so anders als der Rest dieser schaurigen Familie. Doch Janus Theren ließ sie vergiften. Das war der Anfang vom Ende gewesen. Malvas erinnerte sich, wie Lethos Cyrian, bevor er nach Samariq zur Letzten Schlacht aufgebrochen war, ihm eine Hand auf die Schulter gelegt hatte:
"Verzage nicht, Bruder Malvas. Alles wird gut", sagte Cyrian.
"Ich sehe nur Grauen und Krieg."
"Dieser Krieg ist bald vorüber. Erinnerst du dich, was ich dir einst zeigte? Der Stammbaum?"
"Ja, ehrwürdiger Diener der Götter."
"Behüte ihn gut."
Das tat Malvas stets. Er trug ihn immer bei sich. Kein Versteck war ausreichend. Wenn dieses Dokument in die falschen Hände geriete, das wäre schlimm. So hoffte er jeden Tag, die Soldaten Bathirs würden ihn nicht auch noch durchsuchen, obwohl er Diener der Kirche war. Aber an unwichtigen Messdienern hatten sie kein Interesse.
"Es ist ein Wunder!", rief eine Stimme plötzlich, als ein gleißendes Licht die Kirche umhüllte. Die Stimme, das war keiner seiner Mitbrüder. Das war einer der Offiziere!
Malvas lief durch den Saal. Die Ausgänge waren überfüllt. Soldaten knieten nieder, Bürger weinten, Geistliche sprachen Gebete.
Vor der Kirche stand ein Mann, durchbohrt von der Klinge eines Soldaten. Doch er packte den Schwertgriff, zog sie heraus und war unverletzt. Das Licht der Sonne fiel auf den Mann herab, der ganz umgeben war von hellen Farben. Auf seiner Stirn glänzten das Sonnensiegel des Liras und er Mond Lebans.
"Das ist der neue Lethos des Reiches!", rief ein Priester, und die anderen folgten dem Ruf nach. Selbst Bathirs Soldaten konnten nicht anders, als helle Engelsschwingen den Mann umgaben und bis zum Altar trugen.
"Steht auf, Brüder und Schwestern. Ich bin gekommen, das Reich zu retten. Bald wird es keinen Untoten mehr geben, der uns bedroht, und keinen Grauwind, der mit seiner Armee gegen Bretonia ziehen wird. Im Namen des Liras und im Namen des Leban: Gehet hin in Frieden", sprach die Stimme des Lethos.
Als sich nach Stunden die Lage beruhigt hatte und die Soldaten die Kirche frei gegeben hatten, da sprach der Lethos zu Malvas:
"Bruder Malvas, ich habe viel zu tun. Bis dahin kümmert Euch um die Menschen. Ich komme zurück, wenn die Bedrohung des Reiches vernichtet ist."
"Ja, ehrwürdiger Diener der Götter."
So verließ der Lethos die Stadt. Malvas sprach zusammen mit den Menschen Gebete, bereitete einen Gottesdienst vor und hatte einen ereignisreichen Tag. Erst am Abend fand er Ruhe, das Geschehen zu überdenken, sich zu sammeln und den Göttern noch einmal in aller Stille für das Wunder zu danken.
Grausiger Nebel stieg durch sein Fenster, und eine schwarze Gestalt trat hervor.
"Ist das mein Ende? Nach einem so herrlichen Tag für den Glauben?", fragte Malvas zitternd, denn er erkannte, wer da vor ihm stand.
"Nein. Aber du hast etwas, das mir gehört."
Theresia
Sie vermisste die Zeit im Tiefenwald, als Lariena sie unterrichtet hatte. Doch es war ihre heiligste und wichtigste Aufgabe, von allen Seiten zu lernen, um zu verstehen und den Menschen Hoffnung zu sein. Wenn ihr Leben einen Sinn hatte, dann war es der, den Menschen zu dienen. Sei es nun als Königin oder nur als Theresia. Macht war etwas, das die Menschen beherrschen konnte. Doch sie, sie wollte sie selbst bleiben. Als Königin wäre sie ein Symbol, und sie würde aufgehen darin und, wenn nötig, dahinter verschwinden. Nicht für irgendeinen Thron oder für irgendein Reich, sondern für Sicherheit und Frieden für alle, gleich woher einer stammte.
Theresia bedauerte Esthelions Tod, auch wenn er vielleicht notwendig gewesen war. Sein Herz war immer kalt gewesen, doch ihm lag tatsächlich daran, sie alles zu lehren, was für eine Königin wichtig wäre. Nun, nach seinem Ende, war das Eis geschwächt. Die Königin des Westens war gekommen. Es war also Zeit für das Feuer geworden:
Aenthalas war schwierig. Es war problematisch, zu erkennen, ob er etwas ernst meinte oder ob es einer seiner verrückten Scherze war. Eigentlich war er noch schwieriger zu deuten als Esthelion. Mal weinte der Rote Narr um seinen verstorbenen Erzfeind, dann wieder lachte er darüber. Wenn er ihr vom Feuer erzählte, dann wurde er sehr ernst, nur um kurz darauf einen unflätigen Spruch über ihre Brüste oder ihren Po zu machen. Aber Theresia übte Geduld und hörte zu, gleich ob er einen Witz machte oder ihr mehr über die Geheimnisse des Feuers, der Vulkane und über die Urgründe der elementaren Gewalten erzählte. Aenthalas schien zufrieden mit ihr. Sie teilten jede Mahlzeit miteinander, und am Abend tauschten sie ihr Wissen aus. Manchmal wechselten sie die Ebene der Existenz, und Aenthalas zeigte ihr Wunder, von denen keine Schulweisheit sich hätte erträumen können, dass es sie zwischen Himmel und Erde geben würde. Sie reisten an die Nebel von Saräus, tanzten mit den Feuerpferden des Rioth oder reisten mit der Feuerkapsel bis in die Gefilde Tirinaiths, wo sie den Sonnenläufern lauschten oder den roten Monden beim Untergehen zusahen.
In den stillen Nächten, wenn auch Aenthalas mal Schlaf brauchte, entsann sie sich an das letzte Gespräch, das sie mit Lord Baelon geführt hatte. Das war vor Wilderberg gewesen, vor der Befreiung der Feste durch Lord Carmon und Lord Melther:
"Wenn Lord Carmon die Festung eingenommen hat, was werdet Ihr dann tun, Mylady?"
"Lord Baelon, was erwartet Ihr von mir?"
"Das Volk braucht Euch. Lord Carmon wünscht sich eine Königin für das Land", sagte Baelon.
"Und Ihr?"
"Prinzessin Alysare ist jung. Und sie hat kein Anrecht auf den Thron. Nicht, seit die Glans taten, was sie taten. Der Tod meines Bruders und meiner Schwester hat Euch die Pforte geöffnet, Lady Theresia. Ich stehe Euch allein zu Diensten."
"Ich muss noch viel tun. Feuer und Eis waren nie unsere Feinde, aber ihre Methoden waren es. Jetzt, da Grauwind und die Königin des Westens gekommen sind, haben wir alle noch einen weiten Weg vor uns. Und vergessen wir nicht Caldorvan. Oder Giltheas."
Baelon nickte. "Werdet Ihr zurückkehren?"
"Ja, das werde ich."
Heute war wieder so eine stille Nacht. Aber sie wollte jetzt nicht an ihr Schicksal denken oder daran, ob sie jemals Königin sein würde. Heute wollte sie am liebsten wieder die kleine Theresia sein. Aber das war sie nicht mehr; nicht, seit sie Lazarus vernichtet hatte und Remigius geheilt. Seitdem träumte sie nicht mehr von Lerhon oder Remigius.
"Bist du traurig?", fragte eine sanfte Stimme. Da stand ein Mann vor ihr. Edel im Gemüt, mit Augen, blau wie das Meer vor Marjastika.
Theresias Herz pochte schneller. Was war das für ein Gefühl? "Wer bist du?", fragte sie.
"Ich bin Aurelion."
Lucius
Jeder Plan war nur so gut wie die, die ihn ausführen mussten. Und hatte er nicht seine Wölfe darauf eingeschworen, sie würden Velthan zum Sieg verhelfen? Hatte er ihnen nicht geschworen, dass die Zeit der Wölfe dann gekommen wäre, die Herrschaft der Grünen Hexerei, seine Herrschaft durch Velthan?
Als der Bursche im Kampf gegen den Schwarzdrachen gefallen war, hatte Lucius von Trar keine andere Chance mehr gesehen, als sich diesem Grauwind anzuschließen. Mit Oshinya hatte er abgemacht, dass sie versuchen würden, Roymar zu bekehren, sich von Sicarion abzuwenden, um dann gemeinsam gegen Bretonia zu ziehen.
All diese Vorhaben hatte der verdammte Untote, der verfluchte Caldorvan, vernichtet. Seine Untoten hatten mit ihm gespielt. Lucius musste sich eingestehen, dass der Untote die Burg bereits nach einem Tag hätte nehmen können, doch er kämpfte noch länger, um seine Armee zu vergrößern. Jetzt hatte Caldorvan von Torbrin gewonnen und seine alte Feste erobert. Und mit ihr all die Geheimnisse. Die Dokumente von Starys, mit deren Hilfe er den Blutigen Stumpf gerufen hatte, zum Glück hatte er sie ihm wieder überlassen. Doch die letzte Seite, auf der auch der Ritus der Vernichtung geschrieben stand, die hatte Lucius Starys nicht gegeben - denn er brauchte eine Sicherheit. Als aber die Untoten die Mauern erstürmt hatten, da war es zu spät gewesen. Jetzt war Caldorvan mächtiger als je zuvor.
"Was willst du noch hier?", fragte einer der Krieger, als Lucius und eine Handvoll Wölfe das Lager erreichten.
"Ist sie hier?"
"Wir können sie rufen. Im Augenblick plant sie gemeinsam mit ihren Schwestern das weitere Vorgehen. Aber ob sie dich freundlich empfangen wird, nachdem all deine Vorschläge sich als sinnlos erwiesen haben?"
"Ruft sie einfach her!"
Nach einigen Stunden erreichte Oshinya ihr Lager im Moor.
"Lucius von Trar. Wir haben dich schon unter vielen Leichenbergen gesucht, Landstreicher", spottete sie.
"Nun, wie du siehst, lebe ich noch."
"Was willst du noch? Meine Krieger beobachten weiter Sicarions und Roymars Treiben. Mutter Kelar berät den Untoten, sodass wir ihn uns vom Hals halten können."
"Ich will helfen. König Bathir muss sterben", antwortete Lucius.
"Dann solltest du folgende Dinge wissen: Für Bathir ist gesorgt, in mehrfacher Hinsicht. Außerdem ist nicht er das Problem, sondern Grauwind. Er plant etwas. Und er weiht meinen Heermeister nicht ein. Wir stehen also im Moment dumm da."
"Dann gehe ich zu ihm. Oder hat er meine Wölfe schon in die Wildnis verbannt?"
Oshinya lachte. "Sie sind noch am zerstörten Turm. Aber ob Sicarion dich noch braucht, nachdem du deine Festung aufgeben musstest?"
"Lass es mich versuchen. Ich habe nichts mehr. Entweder tötet er mich oder ich gewinne sein Vertrauen."
Oshinya war einverstanden. Lucius nahm ein Pferd, ritt durch den Wald, bis er die Ebene erreichte. Plötzlich hörte er wildes Geschrei, und Rauch stieg in seine Nase. Eine brennende Graserherde stürzte über die Steppe. Als Lucius Thyms Rast sah, da wusste er, dass er zu spät gekommen war.
Denyo
So ganz konnte Denyo verschiedene Dinge immer noch nicht ganz glauben. Zum Beispiel, wie er es vom Tagelöhner zum Räuber und Dieb und schließlich zum Retter der Flüchtlinge geschafft hatte. Argas war so ein Dummkopf gewesen, und vermutlich verrottete seine Leiche gerade irgendwo in einem Graben oder eben dort, wohin es ihn verschlagen hatte. Eigentlich musste Denyo seinen Wandel nicht glauben. Es reichte wohl, dass er damit erfolgreich gewesen war. Man hatte sie in Tilhold aufgenommen, und er wurde bald Vater. Irgendwie hatte er es geschafft, und er war zufrieden. Sein Vorleben als Gauner hatte er abgelegt, und sein Weib hatte es tatsächlich geschafft, dass er jeden Morgen und jeden Abend ein Gebet zu den Göttern sprach. Ja, Denyo war ihnen dankbar.
Dass einer der Gemeinschaft ein Diener von diesem Grauwind gewesen war, hatte ihn sehr beunruhigt. Noch am selben Abend ließ er sich von jedem seine Lebensgeschichte erzählen, da sich gezeigt hatte, dass Geheimnisse schnell zu Problemen werden konnten.
Seine eigene Geschichte ließ er dabei nicht aus; wie er geraubt und geplündert hatte; wie er schon als kleiner Bub gestohlen hatte. Aber einen Mord, nein, einen Mord hatte Denyo nie begangen.
Gut, da war das Scharmützel mit den Grenzwachen von Peliad gewesen - aber das war im Großen Krieg gewesen, und Peliad gab es nicht mehr, denn da herrschte nun nach Dunkelwald erst Caenor und dann dieser Grauwind. Er ließ also diese Geschichte, wie er den jungen Milizionär im Kampf erschlagen hatte, besser aus. Abends entschuldigte er sich bei den Göttern.
Denyo lag gerade neben Mertha und hielt ihren Bauch. Ein Kind. Und es sollte besser aufwachsen und leben als sein Vater es getan hatte. Niemals sollte es auf so eine schiefe Bahn kommen, und es sollte nicht hungern, genug Kleidung haben und gute Freunde. Wahrscheinlich würde Denyo mal in Nordstein nach Arbeit suchen, sobald alle Flüchtlinge untergebracht waren. Konnte ja nicht falsch sein. Vielleicht als Wache auf den Zinnen zum Wilderland oder als Stallbursche, vielleicht sogar Koch. Talente hatte er in seinem Räuberleben eigentlich genug angesammelt. Und Mertha und das Kind wären abgesichert. Vielleicht eine kleine Stube in Nordstein, für den Anfang. Irgendwann könnte er ein Haus im Norden bauen. Ja, sie kämen klar. Irgendwie war er zufriedener geworden. Sogar irgendwie glücklich.
"Autsch", seufzte Mertha und wachte davon auf.
"Was ist? Ist etwas nicht in Ordnung? Das Kind?"
"Es ist noch etwas jung, um zu treten, meinst du nicht?", fragte sie.
"Na, was weiß ich denn. Was hast du?"
"Hab nur falsch gelegen. Dieses Zelt, der harte Boden, das nervt langsam."
Er nickte. "Morgen frage ich in Nordstein, ob du ein Bett kriegen kannst."
Mertha lächelte, gab ihm einen Kuss und schlief bald wieder ein. Ihr Haar leuchtete im einfallenden Mondlicht golden, und Denyo liebte sie wirklich, wie er bemerkte.
Roan
Xenophilius hatte eine magische Botschaft schicken lassen, da Roan noch für einige Tage in Wilderberg bleiben wollte: Die alte Frau hatte, wie es ausgemacht war, sich das Dokument Tyrells angesehen - und es war bestätigt worden, dass nur Sicarion Grauwind Lord Brioless heilen könnte. Da es gewisse Pläne gab, den Pakt Grauwinds mit der Königin des Westens zu brechen, bedurfte es Zeit und genauer Planung. Man musste Grauwind zwingen, Brioless zu helfen. Danach sollte mit dem Tectarier geschehen, was auch immer geschehen mochte.
Roan hatte zudem noch andere Sorgen. Ihm war wohl zu Ohren gekommen, dass Caldorvan von Torbrin seinen Tod wollte. Nicht dass er sich fürchten würde, der verdammten Schlange ein weiteres Mal im Zweikampf zu beweisen, wer der bessere Streiter war, doch die Tatsache, dass es sich nun um einen sehr mächtigen Leichnam handelte, mit einer riesigen Armee im Rücken, ließ doch einige Bedenken in Lord Carmon aufkommen. Er würde Waldwacht noch mehr absichern müssen. Vielleicht sollte er dem Untoten zuvor kommen und ihn fordern? Nein, erst mussten noch andere Dinge geregelt werden. Sir Roymar hatte den Thron von Bathir gefordert. Also musste nun entsprechend reagiert werden.
"Meint Ihr nicht, dieser Schritt sollte mit Lord Baelon besprochen werden?", fragte Lord Melther.
"Lord Baelon favorisiert nach meinem Wissen dieselbe Königin wie wir. Er wird also damit einverstanden sein, nicht wahr?"
"Gewiss, Roan, doch ich meine etwas anderes."
"Wilion, mir ist bewusst, was Ihr meint. Doch habe ich nicht vor, einem Glan diese Position zu schenken. Der Name ist mit Blut und Schande verbunden. Auch wenn Baelon anderen Schlages ist. Und jetzt, nachdem das Land einen neuen Lethos hat, sollte man nicht auch noch die andere Position einem Namen geben, den man mit Dunkelheit in Verbindung bringen könnte."
"Die Götter haben diesen Lethos gewählt. Selbst Ascanio unternimmt nichts. Es ist, wie es ist. Wollen wir also wirklich noch mehr Unruhe stiften?", fragte Melther.
"Ja, wollen wir. Müssen wir. Ich bin fest entschlossen, dass es nur so gehen wird. Gehen muss!"
Da traf ein Meldereiter ein. "Mylords?"
Sir Leyris, der die ganze Zeit geschwiegen hatte, nahm die Botschaft an sich. "Bei den Göttern. König Bathir hat die Stadt auf Geheimwegen verlassen!"
"Wieso das?", fragte Roan verblüfft.
"Der Lethos. Die Soldaten haben dem König nach der Offenbarung den Dienst verweigert."
"Ausgezeichnet. Auch wenn ich immer noch entsetzt bin, was die Wahl der Götter angeht", murrte Roan.
"Werdet Ihr dennoch den Erlass verkünden?", fragte Melther.
"Ja, das werde ich."
Sir Leyris räusperte sich. "Mylords, da ist noch etwas."
"Was?", fragten beide Lords gleichzeitig.
"Man zieht gegen Wilderberg."
Fortsetzung folgt.
Alea iacta est.
Die Würfel sind gefallen!
Die Würfel sind gefallen!
Ein neuer Anfang - Teil 2
Malcoyn, ein Wanderer
Die Sonne ging auf hinter den weiten Hügeln, und der Morgentau, noch gefroren, glänzte wie Kristall. Langsam erwachten diejenigen, die sich noch nicht in die Winterruh gelegt hatten. Der alte Bär zum Beispiel. Zwar hatte er sich schon genug Fett angefressen, so wie Malcoyn es beurteilte, aber dennoch verließ er immer noch jeden Morgen seine Höhle, weil es sicherlich noch etwas zu tun gab. Oder der große Hirsch. Kein Jäger würde es wagen, ihm etwas anzutun. Winterschlaf war ohnehin nichts für ihn, aber auch er schien dieser Tage rastloser als sonst. Ja, überall war man noch geschäftig.
So war es auch bei Malcoyn. Seine alten Beine waren immer noch kräftig, seine Arme fest und flink, genau wie sein Geist. Er fühlte sich bereit. Wie jeden Tag, wenn er durch die Grünsteppe wanderte, die im Winter hellblau am Morgen glänzte, bis sie in der Mittagssonne, die verborgen hinter grauen Wolken schlummerte, langsam ihre Farben verlor und wie ein fahler Teppich in den Nachmittag döste.
Malcoyn ging geradewegs zum Fluss, der in diesen kalten Tagen schon stellenweise vereist war. Aber ihm machte das nichts aus. Den Fellmantel und die Wollsocken, die Lederhose und das Leinenhemd warf er ans Ufer und sprang ins Wasser. Tief Luft geholt, dann ging es abwärts. Die Reusen waren alle gefüllt. Kleine Forellen, einige Krebse und sogar eine Sandkrabbe hatten sich darin verfangen. Ein guter Tag war das. Zufrieden nahm er die Beute, tötete sie flott und packte alles in den riesigen Sack aus Blattwerk. Dann zog er sich an, lief zur nächsten Lagerstatt und bereitete sein Frühstück vor. Ganz mit sich und der Wildnis allein sprach er ein kurzes Gebet zum Erlenkönig, dann sättigte er Hunger und Durst. Der Schlehenschnaps ging runter wie Öl. Wenn es kalt wurde, war das wichtig. Am Morgen sollte man nicht zu viel Alkohol trinken, so hatte es Veltharion immer gesagt, aber seit so vielen Jahren war Malcoyn schon allein, dass er diese Augenblicke mehr schätzte als jede Warnung oder alle Bedenken dieser Welt.
Nun, ganz allein war er natürlich nicht. Da waren immerhin seine schweigsamen Freunde. Aber er rief sie nicht oft. Dies war etwas, das er auch von Veltharion gelernt hatte. Man durfte das Grün nicht herausfordern. Und jetzt, da erst Skogung, das Waldkind, und nun auch Velthan gestorben waren, was sollte man noch tun? Sicher, er könnte sich Kithei anschließen. Oder Oshinya. Oder vielleicht auch Sverka.
Aber, nein, dafür war Malcoyn nun doch zu alt. Krieg war seine Sache nicht. Vielleicht könnte er Mutter Kelar besuchen. Doch war die nicht nunmehr Beraterin des Schwarzen Mannes geworden? So hatten es die Schnickerdickel zumindest erzählt. Und Herr Dachs hatte es bestätigt. Als die Königin des Westens ins Land gekommen war, da hatte Malcoyn erneut den Schmerz in der Brust gespürt. Derselbe Schmerz, wie an dem Tag, als Skogung diese Welt verlassen hatte. Die gleiche Pein, die er fühlte, als Velthan sich geopfert hatte. Seufzend schloss er eine Weile die Augen. Er war in den letzten Jahren so müde geworden. Wie gern würde auch er endlich gehen. Es gab doch nichts mehr zu tun.
Gegen Mittag erreichte Malcoyn den Einsamen Wall. Er hatte damals gesehen, wie er errichtet wurde. Die Tirinaither wollten das Inland vor den wilden Horden sichern und hofften, eine große Mauer würde den Leuten genug Angst machen. Irgendwie war das ja auch so. Auch er mochte dieses Ding nicht. Doch im Sommer gab es einem kühlen Schatten, im Winter schützte es vor den Nordwinden. Hier machte er wieder eine Pause. Das tat er in den letzten Jahren oft. Selbst ein Riese wie er war irgendwann müde. Menschen fürchteten ihn, obwohl er gar keine schlechten Absichten hatte. Tiere betrachteten ihn als Jäger, obwohl er nur Fische fing. Es war kein leichtes Leben gewesen.
Nur Veltharion, der hatte ihn respektiert und zum Wächter des Grüns ernannt. Der Erlenkönig selbst hatte ihn gesegnet. Aber nun, wo der Krieg gekommen war, da war alles anders geworden. Er hatte einfach keine Aufgabe mehr. Er war der letzte Grünriese auf der Welt. Jetzt wurde Malcoyn wieder traurig. Und wenn er das war, dann flüsterte er leise die Worte, machte eine Handbewegung, und das Moos kam in Wallung. Schon stand sein stiller Freund, ein Golem, bei ihm. Stumm betrachteten sie einander, stundenlang, bis Malcoyn ihn wieder ziehen ließ.
Nein, da war einfach nichts mehr zu tun. Der Tag war nimmer mehr gekommen. Jener Tag, an dem die Krone ihm gegeben werden würde, damit er zu neuer Größe fände. Es war einfach nicht geschehen. Vielleicht sollte er beschließen, zu sterben. Es würde dann vielleicht endlich auch passieren. Das tat es aber nicht.
So zog er weiter, der einsame Riese, bis er am Abend, da die Sonne schon längst in tief vergessenen Schatten lag, das Dickicht die Sehnsucht der Dämmerung umfing, die Ruine sehen konnte. Aber da war noch etwas anderes. Lärm. Da waren Leute.
Da war der Krieg.
Justus, ein Hufschmied
So ein Mistwetter. Sicher, der Winter kam. Und zwar schnell. Aber diese Plästerei hörte ja gar nicht mehr auf! Murrend rannte er vom Zelt in die Stallungen, wo die Arbeit auf ihn wartete. Der Zosse starrte ihn an. Eigentlich mochte Justus Pferde überhaupt nicht. Aber er hatte ein geschicktes Händchen, sodass man ihn immer gern in Anspruch nahm, wenn es was zu tun gab, sich irgendein Gaul den Huf verletzt hatte oder es ein Hufeisen zu wechseln gab. Wie heute. Ein beschissener Tag war das gewesen, und da hatte Justus noch keinen blassen Schimmer, dass das alles noch steigerungsfähig gewesen war.
"Glotz doch nicht so. Verbieg deine Eisen nicht dauernd, und du siehst mich nicht wieder", knurrte er den Hengst an. Das war der Gaul von irgendeinem Schnösel, der es sich gerade im Tavernenzelt gemütlich machte, während Justus durch das Sauwetter latschen durfte, damit er dem Gaul auf die Hufe helfen konnte. Das Pferd antwortete natürlich nicht. Stattdessen machte es einen schönen Haufen. "Na, danke", murrte Justus.
Erstmal musste der ganze Dreck weg. Justus nahm ein schmales Eisen und kratzte den Huf frei. Da sah er dann auch, warum das Viech so störrisch war. Der Huf war ganz warm und die Haut geschwollen. "Der Gaul hat die Rehe. Toll", murmelte er. Das Pferd schnaubte. Justus nahm etwas Heu, darauf legte er eine Decke. "Stell deine Latschen da drauf, Zosse." Dann füllte er einen Eimer mit kaltem Wasser, um den Huf und das Bein zu kühlen. "Rüben sind ab heute gestrichen."
"Was hat es denn?", fragte der Schnösel.
"Hat die Rehe. Wie weit seid Ihr geritten? Hat der Gaul denn keine Rast bekommen?"
"Ich war in Eile."
"Tja, der Gaul prescht nicht mehr. Auf jeden Fall die kommenden Tage nicht", erklärte Justus ihm.
"Nun, dann brauche ich Ersatz. Ich muss dringend nach Wilderberg. Kann ich mir ein Pferd mieten?"
"Klar. Fragt Ranin."
Der Schnösel lieh sich ein Pferd und preschte davon. Justus indes pflegte Bein und Hufe des Pferdes. Nun tat ihm der Gaul doch leid. "Wird schon wieder, Bursche."
Harold kam des Weges. "Hast das Pferd vom Lord bekommen, mh?"
"Der wird sich das Tier schon wieder abholen. Ist ein edles Ross, wenn man es genau nimmt. So edel wie der Reiter. Wer war das überhaupt?"
"Das? Das war Lord Melther von Wilderberg", sagte Harold.
"Aha. Sagt mir nix."
Weiter kamen die beiden nicht in ihrer Konversation. Plötzlich lärmte es von der Ebene her, und aus Bredorf kam überdies eine ganze Reiterei. "Was ist hier denn los?"
Da kam der Krieg über die Raststation.
Justus packte seinen Kram und wollte sich schnell davon machen, als Harold bereits durch einen Pfeil nieder gestreckt worden war. Der Schmied warf einen schnellen Blick in den Stall, während um ihn herum das Chaos ausgebrochen war. Das Pferd starrte ihn wieder an. Justus knurrte und atmete aus. "Ja, schon gut. Komm, wir vermachen uns, aber flott!"
Der Hufschmied, der Pferde eigentlich nicht leiden konnte, rettete das edle Ross des Lords also heute mehr als einmal.
Alysare
Die kleine Prinzessin saß auf dem Bett und lauschte gebannt den Geschichten von Ephyre. Irgendwie mochte sie diese mürrische Frau. Sie war sogar sehr hübsch. Nicht so edel wie eine Königin, aber sehr ansehnlich. Bestimmt hatte sie viele Verehrer. Und außerdem war sie geübt im Umgang mit dem Schwert. Das war eine gelungene Kombination, befand Alysare. In diesen Zeiten musste eine Frau alles können und alles schaffen. So hatte ihr Ephyre das gesagt. Diese Frau war die Hüterin Samgards, aber Alysare hütete sich, auch danach zu fragen. Manchmal, das wusste sie von Onkel Baelon, war es besser, nicht nachzuhaken. Zwar war Wissen wichtig, aber Unwissen konnte einem auch das Leben retten, ja, genau, so hatte er es gesagt.
"Du wirst bald wieder in die Stadt gehen, kleine Prinzessin."
Alysare nickte eifrig. "Kommst du mit? Bestimmt wird man deinem Bruder dort helfen und ihn aufnehmen. Mein Onkel ist jetzt Truchsess. Was das genau ist, weiß ich nicht, aber er darf jetzt Sachen entscheiden."
"Ich weiß es nicht. Es gibt viele Probleme. Aber ich will dich damit nicht beunruhigen", sagte Ephyre.
"Nein, ich will es wissen. Man soll nicht alles wissen. Aber wenn Lady Theresia meine Königin ist, will ich ihr helfen können."
"Viele wollen die Königsklinge."
"Samgard."
Ephyre seufzte. "Ja. Samgard. Doch es wählt seinen Träger ganz allein. Ich muss es beschützen. Der Untote will es, Sicarion Grauwind will es. Alle wollen es haben."
Alysare nahm ihre Hand. "Aber du bist die Hüterin. Du entscheidest, wer geprüft wird und wer nicht. Es ist sicher versteckt."
"Ich danke dir."
"Jetzt machst du dich lustig", lächelte Alysare.
"Nein. Nein, ich meine es so."
Sie sprachen noch eine Weile miteinander, dann kümmerte sich die schöne Frau wieder um ihren Bruder Ephyrdan. Alysare wollte nicht stören und lief durch Tilhold. Sie war so glücklich, dass ihr Onkel nun endlich für Ruhe in Bretonia sorgen würde. Der Tod ihres anderen Onkels betrübte sie nicht mehr, denn er hatte böse Dinge getan. Und ihre Mutter, obwohl sie sie geliebt hatte, sie war daran beteiligt gewesen. Es war hart, es war grausig, aber es war gerecht, dass sie gehen musste.
Ihre Träume von der Klinge und der Goldenen Königin behielt die Prinzessin lieber für sich. Wie die goldenen Arme sie packen wollten oder wie das Schwert in ihre Seele schneiden wollte - all das sagte sie keinem. Immerhin musste eine Prinzessin Stärke zeigen.
Als sie das kleine Lager von Denyo und den anderen erreichte, spielte sie erst ein wenig mit den Kleinen, dann ging sie wie immer zu Mertha, um nach ihrem Befinden zu fragen.
"Geht es dir nicht gut, Mertha?", fragte sie, als sie sah, wie die werdende Mutter ihren Kopf hielt.
"Nein, nein, schon gut. Ich bin nur müde."
Elyarn
Die Kämpfe waren beendet. Sir Allyen und die anderen hatten Recht behalten. Sich auf die Seite des Nordens zu stellen, das war die richtige Wahl gewesen. Nicht nur das sinnlose Morden an Eisenwalls Grenze zur Stadt hörte endlich auf, auch die Soldaten schienen erleichtert, und die einfachen Leute waren zufriedener geworden. Aus Edailech erreichten Elyarn auch gute Neuigkeiten, denn die Blodhord und die Nordleute behandelten die Bewohner gut. Vielleicht, aber Elyarn würde damit noch warten, würde man eines Tages Edailech wieder eingliedern können.
Sein Onkel musste toben. Erst das Erscheinen des neuen Lethos Mercutio, dann verweigerten die Soldaten ihren Dienst und nun gehörte Bathir auch nicht mehr zum Eisenwall, denn Elyarn würde sich auch öffentlich dem König entsagen. Jetzt, da Lord Baelon das Kommando übernommen hatte, könnte er sich ihm anschließen, ihm und Lord Carmon.
"Mylord Dryr?"
"Ja?"
"Es ist Besuch gekommen. Lord Melther bittet um ein Gespräch", sagte der Diener.
"Bittet ihn hinein."
Lord Melther betrat den Saal, grüßte knapp, und nahm Platz, als Elyarn ihm einen Stuhl gedeutet hatte. "Wir müssen reden", sagte der Waldläufer.
"Was gibt es, Lord Melther?"
Er schien sehr in Sorge zu sein. "Ich komme aus Waldwacht. Gestern hat es einen Angriff auf Wilderberg gegeben, und Lord Baelon hat Sir Starys in den Kerker geworfen. Dort wird er ein paar Tage bleiben, dann wird er in den Rang eines Infanteristen gestellt."
"Wilderberg ist sicher?"
"Ja."
Elyarn nickte erleichtert. "Nun, das sind gute Neuigkeiten. Wir hier sind keine Freunde von Starys. Und Ihr wohl auch nicht."
"Das ist richtig. Doch Lord Carmon beansprucht den Rang eines Truchsess. Ich war in Waldwacht, um ihm davon abzuraten. Ich halte Lord Baelon für geeignet und mehr als fähig, dieses Amt auszufüllen."
"Natürlich. Das sehe ich auch so. Aber sicher werden Lord Roan und Lord Baelon sich einigen können? Immerhin wünschen sie sich Lady Theresia als Königin. Das ist eine Gemeinsamkeit", sagte Elyarn.
"Das ist ebenso richtig. Und doch will Roan nicht verzichten. Er sagt, er diente dem Reich schon, als Baelon noch mit seinem Bruder um die Wette geritten war. Daraus erhebt er seinen Anspruch und seine Gründe."
"Was sagt Lord Baelon dazu?"
Melther trank einen Schluck Wein. "Baelon würde, wie ich ihn kenne, verzichten. Aber ich glaube, er teilt meine Befürchtung."
"Welche?"
"Roan wird mehr wollen. Ich spüre, dass ein Teil seines Herzens über den Stuhl des Truchsess hinaus auf den höher gelegenen Platz blickt. Auf den Thron des Reiches, Lord Elyarn."
"Das wäre fatal. Das Reich ist nicht in der Lage, noch einen Konflikt auszutragen. Bedenkt Caldorvan, bedenkt Sicarion. Wenn sie kommen, dann muss das Reich geeint zusammen stehen. Und ich glaube, nur ein Lord Baelon vermag das. Das Volk liebt und ehrt ihn. Ich habe oft genug gehört, wie mein Onkel darüber geflucht hat."
Melther nickte. "So ist es, Lord Elyarn. Ich habe mit Magus Xenophilius gesprochen, mit Heermeister Emes, mit Sir Leyris und sogar mit Artim Mudden. Allesamt Vertraute Roans. Und sie sehen es wie ich: Roan ist eine wichtige Figur, aber seine Position sollte die eines Marschalls oder gar Seneschalls sein, meinetwegen der eines Reichsverwesers Süd, aber, bei Liras, nicht der eines Truchsess oder gar Königs. Er will sogar darüber nachdenken, Caldorvan anzugreifen. Wie Ihr wisst, haben beide noch offene Rechnungen zu begleichen. Ich fürchte, Carmons Erfolg in Sachen Wilderberg, obwohl ich ebenso wie die Getreuen von Brioless daran beteiligt war, hat ihn sehr motiviert."
"Was soll ich tun? Ihr seid nicht nur hier, um mir davon zu erzählen, Lord Melther."
"Richtig", seufzte Wilion, "ich bin hier, weil ich Eure Versicherung und einen Eid möchte."
"Einen Eid?", fragte Elyarn ernst.
"Ja, einen Eid. Folgt mir, folgt Brioless, folgt Baelon, falls Lord Roan Konsequenzen ziehen sollte. Lord Baelon hat ihn, mich und Sir Leyris eingeladen, und ich möchte Euch bitten, mich zu begleiten. Wir müssen gemeinsam reden, um das Reich zu sichern. Wir dürfen uns nicht gegenseitig bekriegen."
"Ich werde kommen."
Lord Melther leerte den Becher, dann sprachen sie noch über die allgemeine Lage, bis der Waldläufer wieder nach Wilderberg aufbrechen musste. Elyarn indes ließ das Feuer im Kamin entfachen, nahm noch einen Krug Wein und grübelte. Die richtige Feuerprobe stand also noch bevor. Und er fragte sich, wer ihm lieber als Feind wäre: Caldorvan, Sicarion oder Roan? Er hatte keine Antwort. Vielleicht würde Lady Lyst etwas dazu sagen können. Wer war diese Frau, die ihn so verzaubert hatte?
Starys
Ein Fluch auf alle! Verdammt, mit allem, was er getan hatte, wollte er nur das Reich beschützen. Und war es nicht Sir Allyen selbst gewesen, der immer gesagt hatte, dass man im Krieg viele Methoden ins Auge fassen musste, die nicht immer gut wären, aber ein gutes Ergebnis abliefern würden? Nun, damit hatte er wohl nicht gemeint, einen Untoten zu rufen. Oder den Schlächter des Eisenwalls zu verführen, einen edlen Ritter zu morden. Oder genau diesen Schlächter auf den Thron zu bringen. Aber der Untote, er hatte ihm keine Wahl gelassen. Ja, einen Fluch auf Trar, dass er ihm das Dokument der Vernichtung genommen hatte! Starys hätte alles wieder richten können, nun war es zu spät!
Als Soldat würde er nun dienen. An vorderster Front, wie Baelon ihm gesagt hatte. Er war kein schlechter Kämpfer, im Gegenteil. Aber auf dem Feld machte es irgendwann keinen Unterschied. Das Blut eines Ritters, der er dem Titel nach nicht mehr war, war ebenso rot wie das eines Soldaten, eines Söldners oder Milizionärs. Jetzt bekam er wohl das, was er verdiente. Entweder würde einer dieser Eunuchen ihn aufspießen oder er würde Teil von Caldorvans schwarzer Armee werden. Mit etwas Pech aber käme ihnen diese Furie zuvor, diese Kithei. Was musste Marryn sie auch schwängern? Ja, ein Fluch auf sie und Marryn!
Im Kerker war es kalt. Und dunkel. Wie oft hatte er den Anblick der jammernden Gefangenen genossen, wie oft hatte er sie verspottet! Und nun? Nun war er es, der sein trockenes Brot und das trübe Wasser mit den Ratten teilen durfte. Er trat nach den krächzenden Viechern, jagte sie mit Schimpfworten davon. Nach einigen Stunden hatten sie alle Namen: Die fette dort hinten, das war Bathir, der ihn im Stich gelassen hatte; und dort, die mit den Auswüchsen am Arsch, das war Baelon; da hinten, die Ratte mit den roten Augen, das war der Rote Narr; selbst Petyr und Irinia erkannte er wieder. Das Königreich der Blinden, und er war der König aller Ratten. Hatte er nicht allen gedient? Nun waren sie alle hier, auf eine gewisse Weise, aber nur er war wirklich hier. Starys, der Diener, Starys, der Gefangene. Das war also des Dieners Lohn; der Lohn der Mühen, der Lohn der Erniedrigung. Ein Fluch auf alle! Ein Fluch auf sich selbst!
Die schwere Eisentür wurde geöffnet. Wahrscheinlich wieder Soldaten, die nicht glauben wollten, was sie nun sehen würden. Man würde ihn verspotten und seinen schäbigen Anblick genießen. Ein Fluch auf sie! Ein Fluch auf sich selbst!
"Hoch mit Euch, Starys", sagte eine Stimme.
"Wer da? Was gibt es denn noch? Meine Zeit schon um? Dann drückt mir eine Klinge in die Hand, und ich ziehe in den Krieg. Wählt aus. Caldorvan, Grauwind oder lieber Kithei? Könnte mir denken, es würde jeden freuen."
"Nichts dergleichen, Sir."
"Ich trage keinen Titel mehr. Schon vergessen?", fragte Starys und lachte.
"Nichts ist vergessen. Nun steht auf."
Starys tat, was man ihm sagte. Einige Stunden später lachte er wieder. "Ein Fluch auf sie alle."
Sicarion
Es war anstrengend, die geistige Verbindung mit dem Mann zu halten, der sich als Sicarion Grauwind auszugeben hatte. Aber es war notwendig. In diesem Land lebte man auch in Friedenszeiten nicht lang, wie war es dann also im Krieg? Sicarion musste oft ruhen, um seine Kräfte zu sammeln. Dass man ihn längst durchschaut hatte und den Schwindel erkannt hatte, änderte nichts daran, den Spuk aufrecht zu erhalten. Denn aus der Ferne Wissen zu sammeln, Befehle zu erteilen und zu handeln, war ein Vorteil. Ein Hoch auf die Inquisitorenakademie Tectarias. Und ein Fluch auf alle Feinde der Königin des Westens!
"Was, wenn sie die Frist verstreichen lassen? Wenn sie das Schwert nicht ausliefern?", fragte Jaravhar, der schwarze Heermeister Marjastikas.
"Oh, ich gehe sogar davon aus. Alles hat seine Richtigkeit. Das Schwert wird früher oder später seinen Träger wählen, seid gewiss. Sie haben den Kopf meines Bruders ausgeliefert und fühlen sich sicher."
Jaravhar runzelte die Stirn. "Der Kopf... es ist nicht der Kopf Ephyrdans. Ich habe ihn eingehend geprüft. Eine perfekte Täuschung. Aber Aenthalas' Zauberei, sie stinkt. Ich rieche sie."
"Ich weiß", lachte Sicarion, "auch das ist richtig. Auf diese Weise werden wir herausfinden, wo das Schwert ist. Wenn sie es nicht ausliefern, und das werden sie nicht, finden wir es auf andere Weise und lassen sie bezahlen."
"Herr, sie haben den zweiten Teil des Paktes erbeutet. Die Königin ist nicht erfreut."
Sicarion stimmte mit einem Nicken zu. "Nein, das ist sie nicht. Und ich gebe zu, auch mich beunruhigt das. Was wissen wir über Giltheas? Wo hält er sich auf?"
"Wir haben einige Quentar verfolgt und konnten das Zielgebiet eingrenzen", antwortete Jaravhar.
"Und die Elaya? Wir müssen davon ausgehen, dass sie den zweiten Teil nach Tilhold bringen wird. Die Midgarder segeln weiter nordwärts. Sie scheren uns nicht weiter."
"Unauffindbar."
Sicarion knurrte. "Mir scheint, wir liegen zurück in unserer Planung. Wann ist das Signal bereit? Wir müssen Saban von Torbrin in unsere Gewalt bringen. Aurelion mag näher sein, aber er ist geschützt. Wir wollen die Wesen des Waldes nicht gegen uns aufbringen. Denn ich vermute, er ist dort."
"Das Signal ist bald bereit. Aber, Herr, was ist so wichtig an Saban? Sein Vater, Caldorvan, er ist die Bedrohung. Er will Aran, seinen Neffen, zum König ernennen."
"An Saban ist nichts wichtig. Wichtig ist, was er über seinen Bruder weiß. Liege ich richtig, dann ist dieser eine größere Gefahr als sein eigener Vater. Und er weiß es nicht. Dabei muss es bleiben", sagte Sicarion.
Jaravhar nickte. "Ich verstehe, Herr. Nun, da ist noch etwas: Nachdem Giltheas sich zum Lethos dieses Irrglaubens ernannt hat, ist König Bathir geflohen. Wir wissen, wo er ist. Soll ich die Verfolgung aufnehmen?"
"Nein. Sorgen wir dafür, dass andere es erfahren. Bathir interessiert uns nicht weiter."
Jaravhar befolgte den Befehl. Dann kehrte er zurück zum Leuchtturm, während Sicarion Kontakt mit der Königin aufnahm. Dazu kniete er gen Wesen, sprach das Gebet zur Goldenen und wartete, bis er den hellen Stern, den er Glorianna nannte, am Himmel sah.
"Meine Königin", sagte er leise.
"Die Prinzessin. Man bringt sie bald zurück nach Bretonia. Dies soll auch geschehen. Aber ich will dabei sein, wenn sie mit Baelon redet", sprach die goldene Stimme.
"Sehr wohl, Majestät."
Dann berichtete sie ihm alles, was in Tilhold besprochen wurde. Sicarion nickte zufrieden. Er freute sich auf den Moment, wenn er den Untoten niederstrecken würde. Und dann, endlich, wäre seine Zeit gekommen. Er musste nur noch Saban finden.
Nun, wenn die Königin bei Baelon sein wollte, würde das natürlich große Schmerzen verursachen. Nicht dass ihm die Frau leid täte, aber Sicarion wusste eines sicher: Nichts war schlimmer als eine rachsüchtige Mutter oder ein zorniger Vater.
Baelon
Starys im Kerker. Baelon kam nicht umhin, das ein oder andere Schmunzeln nicht mehr verbergen zu können, als er die Armeelisten studierte und Starys zunächst für die Entsatztruppen Nordtor eintragen ließ. Sollte er doch genau dort kämpfen, wo Dryr für ihn Marryn getötet hatte. Und zwar gegen die Krieger jenes Heerführers, der ihm den Befehl erteilt hatte: Caldorvan.
Dass ausgerechnet Mercutio von den Göttern erwählt worden war, das war natürlich recht pikant. Aber Giltheas hatte ein Zeichen gesetzt, zweifellos. Alle Soldaten kehrten um. Sie befolgten keinen Befehl König Bathirs mehr. Stattdessen erhoben sie ihre Klingen, riefen laut Baelons Namen und stellten sich in seinen Dienst.
"Heerschar Süd, sichert Bredorf! Und verfolgt diese verdammten Räuber. Macht keinen Halt, selbst wenn es der Schwarze Stab ist. Gefangene bringt in die Stadt, alle anderen tötet an Ort und Stelle. Entsatz Süd, verteilt aus den Kornspeichern Saatgut und Nahrung an alle in den Kernlanden."
"Jawohl!", riefen sie.
"Heerschar Nord, verteidigt das Nordtor gegen den Untoten! Alle Söldner des Schwarzen Stabes, die sich Sir Belforrs Anordnungen widersetzen, gelten als Feind. Versucht, sie gefangen zu setzen, denn sonst wird der Untote seine Armee auch noch mit Söldnerpack verstärken!"
"Jawohl!", riefen sie.
"Stadtgarde, auf die Zinnen! Bereitet Kessel mit Pech vor, besorgt Euch Pfeile in der Waffenkammer. Zeugmeister, Ihr tauscht bei den hiesigen Händlern Nahrung und Silber gegen Munition."
"Jawohl!", riefen sie.
"Miliz, sichert Marktplätze, Straßen und Plätze. Sagt den Menschen, alles wird gut."
"Jawohl!", riefen sie.
Dann sprach Baelon zu den Priestern und Messdienern, zu den Brüdern und Schwestern:
"Bestellt den Abt in die Kanzlei. Und sorgt dafür, dass die Armenhäuser versorgt werden. Ich wünsche neue Decken, frische Bettwäsche und vor allem sauberes Wasser für die Menschen. Wer arbeiten kann, der versorgt die Soldaten. Wer krank ist, der mag von mir aus sogar im Palast versorgt werden, wenn in den Lazaretten kein Platz mehr ist."
"Ja, Lord Baelon", riefen sie.
Dann ging Baelon in die Stallungen, ließ ein Pferd satteln.
"Wer seid Ihr? Ein neues Gesicht", stellte er fest.
"Justus der Name. Ich habe es bis hierher geschafft."
Baelon nickte ernst. "Der Angriff, nicht wahr? Nun, ich habe alles zur Verteidigung geschickt, was noch stehen kann. Es MUSS reichen. Was ist das da für ein Pferd?"
"Es gehört Lord Melther. Ich bringe es ihm zurück, sobald es gesund ist."
"Ihr seid ein guter Mann, Justus."
Baelon ritt durch die Straßen. Seine Befehle wurden in die Tat umgesetzt. Doch Baelons Ziel war die Straße des Hurenhauses. Nicht etwa, um gerade jetzt Trost in den Lenden einer schönen Frau zu suchen, sondern weil es in der Nähe ein Waisenhaus gab.
"Ihr seid der neue Vorsteher?", fragte er den alten Mann.
"Ja. Seit mein Vorgänger...tot ist."
"Die Zustände hier sind erschreckend. Nehmt dieses Schreiben und lasst Euch Nahrung, Wasser und vor allem warme Kleidung geben. Mit dem Segen des Lethos. Er hat es persönlich gewünscht."
"Danke, Mylord."
Schließlich drehte Baelon seine Runde, bis er die leeren Hallen des Thronsaals erreichte. Der Stuhl des Truchsess war aus einfachem Holz, unbequem und morsch. Genau richtig für das wichtige Amt, befand er ohne Ironie. Eine Weile saß er da und dachte nach. Über den Untoten, über Grauwind. Aber vor allem über Roan. Nein, Baelon konnte nicht weichen. Die Leute aus dem Norden lagen wohl recht in der Annahme, Carmon würde mehr wollen, als nur im Namen eines Königs oder einer Königin das Reich zu verwalten.
"Mylord?", fragte ein Diener, der hastig in den Saal eilte.
"Ja? Ich komme sofort, es gibt noch viel zu tun."
"Mylord, es gab einen Zwischenfall."
"Was ist es jetzt?"
Nachdem der Diener berichtet hatte, wäre Baelon beinahe geplatzt. "Das ist ein Scherz, ja? Nun, dafür ist ganz bestimmt JETZT nicht die Zeit!", fuhr er den Burschen an.
"Ich bedaure, Mylord, es ist wahr."
"Schafft mir SOFORT die Verantwortlichen her. UMGEHEND!"
Mercutio
Als er das Skelett nach dem Ritus des Vollendeten Urteils gefragt hatte, als Darius geantwortet hatte, da hatte Giltheas Hlifa versichert, er würde Lethos sein, wenn sie sich wieder begegnen würden. Er durfte die Nordfrau nicht enttäuschen, hatte er danach gedacht und musste etwas schmunzeln. Schließlich war er in die Tiefe der Katakomben gegangen:
Es war mühsam, den Eunuchen Grauwinds und den Echsen zu entgehen, doch im Schutze der Nacht und durch das Verschleiern seiner Aura konnte er den Lebanschrein nahe Hohenfels erreichen. Janus Theren hatte das Sanctum gut gepflegt, sodass er schnell das Allerheiligste betreten konnte. Das Blutpergament, mit dem sich die Kandidaten in den alten ehrwürdigen Zeiten auf die Wahl der Götter vorbereiteten, lag immer noch in der Glasurne des Tydiräus. Lethos Helemos war der letzte Lethos gewesen, der auf die alte Art gewählt worden war. Cyrian wurde durch Helemos selbst erwählt, im Namen der Götter. Aber Ascanio war ein Emporkömmling, doch das wäre bald vorbei.
Mercutio las die sakralen Zeilen laut, dann entblößte er seinen Leib, den er durch zahllose Jahre der Selbstkasteiung geformt hatte. Er kniete, bis seine Stirn das kalte Gestein berührte. Die schwarzen Hände Lebans packten ihn. Mercutio fühlte Caldorvans Nähe. Der Untote war also wirklich Lebans Hand. Doch auch er war damit an Leban gebunden. Die güldenen Hände des Liras berührten ihn, der stets Leban mehr geschätzt hatte als seinen milderen Bruder. Mercutio atmete nicht, als schwarze Würmer in seine Schläfen krochen und hell leuchtende Tauben ihm die Augen auskratzten. "Das Königreich der Blinden braucht einen neuen Weg", sprach Mercutio. Das Janusgesicht der Himmelsbrüder erschien und erteilte seinen Segen nach der unsäglichen Pein der Vollendung. Denn das Urteil war gesprochen: "Gehe hin und lenke die Welt."
Nachdem Mercutio furchtlos den Schwertstreich des Offiziers ertragen hatte, das Leben ihn nicht verließ, sprach er in Engelszungen zu den Menschen. Er sagte, was zu sagen war: "Folgt Baelon, denn er ist der Heermeister und ich bin der Hirte!"
Jetzt war er wieder im Wilderland. Dem jungen Malvas hatte er die Aufsicht gegeben. Es würde den Priestern zeigen, dass nicht der Rang, sondern das Herz wichtig waren.
"Und Ihr, Ihr seid frei, wenn es getan ist. Wenn Grauwind vernichtet ist, bringe ich Euch heim", sprach er zu den Kreaturen. "Ihr werdet ebenso frei sein. Dient Leban, werdet seine Diener", sagte er den Drakoskriegern und erteilte ihnen die Absolution. "Nun, ans Werk!"
Die Reinigung des Goldklumpens benötigte Zeit. Es blieb zu hoffen, dass bald auch die beiden anderen Teile eintreffen würden. Er sprach die Gebete, segnete das Werkzeug. Dann rief er einen der Krieger.
"Du bist Heiler gewesen, früher."
"Ja, Herr."
"Dann lass mich zur Ader", befahl Mercutio.
"Was?"
"Es muss sein."
Als Mercutio glaubte, in der Ferne einen Grünriesen Veltharions zu sehen, glaubte er sich im Delirium. Den ersten Pfeilhagel sah er noch, bevor alles schwarz wurde.
Fortsetzung folgt.
Malcoyn, ein Wanderer
Die Sonne ging auf hinter den weiten Hügeln, und der Morgentau, noch gefroren, glänzte wie Kristall. Langsam erwachten diejenigen, die sich noch nicht in die Winterruh gelegt hatten. Der alte Bär zum Beispiel. Zwar hatte er sich schon genug Fett angefressen, so wie Malcoyn es beurteilte, aber dennoch verließ er immer noch jeden Morgen seine Höhle, weil es sicherlich noch etwas zu tun gab. Oder der große Hirsch. Kein Jäger würde es wagen, ihm etwas anzutun. Winterschlaf war ohnehin nichts für ihn, aber auch er schien dieser Tage rastloser als sonst. Ja, überall war man noch geschäftig.
So war es auch bei Malcoyn. Seine alten Beine waren immer noch kräftig, seine Arme fest und flink, genau wie sein Geist. Er fühlte sich bereit. Wie jeden Tag, wenn er durch die Grünsteppe wanderte, die im Winter hellblau am Morgen glänzte, bis sie in der Mittagssonne, die verborgen hinter grauen Wolken schlummerte, langsam ihre Farben verlor und wie ein fahler Teppich in den Nachmittag döste.
Malcoyn ging geradewegs zum Fluss, der in diesen kalten Tagen schon stellenweise vereist war. Aber ihm machte das nichts aus. Den Fellmantel und die Wollsocken, die Lederhose und das Leinenhemd warf er ans Ufer und sprang ins Wasser. Tief Luft geholt, dann ging es abwärts. Die Reusen waren alle gefüllt. Kleine Forellen, einige Krebse und sogar eine Sandkrabbe hatten sich darin verfangen. Ein guter Tag war das. Zufrieden nahm er die Beute, tötete sie flott und packte alles in den riesigen Sack aus Blattwerk. Dann zog er sich an, lief zur nächsten Lagerstatt und bereitete sein Frühstück vor. Ganz mit sich und der Wildnis allein sprach er ein kurzes Gebet zum Erlenkönig, dann sättigte er Hunger und Durst. Der Schlehenschnaps ging runter wie Öl. Wenn es kalt wurde, war das wichtig. Am Morgen sollte man nicht zu viel Alkohol trinken, so hatte es Veltharion immer gesagt, aber seit so vielen Jahren war Malcoyn schon allein, dass er diese Augenblicke mehr schätzte als jede Warnung oder alle Bedenken dieser Welt.
Nun, ganz allein war er natürlich nicht. Da waren immerhin seine schweigsamen Freunde. Aber er rief sie nicht oft. Dies war etwas, das er auch von Veltharion gelernt hatte. Man durfte das Grün nicht herausfordern. Und jetzt, da erst Skogung, das Waldkind, und nun auch Velthan gestorben waren, was sollte man noch tun? Sicher, er könnte sich Kithei anschließen. Oder Oshinya. Oder vielleicht auch Sverka.
Aber, nein, dafür war Malcoyn nun doch zu alt. Krieg war seine Sache nicht. Vielleicht könnte er Mutter Kelar besuchen. Doch war die nicht nunmehr Beraterin des Schwarzen Mannes geworden? So hatten es die Schnickerdickel zumindest erzählt. Und Herr Dachs hatte es bestätigt. Als die Königin des Westens ins Land gekommen war, da hatte Malcoyn erneut den Schmerz in der Brust gespürt. Derselbe Schmerz, wie an dem Tag, als Skogung diese Welt verlassen hatte. Die gleiche Pein, die er fühlte, als Velthan sich geopfert hatte. Seufzend schloss er eine Weile die Augen. Er war in den letzten Jahren so müde geworden. Wie gern würde auch er endlich gehen. Es gab doch nichts mehr zu tun.
Gegen Mittag erreichte Malcoyn den Einsamen Wall. Er hatte damals gesehen, wie er errichtet wurde. Die Tirinaither wollten das Inland vor den wilden Horden sichern und hofften, eine große Mauer würde den Leuten genug Angst machen. Irgendwie war das ja auch so. Auch er mochte dieses Ding nicht. Doch im Sommer gab es einem kühlen Schatten, im Winter schützte es vor den Nordwinden. Hier machte er wieder eine Pause. Das tat er in den letzten Jahren oft. Selbst ein Riese wie er war irgendwann müde. Menschen fürchteten ihn, obwohl er gar keine schlechten Absichten hatte. Tiere betrachteten ihn als Jäger, obwohl er nur Fische fing. Es war kein leichtes Leben gewesen.
Nur Veltharion, der hatte ihn respektiert und zum Wächter des Grüns ernannt. Der Erlenkönig selbst hatte ihn gesegnet. Aber nun, wo der Krieg gekommen war, da war alles anders geworden. Er hatte einfach keine Aufgabe mehr. Er war der letzte Grünriese auf der Welt. Jetzt wurde Malcoyn wieder traurig. Und wenn er das war, dann flüsterte er leise die Worte, machte eine Handbewegung, und das Moos kam in Wallung. Schon stand sein stiller Freund, ein Golem, bei ihm. Stumm betrachteten sie einander, stundenlang, bis Malcoyn ihn wieder ziehen ließ.
Nein, da war einfach nichts mehr zu tun. Der Tag war nimmer mehr gekommen. Jener Tag, an dem die Krone ihm gegeben werden würde, damit er zu neuer Größe fände. Es war einfach nicht geschehen. Vielleicht sollte er beschließen, zu sterben. Es würde dann vielleicht endlich auch passieren. Das tat es aber nicht.
So zog er weiter, der einsame Riese, bis er am Abend, da die Sonne schon längst in tief vergessenen Schatten lag, das Dickicht die Sehnsucht der Dämmerung umfing, die Ruine sehen konnte. Aber da war noch etwas anderes. Lärm. Da waren Leute.
Da war der Krieg.
Justus, ein Hufschmied
So ein Mistwetter. Sicher, der Winter kam. Und zwar schnell. Aber diese Plästerei hörte ja gar nicht mehr auf! Murrend rannte er vom Zelt in die Stallungen, wo die Arbeit auf ihn wartete. Der Zosse starrte ihn an. Eigentlich mochte Justus Pferde überhaupt nicht. Aber er hatte ein geschicktes Händchen, sodass man ihn immer gern in Anspruch nahm, wenn es was zu tun gab, sich irgendein Gaul den Huf verletzt hatte oder es ein Hufeisen zu wechseln gab. Wie heute. Ein beschissener Tag war das gewesen, und da hatte Justus noch keinen blassen Schimmer, dass das alles noch steigerungsfähig gewesen war.
"Glotz doch nicht so. Verbieg deine Eisen nicht dauernd, und du siehst mich nicht wieder", knurrte er den Hengst an. Das war der Gaul von irgendeinem Schnösel, der es sich gerade im Tavernenzelt gemütlich machte, während Justus durch das Sauwetter latschen durfte, damit er dem Gaul auf die Hufe helfen konnte. Das Pferd antwortete natürlich nicht. Stattdessen machte es einen schönen Haufen. "Na, danke", murrte Justus.
Erstmal musste der ganze Dreck weg. Justus nahm ein schmales Eisen und kratzte den Huf frei. Da sah er dann auch, warum das Viech so störrisch war. Der Huf war ganz warm und die Haut geschwollen. "Der Gaul hat die Rehe. Toll", murmelte er. Das Pferd schnaubte. Justus nahm etwas Heu, darauf legte er eine Decke. "Stell deine Latschen da drauf, Zosse." Dann füllte er einen Eimer mit kaltem Wasser, um den Huf und das Bein zu kühlen. "Rüben sind ab heute gestrichen."
"Was hat es denn?", fragte der Schnösel.
"Hat die Rehe. Wie weit seid Ihr geritten? Hat der Gaul denn keine Rast bekommen?"
"Ich war in Eile."
"Tja, der Gaul prescht nicht mehr. Auf jeden Fall die kommenden Tage nicht", erklärte Justus ihm.
"Nun, dann brauche ich Ersatz. Ich muss dringend nach Wilderberg. Kann ich mir ein Pferd mieten?"
"Klar. Fragt Ranin."
Der Schnösel lieh sich ein Pferd und preschte davon. Justus indes pflegte Bein und Hufe des Pferdes. Nun tat ihm der Gaul doch leid. "Wird schon wieder, Bursche."
Harold kam des Weges. "Hast das Pferd vom Lord bekommen, mh?"
"Der wird sich das Tier schon wieder abholen. Ist ein edles Ross, wenn man es genau nimmt. So edel wie der Reiter. Wer war das überhaupt?"
"Das? Das war Lord Melther von Wilderberg", sagte Harold.
"Aha. Sagt mir nix."
Weiter kamen die beiden nicht in ihrer Konversation. Plötzlich lärmte es von der Ebene her, und aus Bredorf kam überdies eine ganze Reiterei. "Was ist hier denn los?"
Da kam der Krieg über die Raststation.
Justus packte seinen Kram und wollte sich schnell davon machen, als Harold bereits durch einen Pfeil nieder gestreckt worden war. Der Schmied warf einen schnellen Blick in den Stall, während um ihn herum das Chaos ausgebrochen war. Das Pferd starrte ihn wieder an. Justus knurrte und atmete aus. "Ja, schon gut. Komm, wir vermachen uns, aber flott!"
Der Hufschmied, der Pferde eigentlich nicht leiden konnte, rettete das edle Ross des Lords also heute mehr als einmal.
Alysare
Die kleine Prinzessin saß auf dem Bett und lauschte gebannt den Geschichten von Ephyre. Irgendwie mochte sie diese mürrische Frau. Sie war sogar sehr hübsch. Nicht so edel wie eine Königin, aber sehr ansehnlich. Bestimmt hatte sie viele Verehrer. Und außerdem war sie geübt im Umgang mit dem Schwert. Das war eine gelungene Kombination, befand Alysare. In diesen Zeiten musste eine Frau alles können und alles schaffen. So hatte ihr Ephyre das gesagt. Diese Frau war die Hüterin Samgards, aber Alysare hütete sich, auch danach zu fragen. Manchmal, das wusste sie von Onkel Baelon, war es besser, nicht nachzuhaken. Zwar war Wissen wichtig, aber Unwissen konnte einem auch das Leben retten, ja, genau, so hatte er es gesagt.
"Du wirst bald wieder in die Stadt gehen, kleine Prinzessin."
Alysare nickte eifrig. "Kommst du mit? Bestimmt wird man deinem Bruder dort helfen und ihn aufnehmen. Mein Onkel ist jetzt Truchsess. Was das genau ist, weiß ich nicht, aber er darf jetzt Sachen entscheiden."
"Ich weiß es nicht. Es gibt viele Probleme. Aber ich will dich damit nicht beunruhigen", sagte Ephyre.
"Nein, ich will es wissen. Man soll nicht alles wissen. Aber wenn Lady Theresia meine Königin ist, will ich ihr helfen können."
"Viele wollen die Königsklinge."
"Samgard."
Ephyre seufzte. "Ja. Samgard. Doch es wählt seinen Träger ganz allein. Ich muss es beschützen. Der Untote will es, Sicarion Grauwind will es. Alle wollen es haben."
Alysare nahm ihre Hand. "Aber du bist die Hüterin. Du entscheidest, wer geprüft wird und wer nicht. Es ist sicher versteckt."
"Ich danke dir."
"Jetzt machst du dich lustig", lächelte Alysare.
"Nein. Nein, ich meine es so."
Sie sprachen noch eine Weile miteinander, dann kümmerte sich die schöne Frau wieder um ihren Bruder Ephyrdan. Alysare wollte nicht stören und lief durch Tilhold. Sie war so glücklich, dass ihr Onkel nun endlich für Ruhe in Bretonia sorgen würde. Der Tod ihres anderen Onkels betrübte sie nicht mehr, denn er hatte böse Dinge getan. Und ihre Mutter, obwohl sie sie geliebt hatte, sie war daran beteiligt gewesen. Es war hart, es war grausig, aber es war gerecht, dass sie gehen musste.
Ihre Träume von der Klinge und der Goldenen Königin behielt die Prinzessin lieber für sich. Wie die goldenen Arme sie packen wollten oder wie das Schwert in ihre Seele schneiden wollte - all das sagte sie keinem. Immerhin musste eine Prinzessin Stärke zeigen.
Als sie das kleine Lager von Denyo und den anderen erreichte, spielte sie erst ein wenig mit den Kleinen, dann ging sie wie immer zu Mertha, um nach ihrem Befinden zu fragen.
"Geht es dir nicht gut, Mertha?", fragte sie, als sie sah, wie die werdende Mutter ihren Kopf hielt.
"Nein, nein, schon gut. Ich bin nur müde."
Elyarn
Die Kämpfe waren beendet. Sir Allyen und die anderen hatten Recht behalten. Sich auf die Seite des Nordens zu stellen, das war die richtige Wahl gewesen. Nicht nur das sinnlose Morden an Eisenwalls Grenze zur Stadt hörte endlich auf, auch die Soldaten schienen erleichtert, und die einfachen Leute waren zufriedener geworden. Aus Edailech erreichten Elyarn auch gute Neuigkeiten, denn die Blodhord und die Nordleute behandelten die Bewohner gut. Vielleicht, aber Elyarn würde damit noch warten, würde man eines Tages Edailech wieder eingliedern können.
Sein Onkel musste toben. Erst das Erscheinen des neuen Lethos Mercutio, dann verweigerten die Soldaten ihren Dienst und nun gehörte Bathir auch nicht mehr zum Eisenwall, denn Elyarn würde sich auch öffentlich dem König entsagen. Jetzt, da Lord Baelon das Kommando übernommen hatte, könnte er sich ihm anschließen, ihm und Lord Carmon.
"Mylord Dryr?"
"Ja?"
"Es ist Besuch gekommen. Lord Melther bittet um ein Gespräch", sagte der Diener.
"Bittet ihn hinein."
Lord Melther betrat den Saal, grüßte knapp, und nahm Platz, als Elyarn ihm einen Stuhl gedeutet hatte. "Wir müssen reden", sagte der Waldläufer.
"Was gibt es, Lord Melther?"
Er schien sehr in Sorge zu sein. "Ich komme aus Waldwacht. Gestern hat es einen Angriff auf Wilderberg gegeben, und Lord Baelon hat Sir Starys in den Kerker geworfen. Dort wird er ein paar Tage bleiben, dann wird er in den Rang eines Infanteristen gestellt."
"Wilderberg ist sicher?"
"Ja."
Elyarn nickte erleichtert. "Nun, das sind gute Neuigkeiten. Wir hier sind keine Freunde von Starys. Und Ihr wohl auch nicht."
"Das ist richtig. Doch Lord Carmon beansprucht den Rang eines Truchsess. Ich war in Waldwacht, um ihm davon abzuraten. Ich halte Lord Baelon für geeignet und mehr als fähig, dieses Amt auszufüllen."
"Natürlich. Das sehe ich auch so. Aber sicher werden Lord Roan und Lord Baelon sich einigen können? Immerhin wünschen sie sich Lady Theresia als Königin. Das ist eine Gemeinsamkeit", sagte Elyarn.
"Das ist ebenso richtig. Und doch will Roan nicht verzichten. Er sagt, er diente dem Reich schon, als Baelon noch mit seinem Bruder um die Wette geritten war. Daraus erhebt er seinen Anspruch und seine Gründe."
"Was sagt Lord Baelon dazu?"
Melther trank einen Schluck Wein. "Baelon würde, wie ich ihn kenne, verzichten. Aber ich glaube, er teilt meine Befürchtung."
"Welche?"
"Roan wird mehr wollen. Ich spüre, dass ein Teil seines Herzens über den Stuhl des Truchsess hinaus auf den höher gelegenen Platz blickt. Auf den Thron des Reiches, Lord Elyarn."
"Das wäre fatal. Das Reich ist nicht in der Lage, noch einen Konflikt auszutragen. Bedenkt Caldorvan, bedenkt Sicarion. Wenn sie kommen, dann muss das Reich geeint zusammen stehen. Und ich glaube, nur ein Lord Baelon vermag das. Das Volk liebt und ehrt ihn. Ich habe oft genug gehört, wie mein Onkel darüber geflucht hat."
Melther nickte. "So ist es, Lord Elyarn. Ich habe mit Magus Xenophilius gesprochen, mit Heermeister Emes, mit Sir Leyris und sogar mit Artim Mudden. Allesamt Vertraute Roans. Und sie sehen es wie ich: Roan ist eine wichtige Figur, aber seine Position sollte die eines Marschalls oder gar Seneschalls sein, meinetwegen der eines Reichsverwesers Süd, aber, bei Liras, nicht der eines Truchsess oder gar Königs. Er will sogar darüber nachdenken, Caldorvan anzugreifen. Wie Ihr wisst, haben beide noch offene Rechnungen zu begleichen. Ich fürchte, Carmons Erfolg in Sachen Wilderberg, obwohl ich ebenso wie die Getreuen von Brioless daran beteiligt war, hat ihn sehr motiviert."
"Was soll ich tun? Ihr seid nicht nur hier, um mir davon zu erzählen, Lord Melther."
"Richtig", seufzte Wilion, "ich bin hier, weil ich Eure Versicherung und einen Eid möchte."
"Einen Eid?", fragte Elyarn ernst.
"Ja, einen Eid. Folgt mir, folgt Brioless, folgt Baelon, falls Lord Roan Konsequenzen ziehen sollte. Lord Baelon hat ihn, mich und Sir Leyris eingeladen, und ich möchte Euch bitten, mich zu begleiten. Wir müssen gemeinsam reden, um das Reich zu sichern. Wir dürfen uns nicht gegenseitig bekriegen."
"Ich werde kommen."
Lord Melther leerte den Becher, dann sprachen sie noch über die allgemeine Lage, bis der Waldläufer wieder nach Wilderberg aufbrechen musste. Elyarn indes ließ das Feuer im Kamin entfachen, nahm noch einen Krug Wein und grübelte. Die richtige Feuerprobe stand also noch bevor. Und er fragte sich, wer ihm lieber als Feind wäre: Caldorvan, Sicarion oder Roan? Er hatte keine Antwort. Vielleicht würde Lady Lyst etwas dazu sagen können. Wer war diese Frau, die ihn so verzaubert hatte?
Starys
Ein Fluch auf alle! Verdammt, mit allem, was er getan hatte, wollte er nur das Reich beschützen. Und war es nicht Sir Allyen selbst gewesen, der immer gesagt hatte, dass man im Krieg viele Methoden ins Auge fassen musste, die nicht immer gut wären, aber ein gutes Ergebnis abliefern würden? Nun, damit hatte er wohl nicht gemeint, einen Untoten zu rufen. Oder den Schlächter des Eisenwalls zu verführen, einen edlen Ritter zu morden. Oder genau diesen Schlächter auf den Thron zu bringen. Aber der Untote, er hatte ihm keine Wahl gelassen. Ja, einen Fluch auf Trar, dass er ihm das Dokument der Vernichtung genommen hatte! Starys hätte alles wieder richten können, nun war es zu spät!
Als Soldat würde er nun dienen. An vorderster Front, wie Baelon ihm gesagt hatte. Er war kein schlechter Kämpfer, im Gegenteil. Aber auf dem Feld machte es irgendwann keinen Unterschied. Das Blut eines Ritters, der er dem Titel nach nicht mehr war, war ebenso rot wie das eines Soldaten, eines Söldners oder Milizionärs. Jetzt bekam er wohl das, was er verdiente. Entweder würde einer dieser Eunuchen ihn aufspießen oder er würde Teil von Caldorvans schwarzer Armee werden. Mit etwas Pech aber käme ihnen diese Furie zuvor, diese Kithei. Was musste Marryn sie auch schwängern? Ja, ein Fluch auf sie und Marryn!
Im Kerker war es kalt. Und dunkel. Wie oft hatte er den Anblick der jammernden Gefangenen genossen, wie oft hatte er sie verspottet! Und nun? Nun war er es, der sein trockenes Brot und das trübe Wasser mit den Ratten teilen durfte. Er trat nach den krächzenden Viechern, jagte sie mit Schimpfworten davon. Nach einigen Stunden hatten sie alle Namen: Die fette dort hinten, das war Bathir, der ihn im Stich gelassen hatte; und dort, die mit den Auswüchsen am Arsch, das war Baelon; da hinten, die Ratte mit den roten Augen, das war der Rote Narr; selbst Petyr und Irinia erkannte er wieder. Das Königreich der Blinden, und er war der König aller Ratten. Hatte er nicht allen gedient? Nun waren sie alle hier, auf eine gewisse Weise, aber nur er war wirklich hier. Starys, der Diener, Starys, der Gefangene. Das war also des Dieners Lohn; der Lohn der Mühen, der Lohn der Erniedrigung. Ein Fluch auf alle! Ein Fluch auf sich selbst!
Die schwere Eisentür wurde geöffnet. Wahrscheinlich wieder Soldaten, die nicht glauben wollten, was sie nun sehen würden. Man würde ihn verspotten und seinen schäbigen Anblick genießen. Ein Fluch auf sie! Ein Fluch auf sich selbst!
"Hoch mit Euch, Starys", sagte eine Stimme.
"Wer da? Was gibt es denn noch? Meine Zeit schon um? Dann drückt mir eine Klinge in die Hand, und ich ziehe in den Krieg. Wählt aus. Caldorvan, Grauwind oder lieber Kithei? Könnte mir denken, es würde jeden freuen."
"Nichts dergleichen, Sir."
"Ich trage keinen Titel mehr. Schon vergessen?", fragte Starys und lachte.
"Nichts ist vergessen. Nun steht auf."
Starys tat, was man ihm sagte. Einige Stunden später lachte er wieder. "Ein Fluch auf sie alle."
Sicarion
Es war anstrengend, die geistige Verbindung mit dem Mann zu halten, der sich als Sicarion Grauwind auszugeben hatte. Aber es war notwendig. In diesem Land lebte man auch in Friedenszeiten nicht lang, wie war es dann also im Krieg? Sicarion musste oft ruhen, um seine Kräfte zu sammeln. Dass man ihn längst durchschaut hatte und den Schwindel erkannt hatte, änderte nichts daran, den Spuk aufrecht zu erhalten. Denn aus der Ferne Wissen zu sammeln, Befehle zu erteilen und zu handeln, war ein Vorteil. Ein Hoch auf die Inquisitorenakademie Tectarias. Und ein Fluch auf alle Feinde der Königin des Westens!
"Was, wenn sie die Frist verstreichen lassen? Wenn sie das Schwert nicht ausliefern?", fragte Jaravhar, der schwarze Heermeister Marjastikas.
"Oh, ich gehe sogar davon aus. Alles hat seine Richtigkeit. Das Schwert wird früher oder später seinen Träger wählen, seid gewiss. Sie haben den Kopf meines Bruders ausgeliefert und fühlen sich sicher."
Jaravhar runzelte die Stirn. "Der Kopf... es ist nicht der Kopf Ephyrdans. Ich habe ihn eingehend geprüft. Eine perfekte Täuschung. Aber Aenthalas' Zauberei, sie stinkt. Ich rieche sie."
"Ich weiß", lachte Sicarion, "auch das ist richtig. Auf diese Weise werden wir herausfinden, wo das Schwert ist. Wenn sie es nicht ausliefern, und das werden sie nicht, finden wir es auf andere Weise und lassen sie bezahlen."
"Herr, sie haben den zweiten Teil des Paktes erbeutet. Die Königin ist nicht erfreut."
Sicarion stimmte mit einem Nicken zu. "Nein, das ist sie nicht. Und ich gebe zu, auch mich beunruhigt das. Was wissen wir über Giltheas? Wo hält er sich auf?"
"Wir haben einige Quentar verfolgt und konnten das Zielgebiet eingrenzen", antwortete Jaravhar.
"Und die Elaya? Wir müssen davon ausgehen, dass sie den zweiten Teil nach Tilhold bringen wird. Die Midgarder segeln weiter nordwärts. Sie scheren uns nicht weiter."
"Unauffindbar."
Sicarion knurrte. "Mir scheint, wir liegen zurück in unserer Planung. Wann ist das Signal bereit? Wir müssen Saban von Torbrin in unsere Gewalt bringen. Aurelion mag näher sein, aber er ist geschützt. Wir wollen die Wesen des Waldes nicht gegen uns aufbringen. Denn ich vermute, er ist dort."
"Das Signal ist bald bereit. Aber, Herr, was ist so wichtig an Saban? Sein Vater, Caldorvan, er ist die Bedrohung. Er will Aran, seinen Neffen, zum König ernennen."
"An Saban ist nichts wichtig. Wichtig ist, was er über seinen Bruder weiß. Liege ich richtig, dann ist dieser eine größere Gefahr als sein eigener Vater. Und er weiß es nicht. Dabei muss es bleiben", sagte Sicarion.
Jaravhar nickte. "Ich verstehe, Herr. Nun, da ist noch etwas: Nachdem Giltheas sich zum Lethos dieses Irrglaubens ernannt hat, ist König Bathir geflohen. Wir wissen, wo er ist. Soll ich die Verfolgung aufnehmen?"
"Nein. Sorgen wir dafür, dass andere es erfahren. Bathir interessiert uns nicht weiter."
Jaravhar befolgte den Befehl. Dann kehrte er zurück zum Leuchtturm, während Sicarion Kontakt mit der Königin aufnahm. Dazu kniete er gen Wesen, sprach das Gebet zur Goldenen und wartete, bis er den hellen Stern, den er Glorianna nannte, am Himmel sah.
"Meine Königin", sagte er leise.
"Die Prinzessin. Man bringt sie bald zurück nach Bretonia. Dies soll auch geschehen. Aber ich will dabei sein, wenn sie mit Baelon redet", sprach die goldene Stimme.
"Sehr wohl, Majestät."
Dann berichtete sie ihm alles, was in Tilhold besprochen wurde. Sicarion nickte zufrieden. Er freute sich auf den Moment, wenn er den Untoten niederstrecken würde. Und dann, endlich, wäre seine Zeit gekommen. Er musste nur noch Saban finden.
Nun, wenn die Königin bei Baelon sein wollte, würde das natürlich große Schmerzen verursachen. Nicht dass ihm die Frau leid täte, aber Sicarion wusste eines sicher: Nichts war schlimmer als eine rachsüchtige Mutter oder ein zorniger Vater.
Baelon
Starys im Kerker. Baelon kam nicht umhin, das ein oder andere Schmunzeln nicht mehr verbergen zu können, als er die Armeelisten studierte und Starys zunächst für die Entsatztruppen Nordtor eintragen ließ. Sollte er doch genau dort kämpfen, wo Dryr für ihn Marryn getötet hatte. Und zwar gegen die Krieger jenes Heerführers, der ihm den Befehl erteilt hatte: Caldorvan.
Dass ausgerechnet Mercutio von den Göttern erwählt worden war, das war natürlich recht pikant. Aber Giltheas hatte ein Zeichen gesetzt, zweifellos. Alle Soldaten kehrten um. Sie befolgten keinen Befehl König Bathirs mehr. Stattdessen erhoben sie ihre Klingen, riefen laut Baelons Namen und stellten sich in seinen Dienst.
"Heerschar Süd, sichert Bredorf! Und verfolgt diese verdammten Räuber. Macht keinen Halt, selbst wenn es der Schwarze Stab ist. Gefangene bringt in die Stadt, alle anderen tötet an Ort und Stelle. Entsatz Süd, verteilt aus den Kornspeichern Saatgut und Nahrung an alle in den Kernlanden."
"Jawohl!", riefen sie.
"Heerschar Nord, verteidigt das Nordtor gegen den Untoten! Alle Söldner des Schwarzen Stabes, die sich Sir Belforrs Anordnungen widersetzen, gelten als Feind. Versucht, sie gefangen zu setzen, denn sonst wird der Untote seine Armee auch noch mit Söldnerpack verstärken!"
"Jawohl!", riefen sie.
"Stadtgarde, auf die Zinnen! Bereitet Kessel mit Pech vor, besorgt Euch Pfeile in der Waffenkammer. Zeugmeister, Ihr tauscht bei den hiesigen Händlern Nahrung und Silber gegen Munition."
"Jawohl!", riefen sie.
"Miliz, sichert Marktplätze, Straßen und Plätze. Sagt den Menschen, alles wird gut."
"Jawohl!", riefen sie.
Dann sprach Baelon zu den Priestern und Messdienern, zu den Brüdern und Schwestern:
"Bestellt den Abt in die Kanzlei. Und sorgt dafür, dass die Armenhäuser versorgt werden. Ich wünsche neue Decken, frische Bettwäsche und vor allem sauberes Wasser für die Menschen. Wer arbeiten kann, der versorgt die Soldaten. Wer krank ist, der mag von mir aus sogar im Palast versorgt werden, wenn in den Lazaretten kein Platz mehr ist."
"Ja, Lord Baelon", riefen sie.
Dann ging Baelon in die Stallungen, ließ ein Pferd satteln.
"Wer seid Ihr? Ein neues Gesicht", stellte er fest.
"Justus der Name. Ich habe es bis hierher geschafft."
Baelon nickte ernst. "Der Angriff, nicht wahr? Nun, ich habe alles zur Verteidigung geschickt, was noch stehen kann. Es MUSS reichen. Was ist das da für ein Pferd?"
"Es gehört Lord Melther. Ich bringe es ihm zurück, sobald es gesund ist."
"Ihr seid ein guter Mann, Justus."
Baelon ritt durch die Straßen. Seine Befehle wurden in die Tat umgesetzt. Doch Baelons Ziel war die Straße des Hurenhauses. Nicht etwa, um gerade jetzt Trost in den Lenden einer schönen Frau zu suchen, sondern weil es in der Nähe ein Waisenhaus gab.
"Ihr seid der neue Vorsteher?", fragte er den alten Mann.
"Ja. Seit mein Vorgänger...tot ist."
"Die Zustände hier sind erschreckend. Nehmt dieses Schreiben und lasst Euch Nahrung, Wasser und vor allem warme Kleidung geben. Mit dem Segen des Lethos. Er hat es persönlich gewünscht."
"Danke, Mylord."
Schließlich drehte Baelon seine Runde, bis er die leeren Hallen des Thronsaals erreichte. Der Stuhl des Truchsess war aus einfachem Holz, unbequem und morsch. Genau richtig für das wichtige Amt, befand er ohne Ironie. Eine Weile saß er da und dachte nach. Über den Untoten, über Grauwind. Aber vor allem über Roan. Nein, Baelon konnte nicht weichen. Die Leute aus dem Norden lagen wohl recht in der Annahme, Carmon würde mehr wollen, als nur im Namen eines Königs oder einer Königin das Reich zu verwalten.
"Mylord?", fragte ein Diener, der hastig in den Saal eilte.
"Ja? Ich komme sofort, es gibt noch viel zu tun."
"Mylord, es gab einen Zwischenfall."
"Was ist es jetzt?"
Nachdem der Diener berichtet hatte, wäre Baelon beinahe geplatzt. "Das ist ein Scherz, ja? Nun, dafür ist ganz bestimmt JETZT nicht die Zeit!", fuhr er den Burschen an.
"Ich bedaure, Mylord, es ist wahr."
"Schafft mir SOFORT die Verantwortlichen her. UMGEHEND!"
Mercutio
Als er das Skelett nach dem Ritus des Vollendeten Urteils gefragt hatte, als Darius geantwortet hatte, da hatte Giltheas Hlifa versichert, er würde Lethos sein, wenn sie sich wieder begegnen würden. Er durfte die Nordfrau nicht enttäuschen, hatte er danach gedacht und musste etwas schmunzeln. Schließlich war er in die Tiefe der Katakomben gegangen:
Es war mühsam, den Eunuchen Grauwinds und den Echsen zu entgehen, doch im Schutze der Nacht und durch das Verschleiern seiner Aura konnte er den Lebanschrein nahe Hohenfels erreichen. Janus Theren hatte das Sanctum gut gepflegt, sodass er schnell das Allerheiligste betreten konnte. Das Blutpergament, mit dem sich die Kandidaten in den alten ehrwürdigen Zeiten auf die Wahl der Götter vorbereiteten, lag immer noch in der Glasurne des Tydiräus. Lethos Helemos war der letzte Lethos gewesen, der auf die alte Art gewählt worden war. Cyrian wurde durch Helemos selbst erwählt, im Namen der Götter. Aber Ascanio war ein Emporkömmling, doch das wäre bald vorbei.
Mercutio las die sakralen Zeilen laut, dann entblößte er seinen Leib, den er durch zahllose Jahre der Selbstkasteiung geformt hatte. Er kniete, bis seine Stirn das kalte Gestein berührte. Die schwarzen Hände Lebans packten ihn. Mercutio fühlte Caldorvans Nähe. Der Untote war also wirklich Lebans Hand. Doch auch er war damit an Leban gebunden. Die güldenen Hände des Liras berührten ihn, der stets Leban mehr geschätzt hatte als seinen milderen Bruder. Mercutio atmete nicht, als schwarze Würmer in seine Schläfen krochen und hell leuchtende Tauben ihm die Augen auskratzten. "Das Königreich der Blinden braucht einen neuen Weg", sprach Mercutio. Das Janusgesicht der Himmelsbrüder erschien und erteilte seinen Segen nach der unsäglichen Pein der Vollendung. Denn das Urteil war gesprochen: "Gehe hin und lenke die Welt."
Nachdem Mercutio furchtlos den Schwertstreich des Offiziers ertragen hatte, das Leben ihn nicht verließ, sprach er in Engelszungen zu den Menschen. Er sagte, was zu sagen war: "Folgt Baelon, denn er ist der Heermeister und ich bin der Hirte!"
Jetzt war er wieder im Wilderland. Dem jungen Malvas hatte er die Aufsicht gegeben. Es würde den Priestern zeigen, dass nicht der Rang, sondern das Herz wichtig waren.
"Und Ihr, Ihr seid frei, wenn es getan ist. Wenn Grauwind vernichtet ist, bringe ich Euch heim", sprach er zu den Kreaturen. "Ihr werdet ebenso frei sein. Dient Leban, werdet seine Diener", sagte er den Drakoskriegern und erteilte ihnen die Absolution. "Nun, ans Werk!"
Die Reinigung des Goldklumpens benötigte Zeit. Es blieb zu hoffen, dass bald auch die beiden anderen Teile eintreffen würden. Er sprach die Gebete, segnete das Werkzeug. Dann rief er einen der Krieger.
"Du bist Heiler gewesen, früher."
"Ja, Herr."
"Dann lass mich zur Ader", befahl Mercutio.
"Was?"
"Es muss sein."
Als Mercutio glaubte, in der Ferne einen Grünriesen Veltharions zu sehen, glaubte er sich im Delirium. Den ersten Pfeilhagel sah er noch, bevor alles schwarz wurde.
Fortsetzung folgt.
Alea iacta est.
Die Würfel sind gefallen!
Die Würfel sind gefallen!